David Copperfield

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»Nirgends,« sagte Mr. Dick.

»No also,« erwiderte meine Tante, durch die Antwort besänftigt. »Wie können Sie so zerstreut sein, Dick, wo Ihr Verstand so scharf ist, wie die Lanzette eines Chirurgen. Jetzt sehen Sie hier den jungen David Copperfield, und die Frage, die ich Ihnen vorlege, ist, was soll ich mit ihm anfangen?«

»Was Sie mit ihm anfangen sollen,« fragte Mr. Dick verlegen und kratzte sich hinter den Ohren. »Anfangen sollen?«

»Ja,« sagte meine Tante mit einem ernsten Blick und den Zeigefinger in die Höhe haltend. »Ich brauche einen vernünftigen Rat.«

»Hm, wie wäre es,« sagte Mr. Dick nachdenklich und mich mit leerem Blick ansehend, »ich würde –« mein Anblick schien ihm plötzlich einen Gedanken einzuflößen – und er ergänzte rasch: »ich würde ihn waschen.«

»Janet,« sagte meine Tante und drehte sich mit einem stillen Triumph, den ich damals noch nicht verstand, um, »Mr. Dick hat immer recht. Heize das Bad.«

Obgleich ich das größte Interesse an dem Gespräch hatte, konnte ich mich doch nicht enthalten, während desselben meine Tante, Mr. Dick und Janet genau zu beobachten und mich im Zimmer umzusehen.

Meine Tante war eine große Dame mit strengen Zügen, aber durchaus nicht bös aussehend. Es lag eine Unbeugsamkeit in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme, ihrem Anzug und in ihrer Haltung, daß ich mir den Eindruck erklären konnte, den sie auf ein so sanftes Geschöpf, wie meine Mutter gewesen, gemacht hatte. Aber ihre Züge schienen eher hübsch als häßlich, wenn auch hart und streng; besonders fiel mir ihr lebhaftes blitzendes Auge auf. Ihr Haar, schon ziemlich ergraut, war unter einer unter dem Kinn zugebundnen Art Nachtmütze in zwei gleiche Teile geteilt. Ihr Kleid, lavendelfarbig und äußerst sauber, war knapp geschnitten, als wünschte sie so wenig wie möglich von ihm behindert zu sein. Es schien mir eigentlich ein Reitkleid zu sein, von dem man die Schleppe abgeschnitten hatte. Sie trug an der Seite eine goldne Herrenuhr, nach Form und Größe zu schließen und der Kette und den Siegeln daran, um den Hals einen Leinenstreifen wie einen Hemdkragen und an den Handgelenken Dinger wie Manschetten.

Mr. Dick hatte graues Haar und ein blühendes Gesicht, wie bereits erwähnt. Den Kopf trug er sonderbar gebeugt, aber nicht wegen des Alters, und seine großen Augen standen weit hervor und hatten einen eigentümlichen wässerigen Glanz, was mich zusammen mit seinem zerstreuten Wesen, seiner Unterwürfigkeit gegen meine Tante und seiner kindischen Freude, wenn sie ihn lobte, auf den Gedanken brachte, er müsse ein wenig verrückt sein, obgleich ich mir dann nicht erklären konnte, wie er hierher kam. Er war wie ein schlichter Gentleman mit weitem grauen Morgenrock, Weste und weißen Hosen bekleidet, trug seine Uhr und sein Geld lose in der Tasche und klimperte damit, als ob er sehr stolz darauf wäre.

Janet, ein hübsches frisches Mädchen, etwa neunzehn oder zwanzig Jahre alt, schien ein wahres Muster von Nettigkeit zu sein. Später erfuhr ich, daß sie eine aus der Reihe der weiblichen Schützlinge war, die meine Tante nach und nach mit der Absicht in Dienst genommen, Männerfeindinnen aus ihnen zu machen, die aber am Schluß gewöhnlich Bäcker geheiratet hatten.

Das Zimmer sah ebenso sauber aus wie Janet und meine Tante. Wenn ich nur einen Augenblick daran denke, rieche ich wieder die Seeluft, vermischt mit dem Dufte der Blumen, sehe die altmodischen und glänzend polierten Möbel meiner Tante, ihren geweihten Tisch und Stuhl, den großen runden Schirm im Bogenfenster daneben, den mit Läufern bedeckten Teppich, die Katze, den Kesselständer, die zwei Kanarienvögel, die Punschbowle, gefüllt mit trocknen Rosenblättern, den hohen Schrank mit seinen Flaschen und Töpfen und wundervoll gegen alles abstechend mein staubiges Ich auf dem Sofa.

Janet war fortgegangen, um das Bad zu heizen, als zu meinem größten Schrecken meine Tante plötzlich ganz starr vor Entrüstung wurde und nach Luft schnappend aufschrie:

»Janet! Esel!«

Sofort kam Janet die Treppe heraufgesprungen, als ob das Haus in Flammen stünde, stürzte auf einen kleinen Rasenfleck vor dem Haus hinaus und verscheuchte zwei von Damen gerittene Esel, die gewagt hatten, ihre Hufe auf den Rasen zu setzen, während meine Tante ihr auf dem Fuß folgte, den Zaum eines dritten Esels, auf dem ein Kind saß, ergriff, das Tier umdrehte, es zur Seite zog und dem unglücklichen Jungen, der den Esel geführt und die heilige Stelle zu entweihen sich unterstanden hatte, eins hinter die Ohren gab.

Bis heute weiß ich nicht, ob meine Tante ein Recht auf diesen Rasenfleck besaß, aber jedenfalls hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, und das genügte ihr. Es war in ihren Augen eine große Untat, die nach beständiger Ahndung verlangte, wenn ein Esel diesen jungfräulichen Fleck betrat. Mochte sie in welcher Beschäftigung immer begriffen und die Unterhaltung noch so interessant sein, der Anblick eines Esels gab dem Gang ihrer Gedanken sofort eine andere Richtung und unverzüglich stürzte sie auf ihn los. Krüge voll Wasser und Töpfe standen an geheimen Plätzen bereit, um die Führer der Esel zu begießen, Stöcke lauerten hinter den Türen, Ausfälle wurden zu allen Stunden gemacht und ununterbrochen wütete der Krieg. Vielleicht war alles das eine angenehme Unterhaltung für die Jungen, und wahrscheinlich machte es den Klügern unter den Eseln, die die Sache durchschauten, in der ihnen eignen Hartnäckigkeit eine besondere Freude, gerade deshalb diesen Weg zu betreten.

Dreimal, ehe das Bad fertig war, wurde Lärm geschlagen und beim letzten und verzweifeltsten geriet meine Tante in ein Gefecht mit einem fünfzehnjährigen Burschen mit sandgelbem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gartentür stoßen mußte, ehe er zu begreifen schien, worum es sich handelte. Diese Unterbrechungen kamen mir umso lächerlicher vor, als sie mir gerade Fleischbrühe einflößte, – sie hatte sich offenbar eingeredet, ich stünde dicht vor dem Hungertode und dürfte anfangs nur in kleinen Quantitäten Nahrung zu mir nehmen. In Erwartung des Löffels hielt ich noch den Mund offen, da legte sie das Besteck auf den Teller, rief: »Janet! Esel!« und eilte hinaus zum Kampfe.

Das Bad war eine wahre Erquickung für mich. Das Schlafen im Freien hatte mir Gliederschmerzen gemacht, und ich fühlte mich so matt, daß ich kaum fünf Minuten hintereinander wach bleiben konnte. Als ich mich gebadet, zog ich, das heißt, sie zogen mir – nämlich meine Tante und Janet – ein Hemd und ein Paar Hosen Mr. Dicks an und wickelten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Paket aus und es war mir schrecklich heiß. Da mich überdies ein Gefühl von Mattigkeit und Schläfrigkeit überwältigte, schlummerte ich bald auf dem Sofa ein. Vielleicht träumte ich wieder von dem Bilde; ich erwachte mit der Vorstellung, daß meine Tante sich über mich gebeugt, mir das Haar aus dem Gesicht gestrichen, meinen Kopf bequemer gelegt und mich dann lange betrachtet hätte. Die Worte »hübscher Junge« oder »armer Junge« schienen mir auch noch in den Ohren zu klingen, aber sonst war bei meinem Erwachen nichts da, das mich hätte glauben machen können, meine Tante hätte gesprochen, denn sie saß unbeweglich am Bogenfenster und blickte hinter dem grünen Schirm hervor aufs Meer hinaus.

Wir aßen, bald nachdem ich erwacht war, zu Mittag. Ein gebratenes Huhn und ein Pudding kamen auf den Tisch; ich selbst sah auch aus wie ein tranchierter Vogel und konnte meine Arme nur mit großer Schwierigkeit bewegen. Aber da meine Tante mich selbst eingewickelt hatte, durfte ich mich doch nicht beklagen! Die ganze Zeit über lag es mir sehr am Herzen, zu erfahren, was sie mit mir anzufangen gedenke. Aber sie nahm ihre Mahlzeit in tiefstem Schweigen ein, nur manchmal sah sie mich an und rief aus »Gott erbarme sich unser!« Und das war gar nicht geeignet, meine Besorgnisse zu verscheuchen.

Nachdem das Tischtuch entfernt war, kam Sherry, und ich erhielt auch ein Glas. Meine Tante schickte wieder nach Mr. Dick, der uns dann Gesellschaft leistete und so klug dreinsah, wie er nur konnte, als sie ihn aufforderte, meiner Geschichte zuzuhören, die sie durch eine Reihe von Fragen aus mir herauslockte. Während meiner Erzählung wandte sie kein Auge von Mr. Dick, der, wie ich glaube, sonst eingeschlafen wäre. Wenn er sich verleiten ließ, zu lächeln, wies ihn ein Stirnrunzeln meiner Tante in seine Schranken zurück.

»Was nur dem armen unglücklichen Baby eingefallen sein muß, daß sie noch einmal heiratete,« sagte meine Tante, als ich fertig war. »Ich kann es nicht begreifen.«

»Vielleicht hat sie sich in ihren zweiten Mann verliebt,« meinte Mr. Dick.

»Verliebt?« wiederholte meine Tante. »Was reden Sie da? Zu welchem Zweck?«

»Vielleicht,« simpelte Mr. Dick, nachdem er ein wenig nachgedacht, »vielleicht tat sie es zu ihrem Vergnügen.«

»Zu ihrem Vergnügen! Natürlich! Ein Mordsvergnügen für das arme Baby, ihr schlichtes Herz einem Schweinehund zu schenken, der sie in jeder Art enttäuschte. Was hat sie sich eigentlich dabei gedacht, möchte ich gern wissen? Sie hatte doch schon einen Mann gehabt, hatte David Copperfield begraben, der von Kindheit an Wachspuppen nachlief, besaß ein Kind – was brauchte sie mehr?«

Mr. Dick schüttelte geheimnisvoll den Kopf, als könne er sich über diesen Punkt nicht klar werden.

»Sie brachte es nicht einmal fertig ein Kind zu kriegen wie andere Leute,« sagte meine Tante. »Wo ist dieses Kindes Schwester Betsey Trotwood geblieben? Kam einfach nicht! Reden Sie nichts!«

Mr. Dick schien ganz erschrocken zu sein.

»Der kleine Doktor mit dem seitwärts geneigten Kopf, Jellips oder wie er sonst hieß, wozu war er denn da? Er konnte nichts, als wie ein Rotkehlchen, das er übrigens ist, sagen: s ist ein Knabe. Ein Knabe! Ha, über die Dummheit dieses ganzen Geschlechts!«

 

Über die Heftigkeit dieses Ausrufs erschrak Mr. Dick außerordentlich und, wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich ebenfalls.

»Und dann, noch nicht genug damit, und als ob sie dieses Kindes Schwester Betsey Trotwood noch nicht genügend im Licht gestanden hätte,« sagte meine Tante, »heiratet sie zum zweitenmal, geht hin und heiratet einen Mörder – oder so etwas dergleichen – und steht diesem Kind auch noch im Licht. Die natürliche Folge ist, was jeder, bloß ein Baby nicht, hätte voraussehen können, daß der Junge herumvagabundiert. Er ist noch, bevor er aufwächst, einem Kain so ähnlich wie möglich.«

Mr. Dick sah mich hart an.

»Und dann ist das Frauenzimmer mit dem heidnischen Namen da,« sagte meine Tante, »die muß natürlich auch heiraten. Weil sie noch nicht genug von dem Unglück gesehen hat, das bei so etwas herauskommen muß. Sie heiratet auch, wie das Kind erzählt. Ich hoffe bloß, – meine Tante schüttelte den Kopf, – daß ihr Gatte einer von der Prügelsorte ist, von denen man immer in der Zeitung liest, und sie ordentlich verhaut.«

Das konnte ich von meiner alten Kindsfrau nicht mit anhören und versicherte meiner Tante, daß sie sich bestimmt irre, Peggotty sei die beste, treueste, hingebendste und aufopferndste Freundin und Dienerin von der Welt. Ich sagte, daß sie immer mich und meine Mutter von Herzen geliebt, – meiner Mutter sterbendes Haupt gestützt habe, und daß meine Mutter ihren letzten dankbaren Kuß auf ihr Gesicht drückte. Und da mich die Erinnerung an die beiden so sehr erschütterte, konnte ich nicht ausreden und erzählen, wie Peggottys Haus auch mein Haus sei, daß alles, was sie besäße, mein sei, und daß ich nur mit Rücksicht auf ihre bescheidene Stellung und aus Furcht, ihr Ungelegenheiten zu machen, nicht bei ihr Schutz gesucht habe. Tränen erstickten meine Stimme, und ich legte mein Gesicht auf den Tisch.

»Schon gut, schon gut,« sagte meine Tante, »das Kind hat ganz recht, wenn es zu denen hält, die ihm beigestanden haben. – Janet! Esel!«

Ich bin überzeugt, ohne das Dazwischentreten dieser unglückseligen Esel wären wir jetzt zu einer Aussprache gekommen, denn meine Tante hatte mir die Hand auf die Schultern gelegt, und ich war eben im Begriffe, dadurch ermutigt, sie zu umarmen und ihren Schutz anzuflehen. Aber die Unterbrechung und die Aufregung, in die sie durch den Kampf draußen geriet, machten vor der Hand allen sanfteren Gefühlen ein Ende und veranlaßten meine Tante, sich in höchster Entrüstung gegen Mr. Dick über ihren Entschluß auszulassen, bei den Landesgesetzen Hilfe zu suchen und sämtliche Eselseigentümer von Dover zu verklagen.

Nach dem Tee setzten wir uns ans Fenster, – wie ich aus dem gespannten Gesicht meiner Tante schloß – um auf neue Eindringlinge zu lauern. Dann als es dämmrig wurde, brachte Janet Lichter und ein Pochbrett und ließ die Vorhänge herunter.

»Jetzt Mr. Dick,« sagte meine Tante mit ernstem Blick und emporgehobenem Zeigefinger, »will ich Ihnen eine andere Frage vorlegen. Sehen Sie das Kind an.«

»Davids Sohn?« fragte Mr. Dick mit aufmerksamem und bestürztem Gesicht.

»Ganz richtig,« entgegnete meine Tante, »Davids Sohn. Was würden Sie jetzt mit ihm machen?«

»Mit Davids Sohn machen?« fragte Mr. Dick.

»Ja,« erwiderte meine Tante, »mit Davids Sohn.«

»O,« sagte Mr. Dick. »Ja. Mit ihm machen – ich würde ihn zu Bett bringen.«

»Janet!« rief meine Tante mit derselben triumphierenden Miene, die ich schon einmal an ihr entdeckt hatte. »Mr. Dick rät uns immer das Beste. Wenn das Bett fertig ist, wollen wir David hinaufbringen.« Auf Janets Äußerung, daß alles bereit sei, wurde ich hinaufgeführt, freundlich, aber wie eine Art Gefangener. Meine Tante ging voraus, und Janet beschloß den Zug.

Der einzige Umstand, der mir Hoffnung einflößte, war, daß Janet auf die Frage meiner Tante, woher plötzlich so ein brandiger Geruch komme, antwortete, sie habe unten in der Küche aus meinem Hemd Zunder gebrannt. Überdies lagen in meinem Zimmer sonst keine Kleider außer den verrückten Sachen, in die man mich eingewickelt hatte. Als man mich mit einer kleinen Kerze, die, wie mir meine Tante sagte, genau fünf Minuten brennen würde und nicht länger, allein gelassen, hörte ich, wie sie draußen die Türe zuschlossen. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß meine Tante mich wahrscheinlich im Verdacht hatte, es sei eine üble Gewohnheit von mir, davonzulaufen, und dagegen Vorkehrungen traf.

Das Zimmer, außerordentlich freundlich, lag oben im Hause mit der Aussicht auf das Meer hinaus, auf das der Mond jetzt glänzend schien. Ich sagte mein Nachtgebet her und blieb, als die Kerze ausgebrannt war, noch sitzen und blickte auf das mondbeschienene Wasser hin, als könnte ich darin mein Schicksal lesen oder meine Mutter mit ihrem Kind auf den Lichtstrahlen vom Himmel herabsteigen und mich mit ihrem lieblichen Antlitz, wie einst, anblicken sehen.

Das feierliche Gefühl wich allmählich einer Empfindung der Dankbarkeit und der Ruhe, die mir der Anblick des weißverhangenen Bettes und vielmehr noch die Rast in dem weißen Pfühl mit den schneeweißen Leinen einflößte. Ich erinnere mich, daß ich an alle die einsamen Orte dachte, wo ich unter dem Nachthimmel geschlafen, und betete, Gott möge mich nie wieder obdachlos werden und nie der Obdachlosen vergessen lassen. Ich erinnere mich, wie ich dann auf dem silbernen Dämmerschimmer des Mondlichtes in die Welt der Träume hinüberglitt.

Vierzehntes Kapitel

Als ich früh herunterkam, saß meine Tante in so tiefem Sinnen am Frühstückstisch, die Ellbogen auf das Teebrett gestützt, daß sie gar nicht bemerkte, daß der Teekessel übergelaufen war und das ganze Tischtuch unter Wasser gesetzt hatte. Bei meinem Erscheinen kam sie wieder zu sich. Überzeugt, daß sie meinetwegen nachgedacht habe, wünschte ich nichts sehnlicher, als zu wissen, was sie mit mir vorhatte. Doch ich wagte nicht zu fragen, aus Angst, sie zu beleidigen.

Meine Augen jedoch, die ich nicht so im Zaume halten konnte wie meine Zunge, fühlten sich während des Frühstücks sehr oft zu meiner Tante hingezogen. Ich konnte sie kaum ein paar Augenblicke hintereinander ansehen, ohne daß sie mich nicht ebenfalls anblickte und zwar in einer seltsamen nachdenklichen Art, als ob ich in unendlich weiter Ferne säße und nicht an der andern Seite des kleinen runden Tisches.

Als sie mit dem Frühstück fertig war, lehnte sie sich sehr gedankenvoll in ihren Stuhl zurück, zog die Brauen zusammen, verschränkte die Arme und betrachtete mich mit so unablässiger Aufmerksamkeit, daß ich vor Verlegenheit mir gar nicht mehr zu helfen wußte. Ich war mit meinem Frühstück noch nicht zu Ende und versuchte, durch Essen meine Verlegenheit zu verbergen. Aber mein Messer stolperte über die Gabel, die Gabel warf das Messer um, ich schnellte ein Stückchen Schinken in überraschende Höhe in die Luft empor, anstatt es zurechtzuschneiden, und der Tee kam mir so oft in die unrechte Kehle, daß ich es zuletzt ganz aufgab und errötend still saß und mich mustern ließ.

»Hallo!« sagte meine Tante nach einer langen Zeit.

Ich blickte auf und begegnete mit ehrerbietiger Miene ihren scharfen glänzenden Augen.

»Ich habe an ihn geschrieben,« sagte meine Tante.

»An –?«

»An deinen Stiefvater,« sagte meine Tante. »Ich habe ihm einen Brief geschrieben, er möge hierherkommen, oder er bekäme es mit mir zu tun.«

»Weiß er, wo ich bin, Tante?« fragte ich sehr beunruhigt.

»Ich habe es es ihm geschrieben,« nickte meine Tante.

»Wird er – soll er – nimmt er mich wieder mit?« stotterte ich.

»Ich weiß nicht, was er tun wird,« sagte meine Tante. »Wir werden sehen.«

»Ach, ich darf gar nicht daran denken!« rief ich aus. »Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, wenn ich wieder zu Mr. Murdstone zurückkehren muß.«

»Ich auch nicht,« sagte meine Tante und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht. Wir werden sehen.«

All mein Mut verließ mich bei diesen Worten, und ich wurde ganz niedergeschlagen und schweren Herzens. Ohne anscheinend darauf zu achten, band sich meine Tante eine große Schürze vor, die sie aus einem Schrank nahm, wusch die Teetassen eigenhändig aus, stellte sie dann auf das Teebrett, faltete das Tischtuch zusammen und klingelte Janet. Dann zog sie ein paar Handschuhe an, kehrte mit einem kleinen Besen die letzten Krumen weg, bis auch kein mikroskopisches Fleckchen mehr auf dem Tisch zu sehen war, staubte ab und ordnete das Zimmer auf das Sorgfältigste. Als alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt schien, legte sie Handschuhe und Schürze wieder ab, faltete sie zusammen, legte sie an ihren Platz im Schranke, stellte ihr Arbeitskörbchen auf den Tisch am offnen Fenster und setzte sich nieder, den grünen Schirm zwischen sich und das Licht gerückt.

»Du könntest hinaufgehen,« sagte sie, als sie dann ihre Nadel einfädelte, »mich Mr. Dick bestens empfehlen und ihn fragen, wie er mit seiner Denkschrift vorwärts kommt.«

Ich sprang auf, um den Auftrag auszuführen.

»Ich vermute,« sagte meine Tante und sah mich so scharf an wie vorhin die Nadel beim Einfädeln, »du denkst dir, Mr. Dick ist ein sehr kurzer Name.«

»Er kam mir gestern abends ein wenig kurz vor.« gestand ich.

»Du brauchst nicht zu glauben, daß er keinen längern zur Verfügung hätte, wenn er wollte,« sagte mein Tante, mit einer großartigen Geste. »Babley – Mr. Richard Babley – ist dieses Gentlemans wirklicher Name.«

Ich wollte im Bewußtsein meiner Jugend, und um die Respektlosigkeit, deren ich mich schuldig gemacht zu haben glaubte, wieder gut zu machen, eben bescheiden bemerken, daß ich Mr. Dick von jetzt an seinen vollen Namen wolle zukommen lassen, als meine Tante fortfuhr:

»Aber nenne ihn bei Leibe nicht so! Er kann den Namen nicht ausstehen. Das ist eine seiner Eigenheiten. Es ist bei Licht betrachtet vielleicht nichts Sonderbares dabei! Verwandte, die denselben Namen tragen, haben ihn schlecht genug behandelt, so daß sein tödlicher Widerwille wohl gerechtfertigt erscheint. Also nimm dich in acht, Kind, daß du ihn nicht anders als Mr. Dick nennst.«

Ich versprach es und ging mit meiner Botschaft hinauf. Unterwegs dachte ich, Mr. Dick müßte wohl mit seiner Denkschrift gut vorwärts kommen, wenn er immer so eifrig an ihr arbeitete, wie ich es heute früh beim Vorbeigehen durch die offne Tür gesehen.

Bei meinem Eintritt schrieb er immer noch höchst eifrig, und sein Kopf lag fast auf dem Papier. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß ich Zeit genug hatte, mir einen großen Papierdrachen in einer Ecke, eine Menge beschriebenes Papier in Bündeln und vor allem die in Dutzenden herumstehenden dicken Tintenkrüge anzusehen, ehe er meiner gewahr wurde.

»Ha! Phöbus!« sagte er dann, die Feder weglegend. »Wie gehts in der Welt?«

»Ich will dir was sagen,« setzte er leiser hinzu, »aber du mußt es für dich behalten,« – er winkte mir und legte seine Lippen dicht an mein Ohr – »es ist eine verrückte Welt, verrückt wie ein Irrenhaus, mein Sohn!« Dann nahm er eine Prise aus einer großen runden Tabaksdose, die auf dem Tische stand, und lachte herzlich.

Ohne mir eine Meinungsäußerung zu erlauben, richtete ich meinen Auftrag aus.

»Gut,« antwortete Mr. Dick. »Bitte, ebenfalls meine Empfehlungen, und ich – ich hätte einen tüchtigen Ansatz gemacht!« Er fuhr mit der Hand durch sein graues Haar und warf einen keineswegs zuversichtlichen Blick auf sein Manuskript.

»Hast du die Schule besucht?«

»Ja, Sir,« erwiderte ich, »kurze Zeit.«

»Kannst du dich an das Datum erinnern,« fragte Mr. Dick, sah mich ernst an und nahm eine Feder, um meine Antwort aufzuschreiben, »wann König Karl I. enthauptet wurde?«

Ich sagte, ich glaubte, es sei das Jahr 1649 gewesen.

»Hm,« entgegnete Mr. Dick, indem er sich mit der Feder hinter dem Ohre kratzte und mich voll Zweifel ansah. »Das sagen die Bücher, aber ich sehe nicht ein, wie das stimmen kann. Wenn das solange her ist, warum haben da die Leute das Versehen begangen, ein paar Sorgen aus seinem Kopf, nachdem sie ihm ihn abgeschnitten, in meinen zu stecken?«

Ich war sehr verblüfft durch diese Frage, konnte aber keine Antwort finden.

»Es ist sehr sehr seltsam,« meinte Mr. Dick mit einem verzagten Blick auf seine Papiere und sich wieder mit der Hand durch die Haare fahrend, »daß ich nie damit ins reine kommen kann! – – – Aber schadet nichts, schadet nichts,« sagte er vergnügt und wieder Mut fassend. »Ich habe ja Zeit genug. Meine Empfehlungen an Miß Trotwood und ich käme recht gut vorwärts.«

 

Ich wollte hinausgehen, als er meine Aufmerksamkeit auf den Drachen lenkte.

»Was sagst du zu diesem Drachen?« fragte er.

Ich antwortete, er sei sehr schön. Man sollte meinen, er müßte sieben Fuß hoch sein.

»Ich habe ihn selbst gemacht, wir wollen ihn mal zusammen steigen lassen. Schau einmal her.«

Er zeigte mir, daß der Drache über und über beschrieben war und zwar so deutlich, – wenn auch in kleinster Schrift – daß ich beim Überfliegen der Zeilen an ein paar Stellen Anspielungen auf König Karls des Ersten Kopf zu lesen glaubte.

»Die Schnur ist sehr lang,« sagte Mr. Dick, »und wenn er hoch fliegt, nimmt er die Tatsachen weit fort. Das ist so meine Art, sie zu verbreiten. Ich weiß nicht, wo sie niederfallen, – das hängt von den Umständen und vom Winde ab –, aber ich treffe meine Vorkehrungen darnach.«

Sein gesundes und frisches Gesicht war so sanft und freundlich und hatte etwas so Ehrwürdiges an sich, daß ich vermutete, er treibe einen fröhlichen Scherz mit mir. Daher lachte ich, und er lachte auch, und wir schieden als die besten Freunde.

»Nun, Kind,« fragte meine Tante, als ich die Treppen herunterkam, »was ists mit Mr. Dick heute morgen?«

Ich richtete ihr aus, daß er sich empfehlen lasse und recht gute Fortschritte mache.

»Was hältst du von ihm?« forschte meine Tante.

Ich wollte der Frage dadurch ausweichen, daß ich sagte, er sei ein sehr gewinnender Gentleman. Aber meine Tante ließ sich nicht so leicht abfertigen; sie legte ihre Arbeit in den Schoß, verschränkte die Arme und sagte:

»Schau! Deine Schwester Betsey Trotwood würde mir ohne Ausflüchte gesagt haben, was sie denkt. Sei doch deiner Schwester ähnlich und sprich ganz offen!«

»Ist er – ist Mr. Dick – ich frage, weil ich es nicht wissen kann, Tante, – ist er nicht recht bei Sinnen?« stotterte ich, denn ich fühlte, daß ich mich auf einem gefährlichen Gebiet bewegte.

»O durchaus nicht,« sagte meine Tante.

»O wirklich,« bemerkte ich schüchtern.

»Wenn es irgend jemand in der Welt nicht ist,« sagte meine Tante mit großer Entschiedenheit, »so ist es Mr. Dick.«

Ich wußte nichts besseres zu erwidern, als abermals ein schüchternes »O wirklich.«

»Man hat wohl behauptet, er sei verrückt,« sagte meine Tante. »Mir macht es ein besonderes Vergnügen, daß das geschehen ist, denn ich hätte sonst nicht die Freude seiner Gesellschaft und seines Rates genossen seit den letzten zehn Jahren, oder so. Kurz seit deine Schwester Betsey Trotwood mich im Stiche gelassen hat.«

»Solange schon,« sagte ich.

»Und nette Leute waren es, die die Frechheit besessen haben, ihn für verrückt zu erklären,« fuhr meine Tante fort. »Mr. Dick ist eine Art entfernter Verwandter von mir; es ist gleichgültig, in welchem Grade. Wäre ich nicht dazwischen getreten, so hätte ihn sein eigner Bruder zeitlebens eingesperrt. So steht die Sache.«

Ich fürchte, es war heuchlerisch von mir, daß ich ein teilnehmendes Gesicht machte, aber ich tat es, weil meiner Tante die Sache offenbar sehr zu Herzen ging.

»Ein hochmütiger Narr dieser Bruder! Weil Mr. Dick ein bißchen eigentümlich ist, – noch lange nicht so eigentümlich wie viele andere Leute – mag er ihn nicht um sich sehen und schickt ihn in ein Privat-Irrenhaus, trotzdem er ihm von seinem Vater, der ihn auch für närrisch hielt, auf dem Totenbett ausdrücklich zur Pflege auf die Seele gebunden worden war. Muß auch ein weiser Mann gewesen sein, der Vater! Offenbar selber verrückt.«

Da meine Tante sehr überzeugt dreinschaute, bemühte ich mich, ein gleiches Gesicht zu machen.

»Darum mischte ich mich hinein,« fuhr meine Tante fort, »und machte ihm ein Anerbieten. Ich sagte, Ihr Bruder ist vernünftig, hoffentlich viel vernünftiger als Sie sind oder jemals sein werden. Geben Sie ihm sein kleines Einkommen, dann mag er zu mir ziehen. Ich schäme mich seiner nicht, ich bin nicht hochmütig und nehme ihn gern unter meine Obhut. Ich werde ihn auch nicht mißhandeln, wie es gewisse Leute getan haben. Nach einer langen Balgerei bekam ich ihn, und seitdem ist er hier. Er ist das freundlichste und gefügigste Wesen, das es gibt. Und was für ein Ratgeber! Aber niemand außer mir kennt seine Befähigung.«

»Er hatte eine Lieblingsschwester,« fuhr sie fort, »ein sanftes Geschöpf, die sehr gut zu ihm war. Aber sie tat, was sie eben alle tun –, sie nahm einen Mann. Und ihr Mann tat, was sie alle tun: Er machte sie unglücklich. Das brachte auf Mr. Dick einen derartigen Eindruck hervor, daß er – die Furcht vor seinem Bruder und das Gefühl, immer unfreundlich behandelt zu werden kam noch dazu, – in ein heftiges Fieber verfiel. Das geschah, bevor er hierher zog. Aber die Erinnerung daran bedrückt ihn immer noch. – – – – Sagte er dir etwas über König Karl den Ersten, Kind?«

»Ja, Tante.«

»Ach,« sagte meine Tante und rieb sich ein wenig verlegen die Nase, »das ist nur so eine allegorische Art von ihm sich auszudrücken. Seine Krankheit erinnert ihn natürlich an große Aufregungen und Wirrsale, und darum wählt er dieses Bild oder Gleichnis. Warum sollte er auch nicht, wenn er es für gut findet!?«

»Gewiß, Tante.«

»Es ist keine allgemein übliche Ausdrucksweise,« fuhr meine Tante fort, »ich weiß das recht wohl, und deshalb bestehe ich auch darauf, daß kein Wort davon in seine Denkschrift kommen darf.«

»Handelt seine Denkschrift von seiner eignen Lebensgeschichte, Tante?«

»Ja, mein Kind!« Meine Tante rieb sich wieder die Nase. »Er verfaßt eine Bittschrift an den Lordkanzler oder den Lord Dingskirchen, jedenfalls an einen der Männer, die bezahlt werden, um Denkschriften entgegenzunehmen. Ich glaube, er wird nächstens damit fertig sein. Bis jetzt hat er immer wieder sein Gleichnis hineingebracht. Aber das schadet nichts. Er hat wenigstens eine Beschäftigung.«

Tatsächlich fand ich später heraus, daß Mr. Dick sich schon länger als zehn Jahre bemüht hatte, König Karl den Ersten aus der Denkschrift fernzuhalten, aber diese fixe Idee war beständig wieder hineingeraten und befand sich auch jetzt wieder darin.

»Ich sage nochmals, niemand außer mir kennt dieses Mannes Begabung, und er ist das umgänglichste und freundlichste Geschöpf von der Welt. Wenn er manchmal einen Drachen steigen läßt, was tut das? Franklin ließ auch Drachen steigen. Und der war Quäker oder so etwas Ähnliches, wenn ich nicht irre. Und wenn ein Quäker einen Drachen steigen läßt, ist das noch viel lächerlicher, als wenn es ein anderer Mensch tut.«

Wenn ich hätte annehmen können, daß meine Tante mir diese Einzelheiten als einen Beweis ihres Vertrauens erzählte, würde ich mich sehr ausgezeichnet gefühlt und auf meine Zukunft sehr günstig geschlossen haben. Aber leider entging es mir nicht, daß sie nur so viel sprach, um sich selbst zu beruhigen.

Ihre Großmut gegenüber dem armen harmlosen Mr. Dick jedoch erfüllte mein junges Herz nicht nur mit Hoffnung, sondern zog es auch zu ihr hin. Ich begann zu begreifen, daß meine Tante bei allen ihren Wunderlichkeiten und Launen Eigenschaften besaß, die man sehr hoch anschlagen mußte. Sie war heute gerade so schroff wie gestern, machte wieder die Ausfälle auf die Esel und geriet in fürchterliche Entrüstung, als ein junger Bursche im Vorbeigehen Janet ansah, eines der ernstesten Vergehen, deren man sich in den Augen meiner Tante schuldig machen konnte, aber sie schien mir mehr Ehrfurcht und weniger Angst einzuflößen.

Meine Furcht in der Zwischenzeit, die bis zum Eintreffen einer Antwort von Mr. Murdstone verlaufen mußte, war außerordentlich, aber ich versuchte, mich zu beherrschen und mich auf stille Art meiner Tante und Mr. Dick so angenehm wie nur möglich zu machen. Er und ich hätten gern den großen Drachen steigen lassen, aber ich besaß keine andern Kleider, als diejenigen, in die man mich am ersten Tage meines Hierseins eingehüllt hatte, und die mich beständig an das Haus fesselten, außer eine Stunde nach Dunkelwerden, wo meine Tante mit mir aus Gesundheitsrücksichten auf der Klippe draußen spazieren ging.

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