David Copperfield

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Ich glaube, nur das war der Grund, weshalb ich vorläufig zu Hause behalten wurde. Ich hatte gut und willig gelernt, als meine Mutter und ich noch allein miteinander lebten. Ich kann mich noch undeutlich erinnern, wie ich auf ihrem Schoß das Alphabet lernte. Noch heute, wenn ich auf die fetten, schwarzen Buchstaben in einer Fibel sehe, tritt mir die verwirrende Neuheit ihrer Gestalten und die behäbige Gemütlichkeit des »O, Q und S« ganz so vor die Augen wie damals. Aber sie erinnern mich an kein Gefühl des Widerwillens oder des Ekels. Im Gegenteil, es ist mir, als ob ich auf einem Blumenpfad bis zum Krokodilbuch gewandelt sei, und als ob mich die sanfte Weise und Stimme meiner Mutter auf dem ganzen Wege gestärkt hätten.

Aber der feierliche Unterricht, der später kam, steht vor mir, wie der Tod meines Seelenfriedens, wie eine tägliche, jämmerliche Plage und kummervolles Elend.

Die Lektionen waren sehr lang, sehr zahlreich, sehr schwer – einige vollkommen unverständlich für mich – und verwirrten mich meistens ebenso sehr, wie vermutlich meine Mutter.

Ich will einmal in der Erinnerung so einen Morgen durchgehen:

Ich trete nach dem Frühstück mit meinen Büchern, einem Schreibheft und einer Schiefertafel ein. Meine Mutter sitzt an ihrem Schreibtisch und ist bereit für mich, aber nicht halb so bereit wie Mr. Murdstone in seinem Lehnstuhl am Fenster (wenn er auch vorgibt, ein Buch zu lesen) oder wie Miß Murdstone, die in der Nähe meiner Mutter sitzt und Stahlperlen aufreiht.

Der bloße Anblick der beiden wirkt auf mich, daß ich merke, wie die Worte, die ich mir mit so unendlicher Mühe eingeprägt habe, mir alle entfallen und gehen, ich weiß nicht wohin. Nebenbei gesagt, möchte ich übrigens wirklich gerne wissen, wo sie eigentlich hingehen.

Ich reiche das erste Buch meiner Mutter. Es ist eine Grammatik, vielleicht ein Geschichts- oder Geographiebuch. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Seite, wie ein Ertrinkender, während ich ihr das Buch hinhalte, und fange an im Galopp aufzusagen, um fertig zu werden, so lange ich noch alles frisch im Kopfe habe.

Ich stocke bei einem Wort, Mr. Murdstone blickt auf.

Ich stocke bei einem andern Wort, Miß Murdstone blickt auf.

Ich werde rot, werfe ein halbes Dutzend Worte verwirrt durcheinander und bleibe stecken. Ich fühle, meine Mutter würde mir das Buch zeigen, wenn sie es wagte, aber sie wagt es nicht und sagt sanft:

»O Davy, Davy!«

»Klara,« sagt Mr. Murdstone, »sei fest mit dem Jungen. Sag nicht Davy, Davy! Das ist kindisch. Entweder kann er seine Lektion oder er kann sie nicht.«

»Er kann sie nicht,« fällt Miß Murdstone mit grauenerregendem Nachdruck ein.

»Ich fürchte wirklich, er kann sie nicht,« sagte meine Mutter.

»Nun dann, Klara,« erwidert Miß Murdstone, »solltest du ihm das Buch zurückgeben und ihm das sagen.«

»Ja, gewiß,« stimmt meine Mutter bei. »Das wollte ich tun, liebe Jane. Also Davy, versuch es noch einmal und mach es gut.«

Ich gehorche dem ersten Teil der Ermahnung und versuche es noch einmal; mit dem zweiten Teil bin ich nicht so glücklich, denn ich mache es sehr schlecht. Ich bleibe stecken, früher noch als vorhin, an einer Stelle, die ich eben noch gut kannte, und halte inne, um nachzudenken. Aber ich kann nicht an die Aufgabe denken, ich muß daran denken, wie viel Ellen Spitzen auf Miß Murdstones Haube sein mögen oder was Mr. Murdstones Schlafrock kostet oder an andere alberne Dinge, die mich nichts angehen! Mr. Murdstone macht die ungeduldige Bewegung, die ich schon lange erwartet habe. Miß Murdstone tut dasselbe. Meine Mutter blickt unterwürfig nach ihnen hin, klappt das Buch zu und legt es beiseite als einen Rückstand, der nachgeholt werden muß, wenn die andern Aufgaben beendet sind.

Bald liegt ein ganzer Stoß solcher Rückstände da und wächst an wie eine Lawine. Je höher er wird, um so vernagelter werde ich. Der Fall ist so hoffnungslos, daß ich das Gefühl habe, in einem tiefen Sumpf von Unsinn herumzuwaten, und jeden Gedanken wieder herauszubekommen aufgebe und mich meinem Schicksal überlasse. Die verzweifelte Angst, mit der meine Mutter und ich einander ansehen, ist wirklich trübselig. Aber der Hauptschlag kommt, wenn meine Mutter sich unbeobachtet glaubt und mir das Stichwort durch eine Bewegung der Lippen zu verraten sucht. In diesem Augenblick sagt Miß Murdstone, die bloß darauf gewartet hat, mit tiefer warnender Stimme:

»Klara!«

Meine Mutter fährt zusammen, wechselt die Farbe und lächelt schüchtern. Mr. Murdstone steht von seinem Stuhl auf, wirft mir das Buch an den Kopf oder schlägt es mir um die Ohren und schiebt mich bei den Schultern zur Tür hinaus.

Wenn die Stunden aus sind, kommt erst das Schlimmste in Gestalt eines entsetzlichen Rechenexempels. Das ist für mich besonders erfunden und wird mir durch Mr. Murdstone mündlich überliefert. Es fängt an:

»Wenn ich in einen Käseladen gehe und kaufe fünftausend doppelte Gloucesterkäse zu vier und einem halben Penny – augenblicklich zahlbar« – Miß Murdstones Züge werden überglücklich bei dieser Wendung – und so weiter und so weiter. Bis Mittag brüte ich über diesen Käsen ohne Resultat oder Erleuchtung, und wenn ich dann durch Abwischen der mit Schiefer beschmutzten Finger an meinem schweißtriefenden Gesicht einen Mulatten aus mir gemacht habe, bekomme ich ein Stückchen Brot ohne Butter zu meinen Käsen und bin für den Abend in Ungnade gefallen.

Nach so vielen Jahren scheint es mir, als ob meine unglücklichen Studien immer denselben Verlauf genommen hätten. Ich wäre sehr gut vorwärts gekommen ohne die Murdstones, aber ihr Einfluß auf mich war wie der bannende Blick, den zwei Schlangen auf einen armen kleinen Vogel richten.

Selbst wenn ich ziemlich gut durch die Morgenarbeiten kam, hatte ich nicht viel mehr gewonnen als die freie Zeit des Mittagessens, denn Miß Murdstone konnte mich nie unbeschäftigt sehen; und wenn ich unvorsichtigerweise merken ließ, daß ich gerade nichts zu tun hatte, so lenkte sie ihres Bruders Aufmerksamkeit auf mich, indem sie sagte: »Liebe Klara, es geht nichts über die Arbeit, – gib deinem Jungen etwas auf.« Und das hatte stets zur Folge, daß ich sofort über eine neue Arbeit geduckt wurde. Von Zerstreuungen mit andern Kindern meines Alters war kaum die Rede, denn dem finstern Puritanismus der Murdstones erschienen alle Kinder wie eine Brut kleiner Vipern. Als ob niemals ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt worden wäre!

Die natürliche Folge dieser vielleicht sechs Monate oder noch länger fortgesetzten Behandlungsweise war, daß ich ganz stumpf, verstockt und schwer von Begriffen wurde. Nicht wenig trug dazu bei, daß ich mich täglich mehr meiner Mutter entfremdet fühlte. Ich glaube, wenn mir nicht ein glücklicher Umstand geholfen hätte, ich wäre blödsinnig geworden.

Und das war folgender. Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einer Dachstube neben meinem Schlafraum, um die sich niemand kümmerte, hinterlassen. Aus diesem gesegneten kleinen Stübchen kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landprediger von Wakefield, Don Quixote, Gil Blas und Robinson Crusoe – eine glorreiche Schar – zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Phantasie lebendig – und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus; sie und Tausendundeine Nacht und die persischen Märchen brachten mir keinen Schaden, denn was in einigen von ihnen Schädliches sein mochte, war für mich nicht da; ich verstand nichts davon. Es ist mir nur unbegreiflich, woher ich inmitten meines Hockens und Brütens über schwierigere Themen die Zeit nahm alle diese Bücher zu lesen. Es ist mir jetzt wunderbar, wie es für mich in meinen kleinen und doch so großen Leiden tröstlich sein konnte, daß ich die Rollen meiner Lieblingscharaktere in diesen Geschichten auf mich übertrug und Mr. und Miß Murdstone mit allen schlechten bedachte. Eine ganze Woche lang war ich Tom Jones in Kindergestalt. Die Rolle Roderick Randoms habe ich wohl einen Monat lang gespielt.

Ich fraß förmlich ein paar Bände Reisebeschreibungen, ich weiß nicht mehr, welche, und tagelang bin ich in der obern Region des Hauses heimlich umhergestreift, bewaffnet mit dem Mittelstück eines alten Stiefelholzes, als Kapitän soundso von der königlich britischen Flotte, der von Wilden bedroht war und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen wollte. Niemals verlor der Kapitän seine Würde, wenn ihm die lateinische Grammatik um die Ohren geschlagen wurde. Ich litt wohl darunter, der Kapitän aber blieb Kapitän und ein Held trotz aller Grammatiken, aller lebenden und toten Sprachen.

Das bildete meinen einzigen und beständigen Trost. Wenn ich daran denke, steht mir ein Sommerabend vor Augen, wo die Kinder draußen auf dem Kirchhof spielten und ich auf dem Bette saß und auf Tod und Leben drauf – los – las. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche, jeder Fußbreit des Friedhofs standen in meiner Seele in Verbindung mit diesen Büchern und vertraten die Stelle eines in ihnen berühmt gewordnen Ortes. Ich habe gesehen, wie Tom Pipes den Kirchtum hinaufkletterte, habe Strab mit dem Schnappsack auf dem Rücken beobachtet, wie er an der Gitterpforte am Zaun ausruhte, und ich weiß, daß Commodore Trunnion seine Klubsitzung mit Mr. Pickle in der Gaststube unserer kleinen Dorfschenke abhielt. So war ich damals geartet, als das Ereignis eintrat, von dem ich jetzt berichten will.

Eines Morgens, als ich mit meinen Büchern in das Wohnzimmer trat, bemerkte ich, daß meine Mutter sehr ängstlich aussah und Miß Murdstone sehr fest, während Mr. Murdstone etwas um das untere Ende eines Rohrstockes wickelte. Es war ein geschmeidiges und schmächtiges Rohr, das er in der Hand wippte und durch die Luft sausen ließ, als ich hereinkam.

 

»Ich sage dir doch, Klara,« bemerkte Mr. Murdstone, »ich selbst bin oft durchgehauen worden.«

»Gewiß, selbstverständlich,« sagte Miß Murdstone.

»Gewiß, liebe Jane,« stammelte meine Mutter demütig. »Aber – aber meinst du, daß es Edward gut getan hat?«

»Glaubst du, daß es Edward geschadet hat, Klara?« fragte Mr. Murdstone ernst.

»Das ist der springende Punkt,« sagte seine Schwester.

»Gewiß, liebe Jane,« weiter sagte meine Mutter nichts mehr.

Mich beschlich das Gefühl, daß sich das Zwiegespräch auf mich bezöge. Und ich suchte und begegnete Mr. Murdstones Blick.

»Nun, David?« sagte er und sein Auge blitzte. »Du mußt dich heute viel mehr in acht nehmen, als gewöhnlich.« Er hieb wieder mit dem Rohr durch die Luft, und nachdem er diese Vorbereitung beendigt hatte, legte er es mit ausdrucksvollem Blick neben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.

Nur für den Beginn war dies eine gute Auffrischung meiner Geistesgegenwart. Dann fühlte ich, wie die Worte mir beim Aufsagen entschwanden, nicht einzeln oder zeilenweise, sondern gleich ganze Seiten lang. Ich versuchte meine Gedanken wieder einzufangen, aber es war, als ob sie Schlittschuhe an hätten und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit wegglitten.

Wir fingen schlecht an und fuhren noch schlechter fort. Ich war hereingekommen mit dem Bewußtsein, daß ich mich heute sogar auszeichnen würde, denn ich glaubte recht gut vorbereitet zu sein, aber es stellte sich als vollständiger Irrtum heraus. Ein Buch nach dem andern vermehrte den Haufen der Rückstände, und Miß Murdstone wandte die ganze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir endlich zu den fünftausend Käsen kamen, – er machte an diesem Tage Rohrstöcke daraus, – fing meine Mutter zu weinen an.

»Klara!« sagte Miß Murdstone mit warnender Stimme.

»Ich fühle mich nicht ganz wohl, meine liebe Jane, glaube ich,« sagte meine Mutter.

Ich sah Mr. Murdstone feierlich seiner Schwester zuwinken, als er aufstand, das Rohr nahm und sagte:

»Nun, Jane, wir können kaum erwarten, daß Klara mit unerschütterlicher Festigkeit den Ärger und die Qual trägt, die David ihr heute verursacht hat. Das würde stoisch sein. Klara hat sich sehr gefestigt und ist viel stärker geworden, aber wir können kaum so viel von ihr erwarten. David, wir wollen jetzt beide hinaufgehen.«

Als er mich aus der Türe zog, rannte meine Mutter auf uns zu. Miß Murdstone sagte: »Klara! Bist du denn ganz närrisch!« und trat dazwischen. Ich sah, wie sich meine Mutter die Ohren zuhielt, und hörte sie weinen.

Er führte mich in mein Zimmer, langsam und feierlich; ich weiß bestimmt, es machte ihm Freude, die Exekution so förmlich zu gestalten, – und als wir oben angekommen waren, klemmte er plötzlich meinen Kopf unter seinen Arm.

»Mr. Murdstone! Sir!« schrie ich auf. »O bitte, schlagen Sie mich nicht. Ich habe mir solche Mühe beim Lernen gegeben, Sir, aber ich kann es nicht aufsagen, wenn Sie und Miß Murdstone dabei sind. Ich kann es wirklich nicht!«

»Kannst du es wirklich nicht, David?« fragte er. »Wir wollens mal versuchen.«

Er hielt meinen Kopf fest wie in einem Schraubstock. Aber ich entwand mich doch noch, und es gelang mir, ihn einen Augenblick aufzuhalten. Nur einen Augenblick, denn gleich darauf versetzte er mir einen heftigen Schlag. In demselben Augenblick erhaschte ich seine Hand mit meinem Mund und biß sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zähnen, wenn ich daran denke.

Er schlug mich dann, als ob er mich totpeitschen wollte. Durch all den Lärm, den wir machten, hörte ich die andern die Treppe heraufrennen und aufschreien – ich hörte meine Mutter aufschreien – und Peggotty. Dann war er fort, und die Tür war von außen verschlossen. Und ich lag fieberheiß und zerrissen und wund auf dem Boden und raste in ohnmächtiger Wut.

Ich weiß mich gut zu erinnern, welch unnatürliche Stille im ganzen Hause herrschte, als ich wieder ruhig wurde. Ich kann mich gut entsinnen, als Schmerz und Leidenschaft sich legten, wie schlecht ich mir vorkam.

Ich saß lange Zeit lauschend da, aber es war kein Laut zu vernehmen Ich raffte mich vom Boden auf und sah mein Gesicht im Spiegel so verschwollen und entstellt, daß ich mich entsetzte. Die Striemen waren wund und hart, und ich mußte aufschreien, wenn ich mich rührte. Aber sie waren nichts gegen mein Schuldbewußtsein. Es lastete schwer auf meiner Brust, wie wenn ich der schlimmste Verbrecher gewesen wäre.

Es fing an zu dunkeln, und ich machte das Fenster zu, – ich hatte die ganze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und abwechselnd geweint, halb geschlafen oder gedankenlos hinausgesehen, – als sich der Schlüssel herumdrehte und Miß Murdstone mit Brot, Fleisch und Milch hereintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, setzte sie es auf den Tisch und starrte mich währenddessen ununterbrochen mit größter Festigkeit an, entfernte sich dann und schloß die Türe hinter sich zu.

Noch lange saß ich im Dunkeln da und grübelte, ob sonst noch jemand kommen werde. Als das für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furchtsam zu fragen, was jetzt wohl mit mir geschehen würde. War es ein Verbrechen, das ich begangen hatte? Würde man mich verhaften und ins Gefängnis stecken, mich am Ende gar hängen?!

Ich werde nie das Erwachen am nächsten Morgen vergessen: Im ersten Augenblick froh und heiter, war ich plötzlich durch die erwachende Erinnerung wie niedergeschmettert. Miß Murdstone erschien wieder, ehe ich mich erhob, sagte mir mit kurzen Worten, daß ich eine halbe Stunde, aber nicht länger, spazieren gehen dürfte, und verschwand. Sie ließ diesmal die Türe offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch machen könnte.

Ich tat es und jeden folgenden Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen können, wäre ich vor ihr auf die Kniee gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, aber ich bekam niemand zu Gesicht, außer Miß Murdstone. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin führte mich Miß Murdstone, und ich mußte wie ein junger Sträfling an der Tür stehen bleiben, während alle ihre Plätze einnahmen; und ehe sie sich erhoben, führte mich meine Kerkermeisterin mit großer Feierlichkeit wieder ins Gefängnis. Ich bemerkte, daß meine Mutter, am allerweitesten von mir entfernt, ihr Gesicht von mir abgewandt hielt, und daß Mr. Murdstones Hand mit einem großen leinenen Tuch verbunden war.

Wie entsetzlich lang mir diese fünf Tage wurden, kann ich nicht beschreiben. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorkommnissen im Hause lauschte, das Klingeln, das Öffnen und Schließen von Türen, das Murmeln von Stimmen, die Schritte auf den Treppen; das Lachen, Pfeifen und Singen draußen, das mir in meiner Einsamkeit und Verstoßenheit furchtbarer erschien, als alles andere, das ungewisse Schleichen der Stunden, besonders des Nachts, wenn ich in dem Glauben aufwachte, es sei schon Morgen, während die Familie noch nicht zu Bett gegangen war und ich noch die ganze lange Nacht vor mir hatte, – die quälenden Träume mit ihrem Alpdrücken, – die Wiederkehr von Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Jungen draußen auf dem Kirchhof spielten, und ich sie vom Hintergrund des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich wie ein Gefangener am Fenster zu zeigen, – das fremdartige Gefühl, daß ich mich nie sprechen hörte, – die flüchtigen Pausen schnell entschwindender Erleichterung, die mit dem Essen und Trinken kam und wieder ging, der Regen eines Abends mit seinem frischen Duft, wie er immer dichter und dichter wurde zwischen mir und der Kirche, bis er und die hereinbrechende Nacht mich in einer Finsternis von Furcht und Reue zu ersticken drohten, – alles das scheint Jahre statt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief hat es sich mir eingeprägt.

In der letzten Nacht meiner Haft wachte ich auf und hörte meinen Namen flüstern. Ich richtete mich im Bett auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und fragte:

»Bist dus, Peggotty?«

Es kam nicht sogleich eine Antwort. Aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schaurigen Ton, daß ich vor Schrecken wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre, hätte ich nicht plötzlich begriffen, daß er durch das Schlüsselloch kommen müsse.

Ich tappte mich zur Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:

»Bist dus, liebe Peggotty?«

»Ja, mein einziger lieber Davy. Sei so leise wie eine Maus, sonst hört uns die Katze.«

Ich verstand sogleich, daß Miß Murdstone gemeint war, und fühlte die Notwendigkeit der Vorsicht, denn ihr Zimmer stieß dicht an meines.

»Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie sehr böse auf mich?«

Ich konnte hören, daß Peggotty leise vor der Tür weinte, – wie ich, – ehe sie antworten konnte:

»Nein, nicht sehr.«

»Was wird mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du es?«

»Schule. Bei London,« war Peggottys Antwort. Sie mußte es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es das erstemal in meinen Hals hineingesprochen, weil ich vergaß, den Mund vom Schlüsselloch wegzunehmen und das Ohr daranzulegen. Ihre Worte kitzelten mich sehr, aber verstehen konnte ich sie nicht.

»Wann? Peggotty.«

»Morgen.«

»Hat deshalb Miß Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?«

»Ja,« sagte Peggotty. »Koffer.«

»Werde ich Mama nicht mehr wiedersehen?«

»Ja,« sagte Peggotty. »Morgen früh.« Dann legte sie ihre Lippen dicht an das Schloß und sprach die folgenden Worte so gefühlvoll und innig, wie sie wohl nie durch ein Schlüsselloch mitgeteilt worden sind, und stieß jeden Satz abgebrochen mit einem krampfhaften kleinen Ruck hervor:

»Lieber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herzlich – mit dir bin, wie früher, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr liebe, mein liebes Herzenspüppchen, – sondern bloß weil ich glaube, es ist besser für dich – und für jemand anders. Davy, mein Liebling, hörst du mich? Kannst du hören?«

»Ja–a–a–a, Peggotty,« schluchzte ich.

»Du mein Herzenskind,« flüsterte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur sagen, du darfst mich niemals vergessen. Auch ich will dich niemals vergessen. Und ich will deine Mama, Davy, so in acht nehmen, wie ich dich in acht genommen habe. Und ich werde sie nie verlassen. Der Tag wird noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf ihrer dummen, mürrischen, alten Peggotty wieder auf den Arm legen wird. Ich werde dir schreiben, mein Liebling. Wenn ich auch kein Gelehrter bin, und ich will – ich will –« Peggotty fing an, das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.

»Ich danke dir, meine liebe Peggotty,« sagte ich. »Ich danke, danke dir. Willst du mir nur eins versprechen, Peggotty? Wirst du Mr. Peggotty und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge und Ham sagen, daß ich nicht so schlecht bin, wie sie vielleicht denken, und daß ich sie alle von Herzen grüßen lasse, besonders die kleine Emly? Willst du so gut sein, Peggotty?«

Die gute Seele versprach mirs, und wir küßten beide das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit, – ich streichelte es mit der Hand, entsinne ich mich noch, als ob es ihr ehrliches Gesicht gewesen wäre, – und trennten uns. Seit dieser Nacht wuchs in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie ersetzte mir nicht meine Mutter, niemand hätte das können, aber sie füllte eine Leere in meinem Herzen aus, die sich über ihr schloß, und ich fühlte etwas für sie, was ich nie für ein anderes menschliches Wesen empfunden habe. Es mischte sich das Gefühl des Komischen wohl unter meine Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie ich den Schmerz ertragen hätte, wenn sie gestorben wäre.

Frühmorgens erschien Miß Murdstone wie gewöhnlich und sagte mir, daß ich in die Schule geschickt würde, was mich durchaus nicht so überraschte, wie sie wohl angenommen hatte. Sie sagte mir auch, daß ich hinunterkommen sollte in die Wohnstube zum Frühstück. Dort fand ich meine Mutter sehr blaß und mit roten Augen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tiefbewegter Seele um Verzeihung.

»O Davy!« sagte sie, »daß du jemand weh tun konntest, den ich liebe. Versuche dich zu bessern, bete darum, daß du besser werdest. Ich verzeihe dir, aber ich bin voll Kummer, Davy, daß du ein so böses Herz hast.«

Sie hatten ihr eingeredet, daß ich ein verworfenes Geschöpf wäre, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck.

 

Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die Tränen tröpfelten auf mein Butterbrot und in meinen Tee.

Ich sah, wie meine Mutter mich von Zeit zu Zeit anblickte und dann auf Miß Murdstone sah und die Augen niederschlug oder wegschaute.

»Ist Master Copperfields Koffer da?« fragte Miß Murdstone, als draußen der Wagen vorfuhr. Ich sah mich nach Peggotty um, aber weder sie noch Mr. Murdstone erschien. Mein alter Bekannter, der Fuhrmann, stand an der Tür, nahm den Koffer und hob ihn auf den Wagen.

»Klara!« sagte Miß Murdstone in warnendem Ton.

»Ich bin bereit, liebe Jane,« sagte meine Mutter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu deinem eignen Besten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Feiertagen nach Hause kommen und ein besserer Junge sein.«

»Klara!« wiederholte Miß Murdstone.

»Gewiß, meine liebe Jane,« antwortete meine Mutter und hielt meine Hand noch immer fest. »Ich verzeihe dir, mein lieber Junge. Gott segne dich!«

»Klara!« wiederholte Miß Murdstone. Sie hatte die Güte, mich zum Wagen zu führen und mir unterwegs zu sagen, sie hoffe, ich würde in mich gehen, ehe es ein schlimmes Ende mit mir nähme, und dann stieg ich in den Wagen, und das faule Pferd trottete mit mir davon.