David Copperfield

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Siebentes Kapitel

Die Schule fing am nächsten Morgen allen Ernstes an. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, wie der laute Lärm in der Klasse plötzlich zur Totenstille wurde, als Mr. Creakle nach dem Frühstück eintrat, in der Türe stehen blieb und sich umsah, wie der Riese im Märchenbuch, wenn er seine Gefangenen betrachtet.

Tongay stand dicht neben Mr. Creakle. Ich dachte mir, er hat doch gar keine Ursache, so grimmig »Ruhe« zu rufen. Alle Schüler saßen sowieso stumm und regungslos da.

Jetzt sah man Mr. Creakle sprechen, und Tongay wiederholte laut seine Worte.

»Also, ihr Jungen, es ist ein neues Semester angegangen. Nehmt euch in acht in diesem neuen Semester. Seid bei der Hand bei euern Aufgaben, rate ich euch, denn ich werde rasch bei der Hand mit den Strafen sein. Ich werde nicht nachgeben. Es wird euch nichts nützen, wenn ihr euch reibt. Ihr werdet die Striemen nicht wegreiben, die ich euch versetzen werde. Jetzt macht euch an die Arbeit, jeder einzelne.«

Als diese schreckliche Eingangsrede vorüber und Tongay wieder hinausgehumpelt war, kam Mr. Creakle an meine Bank und sagte mir, daß, wenn ich auch gut beißen könnte, er darin noch viel berühmter sei. Er zeigte mir dabei das spanische Rohr und fragte mich, was das wohl für ein Zahn wäre. »Ist es ein scharfer Zahn, he? Ist es ein Doppelzahn, he? Hat er eine gute Schneide, he? Beißt er, he? Beißt er wirklich?« Bei jeder dieser Fragen versetzte er mir einen Hieb, daß ich mich wand und bald in Salemhaus mündig gesprochen war, wie Steerforth es nannte, und auch sehr bald in Tränen schwamm.

Nicht etwa, daß diese Behandlung eine besondere Auszeichnung bedeutet hätte. Im Gegenteil. Bei der großen Mehrzahl der Knaben, besonders bei den Kleinen, machte sich Mr. Creakle auf dieselbe Art bemerkbar, wenn er die Runde im Zimmer machte.

Die halbe Klasse weinte und krümmte sich vor Schmerzen, ehe das Tagewerk begann. Wieviel Unglückliche noch dazu kamen, bevor die Stunde zu Ende ging, getraue ich mich gar nicht anzugeben, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden.

Ich glaube, es kann nie einen Menschen gegeben haben, den sein Beruf mehr freute, als Mr. Creakle. Seine Wonne, die Jungen schlagen zu können, kam der Befriedigung nagenden Hungers gleich. Ich bin fest überzeugt, da er sich pausbäckigen Jungen gegen über nicht halten konnte, daß darin für ihn etwas von starker Anziehungskraft lag und ihm keine Ruhe ließ, bis er nicht den Betreffenden für den Tag gezeichnet hatte. Ich war selbst pausbäckig und muß es wissen. Wenn ich jetzt an diesen Menschen denke, wallt mein Blut, und alles empört mich um so mehr, weil ich jetzt weiß, daß er noch dazu ein unfähiger Schuft war und kein größeres Recht auf den Vertrauensposten, den er bekleidete, hatte, als auf den Posten eines ersten Admirals oder eines Feldmarschalls. Nur hätte er dort wahrscheinlich weniger Unheil angerichtet.

Wie demütig wir elenden kleinen Hasenfüße gegen ihn, diesen erbarmungslosen Götzen, waren! In welchem Licht erscheint mir jetzt dieser Stapellauf ins Leben angesichts solcher Demut und Untertänigkeit vor einem Mann von solchem Unwert!

Hier sitze ich wieder in der Bank und beobachte sein Auge; – voll Unterwürfigkeit beobachte ich ihn, wie er ein Rechenbuch für ein anderes Opfer liniert, das mit dem Lineal eben eins auf die Hand bekommen hat und die Schwiele mit dem Taschentuch reibt. Ich hätte vollauf zu tun. Ich beobachte sein Auge jedoch nicht, weil ich müßig bin, sondern weil es mich unnatürlich anzieht, – mich mit dem schrecklichen Wunsch erfüllt, zu erraten, was er in der nächsten Minute tun wird. Ob er wohl über mich herfallen wird oder über einen andern?

Eine Reihe kleiner Jungen hinter mir beobachtet ihn mit demselben Interesse. Ich glaube, er weiß es und verstellt sich nur. Er schneidet furchtbare Grimassen, während er das Rechenbuch liniert. Und jetzt wirft er einen Seitenblick auf uns, und wir alle lassen den Blick auf die Bücher sinken und fangen an zu zittern. Einen Augenblick später starren wir ihn schon wieder an. Ein Unglücklicher, der seine Aufgabe schlecht gemacht hat, wird herausgerufen. Er stammelt Entschuldigungen und verspricht, es morgen besser zu machen. Mr. Creakle reißt einen Witz, ehe er ihn prügelt, und wir lachen darüber. Wir elenden, kleinen Hunde lachen darüber, mit aschfahlen Gesichtern und Herzen, die uns in die Hosen gefallen sind.

Hier sitze ich wieder in der Bank an einem schläfrigen Sommernachmittag. Ein Surren und Summen rings um mich her, als seien die Jungen lauter große Fliegen. Ein dumpfer Druck lastet nach dem lauen, fetten Mittagessen her auf mir, und mein Kopf ist so schwer wie Blei. Ich würde eine Welt darum geben, wenn ich schlafen dürfte. Mein Auge ist auf Mr. Creakle gerichtet, und ich blinzle ihn an wie eine junge Eule; der Schlaf überwältigt mich eine Minute, er verschwimmt vor meinen Augen, wie er die Rechenhefte liniert – – –; leise schleicht er sich hinter mich, und ich erwache mit einem roten Striemen auf dem Rücken wieder zu klarer Wahrnehmung.

Dann bin ich auf dem Spielplatz, wo mein Auge immer noch von ihm gebannt ist, obgleich ich ihn nicht sehen kann. Das Fenster nicht weit von dem Orte, wo er zu Mittag ißt, vertritt ihn, und ich beobachte es immer an seiner Statt. Wenn sein Gesicht dahinter erscheint, nimmt das meine einen flehentlichen und unterwürfigen Ausdruck an. Wenn er durch die Scheiben heruntersieht, bricht auch der Verwegenste – nur Steerforth ausgenommen – mitten in einem Ruf oder Schrei ab und wird nachdenklich. Einmal wirft Traddles, der größte Pechvogel von der Welt, zufällig das Fenster mit einem Ball ein. Noch jetzt überläuft es mich eiskalt, wie ich es geschehen sehe, und begreife, daß der Ball Mr. Creakles geheiligtes Haupt getroffen hat.

Armer Traddles! In seinem engen, himmelblauen Anzug, der seine Arme und Beine wie Würste oder Teigrollen erscheinen ließ, war er der Lustigste und zugleich Unglücklichste unter den Schülern. Er wurde immer mit dem spanischen Rohr gehauen, ich glaube, jeden Tag im ganzen Semester, mit Ausnahme eines Montags, wo er nur mit dem Lineal eines über beide Hände bekam. Und immer stand er im Begriff, deshalb an seinen Onkel zu schreiben, und immer unterließ er es wieder. Wenn er den Kopf eine Weile auf das Pult gelegt hatte, wurde er wieder lustig, fing an zu lachen und zeichnete auf seine Schiefertafel Gerippe, ehe noch seine Augen ganz trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Gerippe finden mochte, und sah in ihm eine Art Einsiedler, der sich durch solche Symbole der Sterblichkeit vor Augen halten will, daß auch Prügel nicht ewig dauern können. Aber jetzt glaube ich, er zeichnete sie nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu machen brauchte.

Traddles war sehr ehrenhaft und betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, einander beizustehen. Er hatte oft darunter zu leiden und besonders einmal, als Steerforth während des Gottesdienstes gelacht hatte, und der Kirchendiener glaubte, es wäre Traddles gewesen, und diesen hinausführte. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er von dem Diener gepackt hinausging, verabscheut von der ganzen Gemeinde. Er verriet nie den eigentlichen Täter, obgleich er den ganzen nächsten Tag dafür büßen mußte und solange eingesperrt war, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippen in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte.

Dann bekam er aber auch seinen Lohn. Steerforth nämlich sagte, in Traddles sei auch keine Spur von einem Mucker, und wir alle fühlten, daß das das höchste Lob bedeutete, das es geben konnte. Ich für meinen Teil hätte viel erdulden mögen, um solchen Lohn zu verdienen, obgleich ich lange nicht so tapfer war wie Traddles und nicht annähernd so alt.

Steerforth Arm in Arm mit Miß Creakle in die Kirche gehen zu sehen, war für mich ein überwältigender Anblick. Ich konnte Miß Creakle der kleinen Emly hinsichtlich Schönheit nicht an die Seite stellen, – ich liebte sie nicht – ich wagte es nicht –, aber sie erschien mir als eine junge Dame von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz. Wenn Steerforth in weißen Hosen ihr den Sonnenschirm trug, war ich stolz, ihn zu kennen, und glaubte, daß sie nicht anders könnte, als ihn von ganzem Herzen anzubeten. Mr. Sharp und Mr. Mell waren wohl in meinen Augen alle beide sehr beachtenswerte Persönlichkeiten, aber gegen Steerforth verbleichten sie wie Sterne gegenüber der Sonne.

Steerforth blieb mein Beschützer und erwies sich mir als ein sehr nützlicher Freund, da niemand einem Knaben, der in seiner Gunst stand, etwas zu tun wagte. Er konnte mich gegen Mr. Creakle nicht schützen, oder wenigstens tat er es nicht, aber wenn mich Mr. Creakle noch härter als gewöhnlich gestraft hatte, sagte er mir stets, es fehlte mir ein wenig von seinem Mute, und daß er an meiner Stelle es sich nicht hätte gefallen lassen. Damit wollte er mich trösten, und ich fand das sehr freundlich von ihm.

Einen einzigen Vorteil nur hatte Mr. Creakles Strenge: Das Plakat auf meinem Rücken war ihm im Wege, wenn er mir im Vorbeigehen eins versetzen wollte. Aus diesem Grunde wurde es entfernt, und ich sah es nie wieder.

Ein Zufall befestigte das vertrauliche Verhältnis zwischen Steerforth und mir in einer Weise, die mich mit Befriedigung und Stolz erfüllte, wenn es auch mancherlei Beschwerlichkeit mit sich brachte. Als er mir nämlich einmal die Ehre erwies, auf dem Spielplatz mit mir zu sprechen, geschah es, daß ich die Bemerkung wagte, irgend jemand oder etwas passe auf »Peregrine Pickle«. Er sagte nichts; aber als wir zu Bett gingen, fragte er mich, ob ich das Buch besäße. Ich sagte Nein und erzählte ihm, wieso ich es gelesen, und erwähnte auch die andern Bücher.

 

»Und erinnerst du dich noch auf alles?« fragte Steerforth.

»O ja,« gab ich zur Antwort. Ich hätte ein gutes Gedächtnis und glaubte, noch alles fast auswendig zu wissen.

»Ich will dir etwas sagen, kleiner Copperfield,« meinte Steerforth daraufhin, »Du kannst sie mir erzählen. Ich mag abends sowieso nicht so bald zu Bett gehen und wache gewöhnlich zu früh auf. Wir wollen sie alle nacheinander durchgehen. Wir werden regelmäßige arabische Nächte einführen.«

Ich fühlte mich außerordentlich geschmeichelt, und wir fingen noch am selben Abend an. Welche Sünden ich im Verlauf meiner Erzählungen an meinen Lieblingsdichtern beging, weiß ich nicht mehr, aber ich hatte einen unerschütterlichen Glauben an sie und eine einfache Art, zu erzählen, und damit kamen wir recht weit. Die Kehrseite der Medaille war nur, daß ich mich abends oft schläfrig oder verstimmt oder nicht aufgelegt fühlte, die Geschichte fortzusetzen, und dann kostete es ein schweres Stück Arbeit. Aber es mußte geschehen.

Steerforths Erwartung zu täuschen oder ihm die Freude zu verderben, ging natürlich nicht an. Auch früh, wenn ich gern noch eine Stunde geschlummert hätte, war es recht fad, wie die Sultanin Scheherazade aufgeweckt und zum Erzählen einer langen Geschichte gezwungen zu werden, ehe die große Schulglocke läutete. Aber Steerforth bestand darauf, und da er mir dafür bei meinen Rechenaufgaben und Aufsätzen half, wenn sie zu schwer waren, verlor ich nichts bei dem Geschäft. Ich muß gerecht sein, es bewegte mich kein selbstsüchtiges Motiv und auch nicht Furcht vor ihm. Ich bewunderte und liebte ihn; sein Beifall war mir genug.

Steerforth konnte auch fürsorglich für mich sein und bewies das bei einer Gelegenheit auf so halsstarrige Art, daß er dem armen Traddles und den übrigen damit Tantalusqualen bereitete. Peggottys versprochener kostbarer Brief kam an, ehe noch einige Wochen des Semesters verstrichen waren und mit ihm ein Kuchen in einem wahren Nest von Orangen und zwei Flaschen Obstwein dabei. Diese Schätze legte ich pflichtgemäß Steerforth zu Füßen und bat ihn, sie zu verteilen.

»Ich will dir was sagen, kleiner Copperfield,« meinte er. »Der Wein wird aufgehoben, um dir die Zunge anzufeuchten, wenn du Geschichten erzählst.«

Ich wurde rot und bat ihn bescheiden, doch nicht daran zu denken. Aber er meinte, ich würde manchmal etwas heiser und jeder Tropfen müsse für mich bleiben. Also schloß er den Wein in seinen Koffer und labte mich mit ihm vermittelst einer im Kork angebrachten Federspule, wenn ich seiner Meinung nach einer Erfrischung bedurfte. Zuweilen war er so gütig und preßte Pomeranzensaft hinein, um den Saft zu verbessern, rührte Ingwer hinein, oder löste ein Pfefferminzzeltchen darin auf. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß das Getränk dadurch wesentlich besser wurde oder abends vor dem Einschlafen und früh nüchtern genossen besonders magenstärkend gewesen wäre, trank ich es doch dankbar und war gerührt von Steerforths Aufmerksamkeit.

Wir hatten wohl wochenlang mit Peregrine Pickle und mehrere Monate mit den andern Geschichten zugebracht. Mangel an Stoff trat nie ein, und der Wein hielt fast so lange an, wie der Stoff. Der arme Traddles, ich kann nie an diesen Jungen denken, ohne Tränen in den Augen und zugleich eine komischen Neigung, zu lachen, wirkte gewöhnlich verstärkend wie ein Chor und tat bei den lustigen Stellen, als ob er sich vor Heiterkeit nicht lassen könnte und bei den beunruhigenden, als ob er ganz vor Angst verginge. Das brachte mich manchmal ganz aus der Fassung. Es machte ihm einen Hauptspaß, mit den Zähnen zu klappern, sobald in den Abenteuern des Gil Blas von Alguazil die Rede war, und ich erinnere mich, daß der arme, als Gil Blas dem Räuberhauptmann in Madrid begegnete, die Rolle des tötlich Entsetzten so lebhaft spielte, daß ihn Mr. Creakle, der auf den Gängen herumlauerte, hörte und wegen Störung im Schlafzimmer am andern Morgen ordentlich durchwichste. Was an Neigung zum Romantischen und Träumerischen in mir lag, wurde durch dieses Erzählen im Dunkeln sehr gestärkt, und in dieser Hinsicht mag es nicht besonders von Vorteil für mich gewesen sein. Aber das Gefühl, daß ich im Schlafsaal wie eine Art Spielzeug behandelt wurde, und das Bewußtsein, auch bei den andern Knaben meiner Fähigkeiten wegen ein gewisses Ansehen zu genießen, trotzdem ich der Jüngste war, munterte mich sehr auf.

In einer Schule, die von bloßer Grausamkeit beherrscht wird, wird nie viel gelernt, ob ihr jetzt ein Dummkopf vorsteht oder nicht. Ich glaube, unsere Schüler waren so unwissend wie nur möglich. Sie wurden viel zu sehr gepeinigt und herumgestoßen, um etwas lernen zu können. Es hatte für sie keinen Zweck, sich zu bemühen in einem Leben voll beständiger Qual und Mühsal. Aber meine bißchen Eitelkeit und Steerforths Hilfe trieben mich an und machten mich, wenn es mir auch keine Strafen ersparte, zu einer Ausnahme unter den übrigen, indem ich wenigstens einige Brosamen Kenntnisse auflas.

Mr. Mell, an den ich mit Dankbarkeit zurückdenke, legte stets eine gewisse Teilnahme für mich an den Tag und half mir darin sehr. Es schmerzte mich immer, daß Steerforth ihn mit Geringschätzung behandelte und selten eine Gelegenheit versäumte, ihn zu verletzen. Dies beunruhigte mich eine Zeitlang umsomehr, als ich Steerforth, dem ich ein Geheimnis ebensowenig vorenthalten konnte wie einen Kuchen oder sonst etwas Greifbares, von den beiden alten Frauen erzählt hatte, zu denen mich Mr. Mell mitgenommen. Immer fürchtete ich, Steerforth würde es verraten und ihn damit verhöhnen. Als ich an jenem Morgen mein Frühstück in dem Asyl gegessen und im Schatten der Pfauenfedern und bei dem Ton der Flöte eingeschlafen war, hätte wohl keiner der damals Anwesenden geahnt, welche Folgen der Besuch einer so unbedeutenden Person wie ich noch einmal haben würde.

Leider hatte er ganz unvorhergesehene Folgen und zwar in ihrer Art recht ernste. Eines Tages nämlich, als Mr. Creakle wegen Unpäßlichkeit das Zimmer hütete, was natürlich die lebhafteste Freude über die ganze Schule verbreitete, herrschte in der Morgenstunde viel Lärm. Alle benahmen sich so übermütig, daß kaum mit ihnen auszukommen war. Selbst als der gefürchtete Tongay mit seinem Holzbein zwei- oder dreimal hereingestelzt kam und die Namen der ärgsten Übeltäter aufschrieb, machte es keinen Eindruck. Alle wußten, sie würden morgen sowieso gestraft, mochten sie tun oder lassen, was sie wollten, und hielten es deshalb für das Gescheiteste, sich wenigstens der Gegenwart möglichst zu freuen. Es war eigentlich ein halber Feiertag, nämlich Samstag, aber da der Lärm auf dem Spielplatz Mr. Creakle möglicherweise hätte stören können und das Wetter zum Ausgehen nicht günstig schien, mußten wir nachmittags bei einigen leichteren Aufgaben in der Klasse bleiben. Es war der Tag der Woche, an dem Mr. Sharp sich die Perücke kräuseln ließ, und daher fiel auf Mr. Mell das Amt, Schule zu halten. Wenn ich die Vorstellung von einem Stier oder einem Bären mit einer so sanften Person wie Mr. Mell überhaupt in Verbindung bringen könnte, so an diesem Nachmittag, als das Lärmen seine höchste Spitze erreichte, nur unter dem Bilde eines dieser Tiere, wenn es von tausend Hunden angefallen wird. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Kopf auf seine knochige Hand stützt und, über das Buch auf seinem Pult geneigt, sich vergeblich bemüht, mitten unter einem Lärm, der den Sprecher des Unterhauses schwindlig gemacht haben würde, seine anstrengende Arbeit fortzusetzen. Die Jungen haschten sich zwischen den Bänken, sie lachten, sangen, tanzten, heulten, scharrten mit den Füßen, andre sprangen um Mr. Mell herum, grunzten, schnitten Gesichter, äfften ihn nach – hinter dem Rücken und vor seinen Augen –, verspotteten seine Armut, seine Stiefel, seinen Rock, seine Mutter, kurz alles, was ihm gehörte und was sie hätten achten sollen.

»Ruhe!« schrie Mr. Mell, plötzlich aufspringend und mit dem Buch auf das Pult schlagend. »Was soll das heißen. Es ist nicht auszuhalten. Es ist zum Verrücktwerden. Wie könnt ihr mir das tun, Jungen!«

Er schlug mit meinem Buch auf das Pult, und wie ich so neben ihm stehend seinem Auge, das im Zimmer herumschweifte, folgte, sah ich, wie sie alle schwiegen; einige aus plötzlicher Überraschung, manche halb aus Angst, manche vielleicht aus Reue.

Steerforths Platz war am untern Ende der Schulstube. Er hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen, und sah Mr. Mell an, die Lippen zum Pfeifen gespitzt.

»Ruhe, Mr. Steerforth,« sagte Mr. Mell.

»Selbst Ruhe,« sagte Steerforth und wurde rot. »Mit wem sprechen Sie eigentlich?«

»Setzen Sie sich,« sagte Mr. Mell.

»Setzen Sie sich selber,« sagte Steerforth, »und kümmern Sie sich um Ihre Sachen.«

Man hörte ein Kichern und einige Beifallsrufe. Aber Mr. Mell war so bleich, daß es fast augenblicklich wieder still wurde, und ein Junge, der hinter ihn gesprungen war, um wieder Mr. Mells Mutter nachzuäffen, besann sich anders und gab vor, er möchte eine Feder geschnitten haben.

»Wenn Sie vielleicht glauben, Steerforth,« sagte Mell, »es wäre mir nicht bekannt, welche Macht Sie hier über jedes Gemüt ausüben können, –« er legte seine Hand, vielleicht ohne zu wissen, was er tat, auf meinen Kopf – »oder ich hätte nicht bemerkt, wie Sie vor wenigen Minuten Ihre jüngern Mitschüler in jeder Weise aufreizten, mich zu beschimpfen, so irren Sie sich.«

»Ich gebe mir überhaupt nicht Mühe, an Sie zu denken,« sagte Steerforth kaltblütig, »also irre ich mich zufällig gar nicht.«

»Und wenn Sie Ihre Stellung als Günstling hier mißbrauchen, Sir,« fuhr Mr. Mell mit bebenden Lippen fort, »um einen anständigen Menschen zu beleidigen.«

»Einen, was? – Wo ist er?« fragte Steerforth.

Hier rief jemand: »Pfui Steerforth, das ist gemein.«

Es war Traddles, den Mr. Mell augenblicklich zurechtwies, indem er ihm befahl, den Mund zu halten.

»– – jemand zu beleidigen, der nicht glücklich im Leben ist und Ihnen nie das geringste getan hat, und zugleich die vielen Gründe kennen, die Sie veranlassen sollten, es nicht zu tun, Gründe, die zu kennen Sie alt und klug genug sind,« sagte Mr. Mell, und seine Lippen zitterten immer mehr, »so begehen Sie damit eine niedrige und gemeine Handlung. Sie können sich jetzt setzen oder stehen bleiben, wie Sie wollen. Weiter, Copperfield.«

»Kleiner Copperfield,« sagte Steerforth und kam ans Pult, »warte einen Augenblick. Ich will Ihnen was sagen, Mr. Mell, ein für allemal. Wenn Sie sich die Freiheit nehmen, mich niedrig oder gemein zu nennen oder einen ähnlichen Ausdruck zu gebrauchen, so sind Sie ein unverschämter Bettler. Sie sind überhaupt ein Bettler, das wissen Sie ja. Aber wenn Sie das tun, so sind Sie ein unverschämter Bettler.«

Ich war mir nicht klar, ob er nach Mr. Mell oder Mr. Mell nach ihm schlagen wollte, oder ob auf einer der beiden Seiten überhaupt eine solche Absicht vorhanden war. Ich sah die ganze Klasse wie versteinert dasitzen und Mr. Creakle plötzlich in unserer Mitte erscheinen und Tongay neben ihm und an der Tür Mrs. und Miß Creakle mit scheuen und erschrocknen Gesichtern. Mr. Mell, die Ellbogen auf das Pult und das Gesicht in die Hände gelegt, saß einige Augenblicke regungslos da.

»Mr. Mell!« sagte Mr. Creakle, den Schullehrer am Arme fassend und schüttelnd, und sein Flüstern war diesmal so laut, daß Tongay die Worte nicht zu wiederholen brauchte. »Sie haben sich doch nicht etwa vergessen?«

»Nein, Sir, nein,« erwiderte der Lehrer, wieder sein Gesicht zeigend und sich die Hände reibend. Er schüttelte in großer Aufregung den Kopf. »Nein, Sir, nein. Ich habe mich nicht vergessen. Ich – nein, Mr. Creakle, ich habe mich nicht vergessen. Ich – ich – ich – wünschte, Sie hätten etwas früher an mich gedacht, Mr. Creakle. Es – Es – wäre gütiger gewesen und gerechter, Sir. Es hätte mir etwas erspart, Sir.«

Mr. Creakle sah streng auf Mr. Mell, legte seine Hand auf Tongays Schulter, stieg auf eine Bank und setzte sich auf das Pult. Nachdem er von diesem Throne noch eine Weile Mr. Mell, der noch immer in größter Aufregung den Kopf schüttelte und sich die Hände rieb, streng angesehen hatte, wandte er sich zu Steerforth und sagte:

»Nun, Sir, da er sich nicht herabläßt, es mir zu sagen, was ist also?«

Steerforth wich der Frage eine Weile aus; er sah seinen Gegner mit zornigem und wildem Gesicht an und blieb stumm. Selbst damals konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie nobel sein Aussehen war und wie gewöhnlich und dürftig sich Mr. Mell gegen ihn ausnahm.

»Was hat er eigentlich gemeint, als er von Günstlingen sprach?« sagte Steerforth endlich.

»Günstlinge?« wiederholte Mr. Creakle, und die Adern auf seiner Stirne schwollen plötzlich an. »Wer hat von Günstlingen gesprochen?«

 

»Er,« sagte Steerforth.

»Bitte, was haben Sie damit gemeint, Sir?« fragte Mr. Creakle und wandte sich voll Zorn an seinen Unterlehrer.

»Ich meinte, was ich sagte, Mr. Creakle,« erwiderte der Gefragte ruhig. »Daß kein Schüler das Recht hat, seine Günstlingsstellung zu benützen, um mich zu erniedrigen?«

»Sie zu erniedrigen? Ausgezeichnet. Aber Sie werden mir gestatten, zu fragen, Mr. Dingsda,« und Mr. Creakle verschränkte seine Arme mit dem Rohrstock auf der Brust und zog seine Brauen so zusammen, daß seine Augen fast verschwanden, – »ob Sie, als Sie von Günstlingen sprachen, mir damit die gehörige Achtung bezeigt haben. Mir, Sir,« fragte Mr. Creakle und schnellte plötzlich mit dem Kopf gegen Mr. Mell vor und zog ihn wieder zurück. »Mir, dem Prinzipal dieser Anstalt und ihrem Brotherrn!?«

»Ich gebe gern zu, daß es unüberlegt war,« sagte Mr. Mell, »ich würde es nicht getan haben, wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre.«

Hier fiel Steerforth ein:

»Und dann sagte er, ich wäre niedrig und gemein, und dann habe ich ihn einen Bettler genannt. Wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht keinen Bettler genannt. Aber ich tat es und nehme die Folgen auf mich.«

Ohne wahrscheinlich zu überlegen, ob ihn überhaupt Folgen treffen könnten, erglühte ich förmlich bei dieser mutigen Rede. Sie machte auch auf die Jungen Eindruck, und es entstand eine leise Unruhe unter ihnen, wenn auch keiner ein Wort sprach.

»Ich bin erstaunt, Steerforth, obgleich Ihre Aufrichtigkeit Ihnen Ehre macht,« sagte Mr. Creakle. »Ja, gewiß, Ihnen Ehre macht, – ich bin erstaunt, Steerforth, muß ich schon sagen, daß Sie solch eine Bezeichnung für eine Person brauchten, die in Salemhaus angestellt ist und bezahlt wird, Sir.«

Steerforth lachte kurz auf.

»Das ist keine Antwort, Sir,« sagte Mr. Creakle, »auf meine Bemerkung. Ich erwarte mehr von Ihnen, Steerforth.«

Wenn Mr. Mell in meinen Augen gegenüber dem hübschen Knaben schon abstach, wäre es ganz un möglich gewesen, zu sagen, was Mr. Creakle für einen Eindruck machte.

»Er soll es ableugnen,« sagte Steerforth.

»Ableugnen, daß er ein Bettler ist, Steerforth? Aber wo bettelt er denn?«

»Wenn er nicht selbst ein Bettler ist, so ist es seine nächste Verwandte,« sagte Steerforth. »Das kommt doch auf dasselbe heraus.«

Er sah mich an, und Mr. Mells Hand klopfte mir sanft auf die Schulter. Ich blickte auf, Schamröte im Gesicht und Reue im Herzen. Aber Mr. Mells Augen ruhten auf Steerforth. Er fuhr fort, mich freundlich auf die Schulter zu klopfen, aber er blickte Steerforth an.

»Da Sie eine Rechtfertigung von mir verlangen, Mr. Creakle,« sagte Steerforth »und ich sagen soll, was ich meine, so sage ich, daß seine Mutter von Almosen in einem Armenhaus lebt.«

Immer noch sah ihn Mr. Mell an und klopfte mir immer noch freundlich auf die Schulter. Leise sagte er dann vor sich hin: »Ja, das habe ich mir gedacht.«

Mr. Creakle wandte sich an den Unterlehrer mit strengem Stirnrunzeln und erkünstelter Höflichkeit.

»Nun, Sie hören, was dieser Herr sagt, Mr. Mell. Haben Sie die Güte, seine Aussage vor der ganzen Schule gefälligst zu berichtigen.«

»Er hat vollständig Recht, Sir,« antwortete Mr. Mell inmitten der tiefsten Stille. »Was er gesagt hat, ist wahr.«

»Wollen Sie dann so gut sein und öffentlich erklären,« sagte Mr. Creakle, legte den Kopf auf die Seite und rollte mit den Augen, »ob ich bis zu diesem Augenblick etwas davon in Erfahrung gebracht habe.«

»Ich glaube nicht direkt,« erwiderte Mr. Mell.

»Sie wissen, daß es nicht der Fall war,« sagte Mr. Creakle. »Oder wissen Sie es nicht, Mensch?«

»Ich nehme an, daß Sie wohl niemals meine Verhältnisse für sehr gut gehalten haben,« antwortete der Unterlehrer. »Sie wissen doch, wie meine Lage hier ist und immer war.«

»Ich nehme an,« sagte Mr. Creakle und seine Adern wurden noch dicker, »daß Sie wohl überhaupt in einer falschen Stellung hier gewesen sind und diese Anstalt vermutlich für eine Armenschule gehalten haben. Mr. Mell, wir werden uns trennen und je eher, desto besser.«

»Es ist keine Zeit besser als die gegenwärtige,« erwiderte Mr. Mell und stand auf.

»Für Sie, ja,« sagte Mr. Creakle.

»Ich nehme Abschied von Ihnen, Mr. Creakle und von euch allen,« sagte Mr. Mell, sah sich im Zimmer um und klopfte mir wieder sanft auf die Schulter.

»James Steerforth, der beste Wunsch, den ich Ihnen hinterlassen kann, ist, daß Sie sich eines Tags schämen mögen über das, was Sie heute getan haben. Heute möchte ich in Ihnen lieber alles andere sehen als einen Freund oder sonst jemand, für den ich ein Interesse fühle.«

Noch einmal legte er die Hand auf meine Schulter, dann nahm er seine Flöte und ein paar Bücher aus dem Pult, ließ den Schlüssel stecken für seinen Nachfolger und verließ die Klasse, seinen ganzen Besitz unter dem Arm.

Mr. Creakle hielt dann noch unter Tongays Assistenz eine Rede, in der er Steerforth dankte, daß er, wenn auch vielleicht ein wenig zu warm, das Ansehen von Salemhaus und seine Unabhängigkeit verteidigt hatte.. Er wand sich durch bis zu dem Punkte, wo er Steerforth die Hand schüttelte, während wir dreimal Hoch riefen, ich weiß nicht mehr für wen, aber ich glaube für Steerforth. Wenigstens rief ich mit, obwohl ich sehr niederschlagen war. Dann wichste Mr. Creakle den kleinen Tommy Traddles durch, weil er über Mr. Mells Fortgehen geweint hatte, statt in das Hoch einzustimmen, und kehrte wieder zu seinem Sofa oder seinem Bett, oder wo er sonst hergekommen, zurück.

Wir waren uns jetzt selbst überlassen und sahen einander ratlos an. Ich empfand so viel Gewissensbisse und Reue über das Geschehene, daß nur die Furcht, Steerforth, der mich oft ansah, möchte es für unfreundschaftlich oder, besser gesagt, für pflichtwidrig halten, wenn ich weinte, meine Tränen zurückhielt. Er war sehr böse auf Traddles und sagte, es freue ihn, daß er es gekriegt habe.

Der arme Traddles, der schon wieder über das Stadium hinaus war, wo er den Kopf auf das Pult zu legen pflegte und seinem Verdruß wieder mit einem Haufen Gerippen Luft machte, sagte, es sei ihm ganz wurst, aber Mr. Mell sei Unrecht geschehen.

»Wer hat ihm Unrecht getan, du Mädchen?« fragte Steerforth.

»Wer denn sonst als du.«

»Was hab ich denn getan?« fragte Steerforth.

»Was du getan hast,« gab Traddles zur Antwort. »Du hast seine Gefühle verletzt und ihn um seine Stelle gebracht.«

»Seine Gefühle,« wiederholte Steerforth verächtlich. »Seine Gefühle werden sich schon wieder erholen, drauf will ich wetten. Seine Gefühle sind nicht wie deine, Fräulein Traddles. Und was seine Stelle betrifft, – die so glänzend war, was? – so werde ich doch natürlich nach Hause schreiben und dafür sorgen, daß er Geld bekommt, Polly.«

Uns kam dieser Vorsatz Steerforths, dessen Mutter, eine reiche Witwe, – ihm in allem nachgab, sehr hochherzig vor. Wir freuten uns alle, daß Traddles beschämt war, und hoben Steerforth in den Himmel, besonders, als er uns gnädigst erklärte, daß er alles nur unsertwegen getan und uns durch sein selbstloses Benehmen einen Riesendienst erwiesen hätte.

Aber ich muß gestehen, als ich abends im Dunkeln eine Geschichte erzählte, schien mir Mr. Mells Flöte mehr als einmal traurig in den Ohren zu klingen und als endlich Steerforth schlief und ich in meinem Bette lag, machte mich der Gedanke, die Flöte werde jetzt wo anders gespielt, ganz elend.