Vagos, Mongols und Outlaws

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Blitzschnell drehte ich mich herum und sah, wie einer der Gäste sich auf Terrible gestürzt hatte und ihm von hinten die Kehle mit beiden Händen zudrückte. Mit einem gezielten Schlag setzte ich den Mann außer Gefecht. Benommen schlug er auf den Boden auf, stolperte beim Aufstehen, holte tief Luft und rannte auf mich zu. Ich beschränkte mich auf Fair Play und wollte hier keine miesen Tricks abziehen, da ich wusste, dass mich zahlreiche Augenpaare beobachteten und meine Kampfkraft und Loyalität einschätzten. Nach einigen Runden im imaginären Boxring schlug eine unsichtbare Glocke, und der Kampf wurde beendet. Mein Handrücken war rot angeschwollen und glänzte vom Schweiß. Blut tropfte aus der zugeschwollenen Augenhöhlen des Gegners, der geschlagen in seine Ecke kroch. Einige Sekunden lang hörte ich nur noch schweres, bemühtes Atmen. Dann – ähnlich einer wilden Flucht – rannten die Vollmitglieder durch die Eingangstür, um draußen weiterzukämpfen.

Terrible klopfte mir auf die Schulter. Er wirkte erleichtert. Er schnippte mit den Fingern in Richtung Bar: „Ein Bier für den Abhänger.“ So einfach war das. Nur durch diese eine Aktion stieg ich einen Rang in der Hackordnung auf, stand jetzt also über Frauen und Hunden. Ähnlich der Mafia hatten die Vagos und andere Outlaw-Biker einen Kreis von kriminellen Mitläufern, die man je nach Rang als „Prospects“ oder „Abhänger“ bezeichnete. Es waren Typen, bereit dazu, der Gang die Drecksarbeit abzunehmen. Unter dem Schutzmantel des Clubs konnten sie später ihre kriminellen Unternehmungen durchziehen. Terrible ernannte mich also zu seinem offiziellen Chauffeur, dankbar dafür, dass ich einen Wagen besaß und nicht das Statussymbol eines jeden Bikers – eine Maschine.


Einige Tage später reservierten die Vagos eine Bar mitten im Nirgendwo, um ihre nächste Aktion zu bequatschen. Der Ort unterlag von Seiten der Mitglieder allerhöchster Geheimhaltung, um den Cops das Leben so schwer wie möglich zu machen, doch dabei handelte es sich eher um eine Art zusätzlichen Kick, den sie sich davon versprachen, denn am Ende wussten die Überwachungsteams der Polizei immer, wo sich die Gang traf. Für die Beamten stellte es eine besondere Herausforderung dar, möglichst viel Videomaterial zu sammeln, Schnappschüsse zu machen und wichtige Informationen mitzuschneiden. Als wir die Bar erreichten, ein zerfallendes Gebäude, das sich vor dem Hintergrund einer schwarzen, konturlosen Landschaft abzeichnete, schnappten sich die Biker Stühle und Hocker und starrten sich in dem kargen, unfreundlichen Raum mit glasigen, leblosen Augen an. Niemand trank einen Schluck Hochprozentiges. Es war gut möglich, dass sich die Cops irgendwo auf der langen Drecksstraße in einer sandigen Niederung versteckt hielten und nur darauf warteten, einen Biker später wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss festzunehmen.

Eine allgemeine Paranoia vergiftete die Atmosphäre – und Langeweile. Diese Kombination war gefährlich, führte zu Rücksichtslosigkeit und Gewalt. Das Ziel: Frauen! Ich sah sie in der Dunkelheit, ähnlich erlöschenden Kerzenflammen, einige teilweise nackt, andere mit Kleidungstücken, die man eigentlich nicht als solche bezeichnen konnte. Ohne den geringsten Respekt, von Anstand ganz zu schweigen, wurden sie von den Bikern betatscht, die sie in den Arsch kniffen oder eine Brustwarze zwirbelten. Sie bedienten sich der Frauen, als wären es Snacks auf einem Tisch. In einer Ecke standen die Vagos in einer Schlange breitbeinig vor einem Billardtisch, auf dem ein namenloser Körper lag. Ich sah Beine, die hilflos in der Luft strampelten – wie weißes Fleisch. Verdammt, ich steckte in der Klemme! Es war eine Sache, einem Angreifer die Luft aus den Lungen zu prügeln, denn man wusste, dass es ihm zwar danach einige Tage schlecht ging, er Blessuren davontrug, sich dann aber wieder erholte. Doch eine brutale Vergewaltigung zu sehen oder – was noch viel schlimmer war – dabei mitmachen zu müssen, das hatte eine völlig andere Dimension! Als die Auktion um den heißesten Körper begann, verzog ich mich schnell aufs Klo.

Der ätzende Gestank der Urinale brachte mich zum Würgen. Die mit Scheiße und Graffiti beschmierten vier Wände boten im Moment Schutz. Ich klatschte mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, mit dem mulmigen Gefühl, mir hier angesichts all der Bakterien eventuell noch eine hinterhältige Krankheit einzufangen. Mein Gesicht im Spiegel wirkte verzerrt, unwirklich, und ich erkannte dunkle Augenringe. Der emotionale Stress, in die Rolle eines anderen Menschen zu schlüpfen und diesen zu spielen, forderte seinen Tribut. Ich war kein Monster, kein Psychopath, ähnelte nicht den Vagos, denen ich vorgaukelte, sie so sehr zu schätzen. Hinter der Maske der Besonnenheit explodierte ich innerlich. Konnte ich das durchziehen? Ein „echtes“ Mitglied einer Outlaw-Biker-Gang werden? Ohne Waffe, ganz auf mich allein gestellt, ohne eine einzige Sekunde der Ruhe und Entspannung, blieb mir nur der tiefsitzende Überlebensinstinkt, auf den ich mich verlassen konnte. Ich musste mich auf die älteste Intuition der Menschheit verlassen und darauf hoffen, den richtigen Weg einzuschlagen.

Würde das aber ausreichen?

Mit Sicherheit unterzögen sie mich einem Test. Ein Kampf? Drogen? Eine Vergewaltigung? Eine Straftat? Vielleicht sogar ein Mord für den Club!? Als ich zum Tisch zurückkehrte, konzentrierten sich die Vagos auf eine Spezialität, für die man bei den Hells Angels den Aufnäher „Red Wings“ verliehen bekam – Cunnilingus mit einer menstruierenden Frau. Umgeben von ehemaligen Marines des Victor-Valley- und Victorville-Chapters suchten sich zwei Vagos ihr Opfer aus. Rhino, der für die Waffen des Clubs zuständig war, ein wahrer Panzer von einem Mann, dessen Oberarme fast jedes Hemd zum Platzen brachten und der riesige Ohrpiercings trug, sowie Twist, sein Speichellecker, ein emotionsloser Psychopath, übernahmen den Job. Eine Blondine, ein Groupie des Clubs, stellte sich freiwillig als Belohnung für die Biker, als spezieller „Preis“, zur Verfügung. Wahrscheinlich hoffte sie auf einen besseren Status, vielleicht darauf, der „Besitz“ oder die „alte Dame“ eines Vollmitglieds zu werden.

Sie strahlte eine verruchte Schönheit aus. Ich hatte sie schon früher gesehen. Sie lehnte gegen eine Wand und wurde nacheinander von drei Vagos rangenommen. Mit geschlossenen Augen und versteinertem Gesichtsausdruck ließ sie die Erniedrigung protestlos über sich ergehen. Ohne auf herumstehende geifernde Zuschauer zu achten oder die Umgebung wahrzunehmen, fickten die Biker sie wie Tiere. Sie grunzten, verdeckten das Gesicht der Frau mit ihren großen Pranken, kamen und drehten sich dann weg, als hätten sie gerade gepisst. Das zerzauste blonde Haar fiel ihr über die Schultern.

Das „Red Wings“-Ritual wurde streng nach Protokoll durchgezogen, was bedeutete, dass mindestens zwei Vollmitglieder dabei sein mussten. Rhino und Lizard meldeten sich freiwillig, und ich trottete ihnen als Zeuge hinterher, nicht weil ich sehen wollte, wie drei Männer den Kopf einer Frau auf die Klobrille schlagen und ihr die Beine spreizen – allein ihre Sicherheit, für die ich mich verantwortlich fühlte, lag mir am Herzen. Das Mädchen, das ausgewählt wurde, war dünn und sehr blass. Ich hatte den Eindruck, dass der leiseste Windhauch sie umwerfen könnte. Twist zog sie auf das Frauenklo, ein stinkendes Loch mit zwei verdreckten Toiletten. Unter den Wasserrohren hatten sich lange Roststreifen gebildet. Die Kloschüsseln waren von festgebackenem Urin und trockenen Fäkalien bedeckt.

Es stank nach Fäulnis und abgestandenem Wasser. Twist befahl der Frau, sich die Hose runterzuziehen. Lizard, 55 Jahre alt und drogenabhängig, wirkte, als schwebe er immer noch auf einem schlechten LSD-Trip. Er schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich wartete in der beklemmenden Dunkelheit auf spöttische Bemerkungen, Schreie oder lautes Knallen, doch ich hörte rein gar nichts. Der Raum schien jedes Geräusch zu verschlucken, den kleinsten Laut zu einem düsteren, unvorstellbar schrecklichen Ort umzuleiten. Als sie einige Minuten später wieder vom Klo kamen, spuckte Twist einige Male auf sein Stirnband und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Lizard und Rhino klopften ihm anerkennend auf den Rücken. Mit einem Quietschen schloss sich die Klotür. Ich blinzelte hinein und sah auf dem Boden einen zusammengerollten Schatten, hörte ein leises Schluchzen.

Lizard lauerte im Schatten, beobachtete und prüfte mich. Würde ich etwas Ungewöhnliches unternehmen, mich wie ein Mensch mit einem Gewissen verhalten? Doch ich blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete die Frau, die sich vom Boden hochquälte, der mit Glassplittern übersät war. Scherben von Bierflaschen glitzerten in der Kloschüssel wie dunkles Eis. Die Frau kroch zu der Tür, wo ich stand. Ihre Jeans hingen in Höhe der Füße, das zerrissene Höschen war voller Blutflecken. Ich presste mich gegen die Wand, unterdrückte den Drang zu helfen, denn jedes Mitgefühl, jegliche menschliche Regung hätte meine Tarnung auffliegen lassen.

1 Pseudonym.

2 Strafverfolgungsbehörde bei Drogendelikten.

3 Der Ausdruck „One Percenter“ entwickelte sich zu einem stehenden Begriff, der sich mittlerweile auf allen Kutten der OMG (Outlaw-Motorcycle-Gangs)-Mitglieder findet.


Die Vagos brauchten Schlägereien wie andere einen Drogen-Fix. Es war egal, wem es an den Kragen ging oder ob überhaupt ein Sinn dahintersteckte – das Spiel des Gewinnens oder Verlierens verschaffte den Bikern eine Art Erleichterung. Meine Nächte verwandelten sich in einen undurchdringlichen Nebel aus Faustschlägen und Nackenhebeln. Mein Gesicht schlug so lange auf dem Betonboden auf, bis die Zähne die Wangeninnenseiten blutig aufrissen. Meine Augen waren geschwollen, so dass ich nur noch durch schmale Schlitze blinzeln konnte, und meine Stiefel hinterließen blutige Abdrücke auf den Fliesen. Die Polizei schritt niemals ein, da kein Opfer sie je verständigte. Zwischen all dem Grunzen, dem Krach und den hysterischen Schreien tat ich mein Bestens und schlug zu – immer und immer wieder, bis die Gewalt mich nicht mehr juckte, zur Gewohnheit wurde. Ich erwartete sie förmlich. Schlag. Ducken. Schlag. Wegducken. Mein Leben bestand nur aus dem blitzartigen Auflodern der Brutalität vor einer tiefen Finsternis. Die Angst, die ich mal gehabt hatte, schwand mit jedem Zweikampf mehr. Auch wenn ein stechender Schmerz meine rechte Schulter durchzuckte oder mein Kopf dröhnte, machte mir das nichts mehr aus.

 

Meine Haltung blieb den Bikern nicht verborgen, und so lud mich Terrible zur Feier des achten Gründungstags des Victor-Valley-Chapters ein. Sie fand im Screaming Chicken Saloon in Devore statt, einem Gebiet des San Bernardino County, auf das der Sheriff keinen Zugriff hatte und das zwischen zwei Freeways an der Route 66 lag. Der Saloon, eine umgebaute Tankstelle aus den Vierzigern, schenkte nur Bier und Wein aus, keine harten Alkoholika. Innen drin war es verdammt staubig. Die Barkeeper sahen ziemlich abgerissen aus, wie Fossilien aus einer längst vergangenen Ära, die mal dringend ein gründliches Bad nötig gehabt hätten. Dollarscheine flatterten an der Wand. Ein großes Motorradschutzblech hing ebenfalls dort, gleich neben den grellen Neonröhren, die ein „V“ bildeten. Mehr als 200 Vagos hatten sich in den Laden gequetscht und vermischten sich mit den Mitgliedern anderer Chapter oder von Clubs, die sie unterstützten. Der Tresen war so lang, dass er bis in einen überdachten Außenbereich hineinragte, in dem man mit Hufeisen Wurfübungen machen konnte. Um mich herum sah ich das metallische Glitzern von Waffen und Stahlketten. Pinkfarbene Flyer, die für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zur Unterstützung einer Kampagne gegen Brustkrebs warben, lagen auf dem Boden und klebten an den Stiefeln der Männer. Die Frauen stolzierten in Bikinis durch den Laden.

Einige Vagos trugen noch ihre Helme, die an die Nazi-Sturmtruppen des Zweiten Weltkriegs erinnerten. Vor der Bar standen Bikes aneinandergereiht – meist in Schwarz, Bronze, Silber, Rot oder Blau –, deren Lenker mit Walküre-ähnlichen Metallschwingen verziert waren. Das Leben der Onepercenter drehte sich vornehmlich um Motorräder und das Ausschlachten alter Maschinen bzw. den Diebstahl von Ersatzteilen. Terrible drängte sich zwischen den Leuten hindurch und kam auf mich zu, in der Hand ein großes Glas mit kühlem Bier. Er wirkte heute besonders aufgeregt, denn die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Er sprach davon, es Drogendealern heimzuzahlen, die Stoff mit gefälschten Banknoten gekauft hatten, von einer Jagd auf Menschen, die er anleiere, da sie den Vagos Kohle schuldeten, von Anschlägen, die er verüben wolle, und Gesichtern und Augenhöhlen, die er in blutigen Brei zu verwandeln gedachte. Von ihm unbemerkt steuerte ich den Rekorder aus.

Terrible machte mich verdammt nervös. Es war nicht nur seine dämonenhafte Erscheinung, sondern seine Unberechenbarkeit. Er prügelte sich, ohne provoziert worden zu sein, verlor beim Erzählen den roten Faden und beendete Gespräche mitten im Satz. Wenn er unter Stress stand, schlug er auf imaginäre „Schattenmenschen“ ein. Doch er war für mich auch der ideale Türöffner, um an Schlüsselfiguren wie Twist vom Victor-Valley-Chapter oder Rhino vom Victorville-Chapter heranzukommen. Die beiden tauchten just in diesem Moment im dunklen Eingang des Screaming Chicken auf und trugen Tüten voll mit weißem Pulver. In den vorderen Taschen der Kutten steckten kleinkalibrige Pistolen. Ich prägte mir die tätowierten, muskulösen Arme ein und die überdimensionalen Piercings in Rhinos Ohrläppchen. Die beiden durchdrangen mich beim Näherkommen mit ihrem ausdruckslosen Starren. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie eine schwere Kindheit hinter sich hatten, in ihren frühen Jahren emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt waren und sich mit den ständigen Gewaltdarstellungen im Fernsehen konfrontiert sahen, während ihre Eltern aus der Arbeiterschicht einen beständigen Kampf führten, damit genügend Essen auf dem Tisch stand. Ich kannte sie gut, Menschen, die so drauf waren wie diese beiden. Gespräche führten da zu nichts. Niemand stellte sich gegen von ihnen gefällte Entscheidungen. Es war ja auch egal. Widerworte hätten sie wahrscheinlich nur zu einem Schlag in die Fresse provoziert. Und mal davon abgesehen, bestand mein Job darin zu beobachten, Gespräche aufzuzeichnen und zu manipulieren, und nicht darin, solche Typen zu läutern, aus ihnen womöglich noch gute Menschen zu machen.

In dieser Nacht ahnte ich noch nicht, dass ich zwei der brutalsten Killer der Vagos begegnet war.


Zu Beginn des Jahres 2004 kontaktierte die Criminal Intelligence Division aus San Bernardino Special Agent John Carr vom Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives [ATF], um sich zu erkundigen, ob er mich für eine sinnvollere Aufgabe einsetzen konnte. Special Agent Carr und Special Agent Darrin „Koz“ Kozlowski trafen sich also mit Vertretern der DEA und mir im Büro in San Bernardino. Carr hatte schon einen Informanten, der in Riverside bei einer Ermittlung gegen die Vagos eingesetzt wurde. Das ATF und die DEA kamen schließlich zu einer Übereinkunft, und von nun an stand ich auf der Gehaltsliste des ATF. Der legendäre Koz, ein Bundesagent, der die Vagos 1997 in einem Undercover-Einsatz infiltriert und es sogar bis zum Rang eines Vollmitglieds geschafft hatte, fungierte als mein Kontaktmann.

Um in die Gang zu kommen, hatte er einen Informanten wie mich eingeschleust, der aber schon einen Monat später bei einem schweren Motorradunfall auf dem Hollywood Boulevard ums Leben gekommen war. Die Vagos besorgten sich daraufhin den Unfallbericht vom LAPD und erfuhren so, dass die Karre auf eine Regierungsstelle zugelassen war. Die Biker nahmen sich die Frau des Spitzels zur Brust und wollten wissen, warum ihr Mann ein Bike der Regierung „geschrottet“ habe. Die arme Frau wurde bedroht – entweder rede sie, oder man schlachte ihre Familie ab. Schließlich gab sie die wahre Identität ihres Mannes preis und verriet, dass er als ATF-Informant gearbeitet habe. Gleichzeitig zeigte sie den Vagos Koz’ Visitenkarte, die ihn als Bundesagenten auswies. Die Biker machten es von da an zu ihrer dringlichsten Aufgabe, den Mann namens Koz zu eliminieren. Zum Ende der ATF-Ermittlung im Jahr 1998 hin fanden die Typen seine Privatadresse heraus, terrorisierten ihn und bedrohten ihn mit Mord, weshalb das ATF ein bewaffnetes Krisenteam zur Überwachung seines Hauses abstellte. Die Vagos verzogen sich daraufhin – und Koz zog den Undercover-Job unbeeindruckt bis zum Ende durch, da noch niemand sein Gesicht gesehen hatte!

Als Koz mir die Hand schüttelte, umspielte ein sympathisches Lächeln seine Lippen. Er warnte mich: „Sie wissen, dass wir alles improvisieren?“ Bedächtig erläuterte er die Mission. Ich sollte im Rahmen der Operation 22 Green in den inneren Kreis der Vagos vordringen. Das Ziel: Den Vagos Verstöße gegen das Bundesgesetz VICAR (Violent Crime in Aid of Racketeering4) nachzuweisen, bei dem im Gegensatz zum RICO-Act den Bikern nur ein einziger Gesetzesverstoß nachgewiesen werden musste, und die Identifikation der Chefs des Clubs und der Anführer der einzelnen Chapter.

„Was haben Sie für einen Rang bei den Vagos?“

„Meinen Rang?“

„Ja, was machen Sie da?“

„Ich hänge mit denen ab!“

„Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet?“ Ein Anflug des Zweifels huschte über Koz’ Gesicht, während er mir die Club-Hierarchie erklärte. Das Ziel jedes Hangers oder Abhängers war es, sich zum Prospect hochzuarbeiten und schließlich Vollmitglied zu werden. Die besonders vielversprechenden Vollmitglieder nahmen dann Führungspositionen ein: Präsident, Vizepräsident, Sekretär, Schatzmeister und Waffenmeister. Besondere Brutalität wiederum qualifizierte einen Mann für die Elite-Kampftruppe des Clubs – er konnte Killer werden, Dealer oder spezielle Härtefälle übernehmen. Jeder Outlaw-Club besaß so eine Truppe, die auch einen Namen trug. Bei den Outlaws war es die SS, für die Hells Angels erledigten die Filthy Few oder die Death Squad die Drecksarbeit, bei den Pagans stand die Black T-Shirt Squad Gewehr bei Fuß, und das Nomad Chapter übernahm die Jobs bei den Bandidos.

„Die Vagos sind da anders gestrickt“, warnte mich Koz. „Sie behandeln alles diskret.“

Die Schwierigkeit lag nun darin, die großen Nummern zu identifizieren. Und ohne ein Bike käme ich da nie rein.

„Wir arbeiten daran“, versicherte mir Koz.


Das nächste geplante Treffen der Vagos fand in Lake Havasu in Arizona statt, gelegen am Colorado River, 60 Meilen südlich von Bullhead City. Der Wüstenfluss, umgeben von roten und ockerfarbenen Bergen und steilen Wänden, war ein Reservoir des Colorado River, das sich bei der Fertigstellung des Parker-Staudamms 1938 gebildet hatte. Die wunderschöne Kleinstadt zeichnete sich durch die berühmte London Bridge und ein nachempfundenes britisches Dörfchen voller Geschäfte und Restaurants aus und zog eine hochexplosive Mischung aus Studenten und Outlaws an. Die Palmen und der idyllische Strand bildeten einen starken Kontrast zu den maßlosen und überschwänglichen Partys, die allerorten gefeiert wurden. Die Tour nach Havasu war eine exklusive Veranstaltung der Vagos und fiel zufälligerweise mit der Tour nach Laughlin zusammen.

Da ich immer noch kein Bike besaß, fuhr ich mit einigen Männern des Victorville-Chapters in einem Wohnmobil. Die Motorräder wurden auf einem Anhänger befördert. Zumindest bot der Wagen Schutz vor der brütenden Hitze, denn hier stiegen die Temperaturen leicht über 40 Grad. Die Hells Angels hatten Arizona wie auch einen großen Teil der Westküste fest in der Hand. Allerdings hatten sie es noch nicht geschafft, sich die Vagos einzuverleiben, die Südkalifornien beherrschten. Lake Havasu stellte einen wichtigen Punkt auf der Landkarte der Biker dar, denn hier stand die schlichte Präsenz im Vordergrund und nicht irgendeine Strategie. Als Abhänger schloss man mich von den wirklich wichtigen Gesprächen aus. Stattdessen verbrachte ich einige Stunden damit, den Mitgliedern Bier und Zigaretten zu beschaffen – und Head Butts Plastikbett aufzublasen, dann die Luft rauszulassen und es später wieder aufzublasen. Darüber hinaus musste ich die Biker standesgemäß unterhalten. Nach einer Weile forderte die Anweisung „Runter auf den Boden und 22 Liegestütze machen“ ihren Tribut. Erschöpft, dehydriert und umgeben von abgefüllten Bikern und Prospects, die mir Meth ins Gesicht bliesen, stellte ich mir einen Gefängnisaufenthalt als ein wahres Vergnügen vor.

Die Vagos hatten ein komplettes Hotel in Beschlag genommen und machten es sich jetzt erst mal auf dem Parkplatz bequem, durch Zelte vor der Sonne geschützt. Terrible, der erst einige Wochen vor der Tour offiziell zum Prospect ernannt worden war, zerfloss förmlich in der Hitze. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt, um zu erfahren, wo die Aufgaben eines Prospects lagen, doch der Unterschied zwischen unser beider Rollen war eher marginal. Immer wenn sich mir die Gelegenheit bot, steckte ich den anderen, dass ich mir ein Bike zugelegt hatte. Ich wusste, dass ich damit in den Augen der Vollmitglieder sofort auf einer höheren Stufe stand und schneller befördert werden würde. Besonders Head Butt interessierte sich für die Information. Er ahnte natürlich nicht, dass es noch Wochen dauern sollte, bis das ATF das sprichwörtliche rote Band der Bürokratie durchtrennen und mir die Karre liefern konnte.

Tagelang versuchte ich, wenigstens einige Minuten zu schlafen – auf nackten Fliesen, auf dem Randstein, auf einer schäbigen Couch. Doch entweder rissen mich die Geräusche von Fußgängern aus dem Schlaf oder laute Stimmen – oder auch die Klangkulisse des Sex weckte mich auf, die von den Wohnwagen oder aus irgendeinem Gebüsch an mein Ohr drang. Ich schnappte auch einige Wortfetzen auf. Es ging um Waffen- und Drogenschmuggel und um bevorstehenden Ärger mit den Angels. Doch nie bot sich mir die Möglichkeit, ein Gespräch konzentriert zu belauschen. Stattdessen drückte ich mich schon vor Sonnenaufgang an den grauen Wänden rum und empfand die Welt als ein verworrenes Durcheinander.

 

Terrible bewachte den Campingwagen. Mit den Hörnern, den zusammengepressten Augen und den Tattoos wirkte er wie eine mythische Kreatur, die gerade irgendeinem geheimnisumwitterten Gewässer entstiegen war. Als Junkie kam er tagelang ohne Schlaf und Nahrung aus – der ideale Soldat, der von einer verrückten Dienstauffassung bestimmt zu sein schien. Er strahlte eine verflucht gefährliche Energie aus, die mich beunruhigte und innerlich verkrampfen ließ. Obwohl ich den Gedanken hasste, noch mehr Zeit mit dem Kerl zu verbringen, war mir klar, dass ich nur durch ihn an die wichtigen Biker herankommen konnte.

Dann kam der dritte Tag unseres Aufenthalts. Die Sonne ging gerade hinter dem Fluss unter, und ich hatte mir bereits mein 22. Bier geschnappt. Terrible war völlig übermüdet und sah so aus, als werde er gleich umkippen. Die Vagos hatten ihm befohlen, eine geschlagene Stunde auf einem Bein zu tanzen – Spielchen, die Prospects über sich ergehen lassen müssen. Psycho, der Präsident des Chapters, gab an diesem Abend die Beförderung von Head Butt bekannt. Wir drängten uns alle in das Wohnmobil und beobachteten, wie Psycho Head Butt das Abzeichen, den Center Patch, überreichte, das er mittig auf der Kutte annähen durfte. Sie gaben ihm dafür 15 Minuten Zeit. Terrible kramte in seiner Gürteltasche und holte Nadel und Faden raus. Psycho bot ihm daraufhin sein altes Motorrad an.


Nach der Havasu-Tour lud mich Terrible in das Meth-Haus ein, in dem er mit Rhino und Twist wohnte. In den engen Räumen standen halbnackte Frauen in den Türrahmen, die menschlichen Skeletten glichen und darauf warteten, Sex gegen Meth einzutauschen. Ineinander verschlungene und an die Wand gelehnte Körper stöhnten lustvoll, und am Boden standen Schalen mit Meth. Über einer alten Couch, die vom weißen Pulver ganz verdreckt war, hing eine von hinten angestrahlte Nazi-Flagge. Das schwarze Hakenkreuz warf düstere Schatten an die Decke. Vor die Fenster gespannte Folie ließ nicht den winzigsten Sonnenstrahl in das Innere des Gebäudes. Es stank nach durchnässtem Mauerwerk und Bier. Von dem ganzen Drogennebel begannen meine Augen zu tränen. Mehrere AK-47, die legendären Sturmgewehre, standen neben der Tür, als gehörten sie zum Mobiliar. Pitbulls lagen auf dem Boden, und Fliegen krochen ihnen ins Ohr. Verklumpter Hundekot lag in Nähe der Drogen. Twist grunzte zur Begrüßung und steckte sich eine Glaspfeife an, die .380er-Pistole in seinem Gürtel.

Ich lehnte mich gegen eine Wand, hörte das Klatschen von Haut auf Haut, genussvolles Lecken und kaum verständliches Geschnatter, das mich an eine seltene Vogelart erinnerte. Im Zwielicht warf Rhinos Körper einen langen Schatten. Er spielte gedankenverloren mit den Titten einer Frau, wobei das lange Messer aus seinem Gürtel hervorblitzte. Er sammelte Frauen wie andere Waffen. Seine Alte stand in einer Ecke und wirkte wie ein riesiger Dreckfleck. Einige spindeldürre Bräute mit eingefallenen Augen versuchten Rhinos Aufmerksamkeit zu erregen. Sie standen im Flur, im Schlafzimmer oder saßen auf der Couch oder auf dem Boden. Rhinos Freundin schien das überhaupt nicht zu beeindrucken. Wenn ich nicht noch mehr sinnlose Nächte mit dem Beobachten von benebelten Sex-Miezen verschwenden wollte, musste ich dringend etwas unternehmen.

Ich machte dann den ersten Schritt, spürte dabei jede Nervenfaser. Die Angst steigerte meine Aufmerksamkeit.

„Ich hab dich doch schon mal gesehen.“ Rhino nickte. Keiner reichte dem anderen die Hand. Hätte ich als x-beliebiger Abhänger das Gespräch mit einem Vollmitglied begonnen, wäre das mein erster Fehler gewesen.

„Ich kriege das Bike in einem Monat, habe den Bock schon bezahlt“, versuchte ich eine Unterhaltung anzuleiern. Eine merkwürdige Stille machte sich zwischen uns breit. Rhinos blutunterlaufene Blicke durchdrangen mich. Während einiger quälend langer Sekunden zwinkerte keiner von uns.

Und dann – als hätte ich einen imaginären Test bestanden – meinte er bloß: „Ich werde dich fördern.“

Meine Zunge klebte am Gaumen. „Ich fühle mich geehrt.“ Das war’s. Ich war drin. Vielleicht wirkte ich in diesem Augenblick etwas zu aufgeregt oder erleichtert, denn Rhinos Gesicht verfinsterte sich wieder für einige Sekunden, und er riet mir mit tiefer Stimme: „Lass mich niemals wie ein dummes Arschloch dastehen.“


Terrible klärte mich später auf. Er hatte gehörte, dass „Vollidioten“, dazu zählten illoyale Prospects und angebliche Informanten, zusammengeschlagen und auf die Hochplateaus in der Wüste draußen gebracht worden waren, wo man ihnen den Mund mit Gaffa-Tape zuklebte und sie hinrichtete. Ich versprach ihm, nicht zu den Idioten zu gehören. Doch damit man offiziell Prospect wurde, musste der Club zuerst bei der nächsten Vollversammlung, dem Church-Meeting, abstimmen. Als Abhänger hatte ich schon Informationen über die Clubhierarchie der Vagos gesammelt, einige der Codes gelernt und wusste auch, wie eine Vollversammlung ablief. Hinter Gesetzen und der Clubsatzung verbargen die Vagos ihre kriminellen Aktivitäten und die perverse Interpretation biblischer Gebote. Die Vollversammlungen, bei denen nur Mitglieder anwesend sein durften, waren für sie wie Kirchgänge. Bei solchen Treffen kümmerten sie sich um „das Geschäftliche“.


An einem kühlen Sonntagabend hielt Psycho dann eine Versammlung in seinem in der Einfahrt geparkten Wohnmobil ab. Rhino, Spoon, Powder, Sonny und Chains verschwanden mit einigen Mitgliedern, um über mein Schicksal zu beratschlagen. Ich setzte mich an eine Bordsteinkante, ließ Kies durch die Finger rieseln und dachte über die letzte Woche nach. Bislang war nicht Nennenswertes passiert. Stunde um Stunde voller Langeweile, Bier, Billard, sinnlose Scherze hatten sich aneinandergereiht. Ich wartete auf eine Chance, eine Begegnung, um die Ermittlung voranzutreiben. Und nun war da plötzlich Terrible, ein waschechter Schwerverbrecher, der mir augenblicklich den Hals umdrehen würde, wüsste er von meiner wahren Identität.

Die Tür des Wohnmobils flog mit einem lauten Knall auf. Ich erkannte Psycho, der von der nackten Glühbirne im Wagen angestrahlt wurde und einen langen Schatten warf. Er winkte mich herein. Drinnen roch es nach Plastik und abgestandenem Qualm. Der riesige Campingwagen, sicherlich mehrere hunderttausend Dollar wert, diente ihm als Symbol für seinen Erfolg in der Welt der Drogen. Solche Kisten bedeuteten Macht! Aber mittlerweile kannte ich seinen gehetzten und gejagten Gesichtsausdruck. Die Paranoia im Dunkel der Nacht machte aus ihm einen übervorsichtigen, ruhelosen und emotional leeren Menschen.

Einige Mitglieder mit grünen Kopftüchern und verdreckten Kutten saßen in einem Halbkreis vor mir. Das waren roboterartige Soldaten, hervorragend ausgebildet, bewaffnet und ohne jegliche Gefühle.

„Du willst also Prospect werden?“ Psycho verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte eher wie ein Sergeant bei den Marines als ein Krimineller. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Von draußen hörte ich das Zirpen der Grillen.

„Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen.“ Mein Herz hämmerte in der Brust.

„Du weißt, was das bedeutet?“ Bevor ich antworten konnte, lehnte er sich zu mir herüber und flüsterte: „Du wirst ein Sklave sein, für die Vagos 24 Stunden am Tag erreichbar. Man kann alles von dir verlangen.“ Der Ton seiner Stimme ließ erkennen, dass er damit auch „Geschäftliches“ meinte – Selbstaufopferung, Gefängnis, sogar den Tod im Dienste des Clubs eingeschlossen.

„Und wenn ich eines Tages denke, dass ich dich nicht leiden kann, könnte ich dir den Befehl erteilen, dich auf der Straße umfahren zu lassen.“

Ich nickte, wusste ganz genau, was Psycho meinte. Ich hatte schon im Zusammenhang mit anderen Chaptern Gerüchte über Entführungen und Folter gehört.