Der wilde Sozialismus

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DAS BEDÜRFNIS NACH DER REINEN DEMOKRATIE

Seit dem Anbruch der bürgerlichen Revolutionen in England und vor allem Frankreich hat sich die politische Theorie der demokratischen Macht entlang der Notwendigkeit entwickelt, die Souveränität des Volkes – und später des Proletariats – von ihrer umfassenden Ausübung abzutrennen. Jener »große Nachteil« der Demokratie, der Montesquieu so beunruhigte, wurde von den herrschenden Klassen autoritär behoben: durch die permanente Delegation von Macht im Rahmen der parlamentarischen Demokratie. Die Kommune von 1871 rückte jedoch das Bedürfnis nach der von Robespierre abgelehnten reinen Demokratie wieder in den Vordergrund der geschichtlichen Bühne und hisste erneut das Banner einer Ausweitung der Souveränität auf die Gemeinschaft der Produzenten. Sie stand für rechenschaftspflichtige und abrufbare Abgeordnete sowie für eine Institution, in der legislative und exekutive Funktionen verschmolzen und die trotz Zentralisierung Autonomie zuließ. Damit fand sie in den sozialistischen Strömungen, bei Marx und seinen Anhängern ein schwaches Echo, ein stärkeres dagegen bei Verfechtern antizentralistischer und antiautoritärer Grundsätze, bei Anarchisten und Anarchokommunisten. So gesehen brach die Kommune trotz des starken Gewichts dirigistischer Strömungen in ihren Reihen mit der jakobinischen Orientierung, die ein Erbe der Französischen Revolution war. Ein sicherlich begrenzter Erfolg, der aber einen Schritt nach vorn auf dem Weg zur vollen Souveränität der Ausgebeuteten markierte.

Erst im Gefolge der Kommune fanden das Verhältnis zwischen jakobinischem Zentralismus und revolutionärem Staat und damit der Gegensatz zwischen einer jakobinischen und einer direkten Form von Souveränität klaren Ausdruck in den Debatten der sozialistischen Bewegung. Aus der »allgemeinen Stellung des Marxismus zu der bürgerlichen Revolution und zum Problem des revolutionären Staates folgt als notwendige Konsequenz auch jene vorbehaltlose Bejahung der unitarischen und zentralistischen Staatsform und unbedingte Ablehnung jedes Föderalismus, welche bis zum heutigen Tage einen festen Bestandteil jeder konsequent marxistischen Staatsauffassung bildet«.29 Anders formuliert: Jede Entwicklung in Richtung Föderalismus galt als schädlich für das Funktionieren des revolutionären Staates.

DAS ENDE EINER ÄRA

Bereits Kropotkin hatte in seiner Studie über die Französische Revolution darauf hingewiesen, dass der Gegensatz von Zentralismus und Föderalismus mehrdeutig war und sich die Spaltungslinien je nach den Umständen und Klasseninteressen verschoben. Louis Blanc beipflichtend notierte er, dass »das Wort ›Föderalismus‹« – der »Hauptanklagepunkt« der Montagnards gegen die Girondisten – sich vor allem aus der Furcht und dem Abscheu vor dem Einfluss gespeist habe, »den die Kommune von Paris, die revolutionären Komitees, das Volk von Paris in der Revolution gewonnen hatten«, und sich »die Girondisten in allem was sie taten, ganz ebenso zentralistisch und autoritär« wie die Montagnards gezeigt hätten.30 Dreißig Jahre später wies auch Karl Korsch in seinen Untersuchungen zur Französischen Revolution nach, dass die bürgerlichen Zentralisten in wirtschaftlichen Fragen häufig Liberale waren. Tatsächlich trat die Bourgeoisie je nach Maßgabe der Situation und ihrer Interessenlage mal für mehr Föderalismus, mal für Staatseinheit ein. Korsch zeigte außerdem, dass der Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus auch später im sozialistischen Lager kein unüberwindlicher war, und erinnerte an Proudhons Eingeständnis aus dem Jahr 1848, dass eine politische Zentralisierung zeitweilig notwendig sei.31 In diesem Sinne hielt Korsch es auch für »unrichtig […], mit Proudhon und Bakunin in der ›föderativen‹ Form eine Überwindung des bürgerlichen Staates zu sehen«.32 Die meisten marxistischen Strömungen setzten oft zu Unrecht Föderalismus mit Separatismus und jeden Staat mit dem einheitlich-zentralistischen Staat gleich. In der sozialistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts wurde jedoch darüber diskutiert, wie man eine Alternative zum autoritären Staat finden könnte, nicht über die Überwindung von Staatlichkeit schlechthin. Proudhon etwa schwebte ein Staat vor, der sich auf eine Föderation von Kommunen und Arbeiterassoziationen gründen sollte. Wie oben bemerkt, hatte sein Projekt nichts mit dem Föderalismus der feudalen Vergangenheit gemein, sondern war das exakte Gegenteil einer Isolierung, Explosion oder egoistischen Austragung unterschiedlicher Interessen. Proudhon ging sogar so weit, gerade im zentralistischen Staat eine Gefährdung der Einheit auszumachen, die ein föderalistischer Staat auf harmonischere Art gewährleisten könne: Was man mit ersterem »erreichen könnte, […] wäre lediglich, einen unversöhnlichen Antagonismus zwischen der allgemeinen und jeder einzelnen Souveränität hervorzurufen und Autorität gegen Autorität zu stellen; mit einem Wort, die Teilung herbeizuführen, während man sich einbildet, die Einheit zu entwickeln«.33 Auch Bakunin unterstrich wiederholt, dass sich die Kommune zum Föderalismus bekannt habe, ohne die nationale Einheit abzulehnen. Aus dieser regen Debatte über die gegensätzlichen Prinzipien von Föderalismus und Einheit zog Korsch einen fruchtbaren Schluss für die Zukunft: Der föderalistische Gedanke lasse sich als eine historische Alternative zum Einheitsstaat aufgreifen – zu einem Zentralismus, der als unumgänglicher Durchgangspunkt für den Sturz der kapitalistischen Ordnung galt.34

Korsch grenzte sich von den »missverständlichen« Interpretationen von Marx, Engels und Lenin ab, denen zufolge »ein Abgeordneter mit kurzfristigem, gebundenem, jederzeit abrufbarem Mandat oder ein auf Privatvertrag gegen gewöhnlichen ›Arbeitslohn‹ angestellter staatlicher Funktionär eine weniger bürgerliche Einrichtung wäre als ein gewählter Parlamentarier« und es »›kommunale‹ oder ›rätemäßige‹ Verfassungsformen gäbe«, durch die der »Staat den jedem Staat anhaftenden Charakter eines Instruments der Klassenunterdrückung am Ende gänzlich abstreifen könnte«.35 Die von Marx und Engels aus der Tradition des utopischen Sozialismus übernommene Idee eines schlussendlichen Absterbens des Staates in der kommunistischen Gesellschaft, so Korsch weiter, »verliert ihren revolutionären Sinn«, wenn man der eigenartigen Konzeption Lenins folgt. Für Lenin nämlich war der Staat der proletarischen Diktatur, insoweit er die wahre, proletarische Demokratie verwirkliche, »bereits ein absterbender Staat«.36

Korsch vertrat in dieser Debatte eine neue Interpretation des Satzes, die Kommune sei »die endlich entdeckte politische Form« der Befreiung. Für ihn stellte sie keine fertige Form, kein Modell für einen revolutionären Staat dar, wie der Marxismus und später der Marxismus-Leninismus es vertraten, sondern, auch wenn sie zu einem bestimmten historischen Moment existiert hatte, eine »ausdehnungsfähige politische Form«.37 Eine, die die Möglichkeit eröffne, zu einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat zu gelangen, zum Ende der spezialisierten politischen Macht und zum Aufbau einer emanzipativen Assoziation – ein Ansatz, der auch den Gedanken zuließ, dass »die Kommune von 1871 in gewisser Weise das Ende einer Ära markierte«, nämlich der Ära der demokratischen politischen Form, der maximalen Ausdehnung der formellen politischen, von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen getrennten Demokratie.38 Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie war an die äußersten Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen. Jenseits dieser Grenzen muss sich das souveräne Volk seine Souveränität vollständig aneignen. In Abwandlung des Satzes von Robespierre formuliert: Das Beispiel der Kommune zeigt, dass das, was das Volk von sich aus tut, weil es dazu in der Lage ist, von nun alles umfasst. Es muss dazu über die repräsentative Demokratie selbst in ihrer ausgedehntesten Form hinausgehen und jede Schranke der Ausübung seiner Macht beiseite räumen. Nach der Kommune bedeutete der Weg zu einer emanzipierten Gesellschaft, dass die wirkliche Bewegung die Repräsentation auf dem politischem Terrain überwindet und Formen einer Assoziation herstellt, die all denen, die institutioneller Macht beraubt sind, eine volle Ausübung ihrer Souveränität ermöglichen.

Eine konkrete Gestalt gewann diese Orientierung nach Form und Inhalt erst mit den Massenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts: mit den Massenstreiks in Europa und Russland, dem Aufschwung revolutionär-syndikalistischer Strömungen, den ersten großen Zerwürfnissen innerhalb der zentralistischen Strömungen der Sozialdemokratie und mit dem Auftauchen von Rätebewegungen.

KAPITEL 3
DIE ERSTE INTERNATIONALE (1864–1877)
AUTORITÄTSPRINZIP UND REVOLUTIONÄRE ORGANISATION

Nach der Niederschlagung der Kommune geriet die Erste Internationale in eine Krise. Ihr Verfall zeigte sich in einem Rückgang der Mitgliederzahl, begleitet von Abebben und Apathie der sozialen Bewegungen in Europa. Hinzu kam, dass nun ein Streit zwischen Marxisten und Bakunisten entflammte, zumal Marx seine Position zur Bedeutung des Staates für die Revolution abermals revidierte, indem er den Akzent wieder stärker von der Zerstörung auf die Eroberung verschob. Auf dem Haager Kongress von 1872 wurde die bakunistische Strömung schließlich ausgeschlossen. Wie oben erwähnt, hatte Marx bereits vor der Kommune Proudhons Auffassungen als rückwärtsgewandt angegriffen. Sein Konflikt mit Bakunin über die Frage von Zentralismus und Autoritarismus in der Staats- und Organisationstheorie gewann dagegen erst nach der Niederlage der Kommune an Schärfe.

Über dieses Thema liegt umfangreiche Literatur vor. Wir beschränken uns hier auf ein knappes Resümee, wobei die Organisationsfrage und Bakunins Beitrag zur Staatskritik im Mittelpunkt stehen.

 

GEGENSÄTZE UND VORAHNUNGEN

Die Uneinigkeiten zwischen den zwei feindlichen Brüdern Marx und Bakunin sind seit jeher häufig auf ihre gegensätzlichen Persönlichkeiten zurückgeführt worden, anstatt sich mit den Strömungen auseinanderzusetzen, für die sie standen. Marx selbst rückte Bakunin in seinen Attacken immer wieder in die Nähe von Proudhon, mitunter warf er ihm sogar vor, dessen Ideen auf die Spitze zu treiben. Allerdings konnte er seine Kritik an Proudhon nie wirklich auf Bakunin übertragen, da erhebliche Differenzen die beiden Anarchisten trennten. Die Proudhonisten waren »Sozialindividualisten«; den Feind machten sie in einem Kollektivismus aus, der zwangsläufig autoritär sei. Sie waren auch keine Revolutionäre, sondern traten anstelle proletarischer Gewalt für schrittweise Veränderungen und den Aufbau von Gegeninstitutionen innerhalb des bestehenden Systems ein; die patriarchale Familie verteidigten sie ebenso wie das Privateigentum. Vor allem aber waren die Proudhonisten eine spezifisch französische Strömung, Bakunin dagegen ein kämpferischer Internationalist. Zwar wendete er sich genau wie Proudhon gegen die politische Macht und den zentralistischen Staat, er lehnte aber auch den Individualismus als ein bürgerliches Konzept ab, das ebenfalls autoritäre Verhältnisse legitimiere. Wie Marx trat Bakunin für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein; wenn er sich nicht als Kommunisten, sondern als Kollektivisten bezeichnete, dann weil er den Kommunismus mit einer politischen Machtkonzentration im Staat gleichsetzte. Bakunin war ein unermüdlicher Verfechter der Revolution, er befürwortete revolutionäre Gewalt gegen sämtliche Institutionen und die Zerstörung des Privateigentums.

Der Konflikt zwischen Marx und Bakunin in der Internationale betraf vor allem die Organisationsfrage und nur in zweiter Linie das Staatsproblem. Dabei vermied es Marx, Bakunin als Anarchisten anzugreifen, und warb sogar um die Unterstützung anderer Anarchisten für seine Vision der Internationale als einer Organisation, deren Programm für verschiedene sozialistische Strömungen offen sein sollte. Die Anhänger Bakunins vertraten dagegen ein stärker elitäres und sogar klandestines Organisationsmodell. Allerdings bewies Bakunin jenseits dieser Debatte paradoxerweise insofern eine erstaunliche Hellsicht, als er in dem Ideenkorpus, der sich mit Marx’ Denken verband, eine Orientierung und bestimmte Elemente ausmachte, die zur ideologischen Unterfütterung autoritärer Herrschaft – eines staatskapitalistischen Systems – geeignet seien. Dass er diese Kritik stellenweise in eine Rhetorik mit antisemitischem Beigeschmack und panslawistisch-antideutschen Zügen kleidete, vernebelte die entscheidende Frage. Im Vorhaben, eine Organisation der Arbeiterklasse nach dem Modell des zentralistischen Staates zu schaffen, sah Bakunin einen ersten Schritt dahin, die Klasse den »aufgeklärten Sozialisten« der Führungspartei unterzuordnen – in seinen Augen eine politische Unterwerfung unter eine Art Religion, unter die Autorität der »Wissenschaft«. Die Religion der Führer und des Staatskapitalismus wies Bakunin zurück, indem er auf die Spontaneität der Individuen setzte. Er ahnte als Erster voraus, dass ein zur Staatsdoktrin gewordener zentralistischer Marxismus mit einer bestimmten Weiterentwicklung des Kapitalismus einhergehen könnte.

DAS AUTORITÄTSPRINZIP

Im Gefolge der Pariser Kommune, angespornt von den Ereignissen und der wirklichen Bewegung, akzeptierte Marx den Gedanken, dass die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse untrennbar mit der Zerstörung des Staates verbunden sein müssen. Später kehrte er jedoch zu der Auffassung zurück, die revolutionäre Partei müsse den Staatsapparat erobern, um dem Sozialismus durch notwendige Maßnahmen und Übergangsziele den Weg zu bahnen. Die Herausbildung des Marxismus als einer politischen Doktrin vollzog sich dann in einem weiteren Schritt gemäß der Logik, zwecks Übernahme der Staatsmacht müsse man sich an bürgerlichen Institutionen wie Parlament und Regierung beteiligen.

Aus der Kritik am Staatsgedanken und seinem Stellenwert für die soziale Emanzipationsbewegung gewann Bakunins Denken seine gesamte Bedeutung. Über den Klassencharakter des Staates hinaus versuchte er auch dessen ideologische Fundamente im »Autoritätsprinzip« freizulegen: »Jede ehrliche und konsequente Staatstheorie gründet sich im wesentlichen auf das Prinzip der Autorität, das heißt, jene im höchsten Maße theologische, metaphysische, politische Idee, daß die Massen immer unfähig sein werden, sich selbst zu regieren, und deshalb auf ewig das wohltätige Joch einer Weisheit und einer Gerechtigkeit werden tragen müssen, das ihnen auf die eine oder andere Weise von oben auferlegt wird.«1 In der Unterordnung der Arbeiter unter Führer und vertikal aufgebaute Organisationen sah Bakunin grundsätzlich einen Ausdruck des Autoritätsprinzips, das auf die Errichtung eines neuen Staates, einer neuen Form von Unterdrückung hinauslaufe. Deshalb musste man dieses Prinzip ihm zufolge nicht nur im Staat, sondern auch im politischen Agieren der Klasse aufdecken und kritisieren. Die Revolution und eine neue gesellschaftliche Ordnung konnten demnach nicht durch die Unterordnung der Arbeiter unter eine politische Organisation erreicht werden, sondern nur durch »die Organisation der nicht politischen, sondern sozialen und folglich antipolitischen Macht der städtischen und ländlichen Arbeitermassen«.2

Wie bereits deutlich wird, definierte Bakunin Politik anders als Marx. Die von ihm befürwortete Revolution trug insofern »antipolitische« Züge, als sie aus einem Kampf gegen den Staat und die nach seinem Bilde geschaffenen, auf demselben Autoritätsprinzip beruhenden Parteien hervorgehen sollte.

Nach der Kommune wurden die Debatten über die Organisation der Arbeiter wieder aufgenommen. Es ging um Fragen der Souveränität, der Machtausübung ohne Vermittlungen, der direkten Aktion und Demokratie. Für Bakunin musste die auf den Sturz der gesellschaftlichen Ordnung zielende Organisation der Ausgebeuteten einen Charakter haben, der mit dem etatistischen Modell brach. Sich nicht dem Autoritätsprinzip zu unterwerfen, war demnach der erste Schritt auf dem Weg zum Umsturz.

DIE GRENZEN DER POLITISCHEN AKTION VON MINDERHEITEN

Aus der Erfahrung der Pariser Kommune ließen sich Bakunin zufolge auch Lehren für das politische Handeln ziehen. Die Grenzen seiner eigenen Vorstellung, klandestine Gruppen könnten durch die richtigen Aktionen einen revolutionären Prozess in Gang setzen, waren bereits mit der Niederschlagung der Kommunen von Lyon (September 1870) und Marseille (März 1871) deutlich geworden; das Scheitern der kantonalistischen Aufstände in Spanien (1873) unterstrich dies lediglich. Vor diesem Hintergrund versuchte Bakunin nun Ziele und Möglichkeiten der politischen Aktion von Gruppen neu auszuloten. Zustimmend fasste er die Überlegungen von Revolutionären, die in der Pariser Kommune aktiv gewesen waren, so zusammen: Es gehe darum, »die den Regungen des Volks entsprechenden Ideen herauszuarbeiten, zu klären und zu verbreiten, und durch […] unablässiges Bemühen zur revolutionären Organisation der natürlichen Macht der Massen beizutragen – aber nicht mehr; alles Übrige solle und könne nur durch das Volk selbst geschehen. Sonst gelange man zur politischen Diktatur, d. h. zur Wiedereinführung des Staates, der Privilegien, Ungleichheiten und aller anderen staatlichen Unterdrückungsformen sowie […] zur Wiederherstellung der politischen, sozialen und ökonomischen Knechtschaft der Volksmassen.«3 Jede revolutionäre Übergangsmaßnahme lehnte Bakunin in der Überzeugung ab, dass die Revolution, »wenn sie in den Händen einiger regierender Personen konzentriert ist, […] unvermeidlich und unverzüglich zur Reaktion wird«.4

Einen Versuch, die Auffassungen von Marx und Bakunin miteinander zu verbinden, unternahm ein halbes Jahrhundert später der radikal-sozialistische Theoretiker Otto Rühle, den die deutsche Rätebewegung von 1918/19 zu einer vehementen Ablehnung von Parteien gebracht hatte. Rühle zufolge »sah der eine, Bakunin, im Menschen mehr das Subjekt der Geschichte, das die Bereitschaft zur Revolution […] mitbringt und nur seiner Entfesselung bedarf; der andere dagegen, Marx, erblickte im Menschen mehr das Objekt, das erst langsam zur Aktivität erzogen werden müsse, um in der Aktion der Klasse als geschichtsbildender Faktor zu wirken«. Laut Rühle hätten sich beide Konzeptionen »vereinigen lassen, denn sie ergeben vereint das tatsächliche Bild des Menschen in der Geschichte«.5 Doch wie Bakunin gezeigt hatte, wies Marx diese erzieherische Aufgabe einer Institution zu, deren Prinzipien im Widerspruch zu den emanzipatorischen Zielen zu stehen schienen – der zentralisierten, autoritären Partei. Bakunin führte aus: »Wir wollen den gleichen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit durch die Abschaffung des Staates und von allem, was juridisches Recht genannt wird und was nach unserer Ansicht die permanente Negation des menschlichen Rechtes ist. Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschen nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte – sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der vom Joche des Staates befreiten Arbeiterassoziation aller Art.«6 Etwas später kam er auf diese grundlegende Differenz zurück und attestierte Marx einen Widerspruch: Da Marx »wirklich die Erhebung der Massen wünscht«, sei es erstaunlich, wie er übersehen könne, dass »die Errichtung einer universellen, kollektiven oder individuellen Diktatur, die gewissermaßen die Arbeit eines Chefingenieurs der Weltrevolution ausführt, die insurrektionelle Bewegung der Massen in allen Ländern wie eine Maschine regulierend und lenkend […], allein genügen würde, alle Volksbewegungen zu lähmen und zu verfälschen«.7

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichte Georges Sorel (1847–1922), ein weiterer hellsichtiger Kritiker des autoritären Sozialismus, die Konsequenzen dieses Widerspruchs anhand der Funktionsweise sozialdemokratischer Parteien. Als einer der ersten Sozialisten wies er darauf hin, wie sich eine Kluft zwischen dem Denken von Marx und den »Marxisten« auftat, die mit ihren »politischen Maschinen« gewisse »Bräuche« pflegten, die der Emanzipation der Produzenten zwangsläufig zuwiderliefen.8 Mit Blick auf den Aufstieg sozialistischer Parteien, die nach dem Modell des Staates aufgebaut waren, dirigiert von einer Kaste von Führern, Funktionären und Intellektuellen, sagte Sorel voraus, »daß die Übertragung der Autorität sich heutzutage, dank der neuen Möglichkeiten des parlamentarischen Systems, in vollkommenerer Weise vollziehen würde; und da das Proletariat vollkommen in offizielle Gewerkschaften eingereiht sein würde, würden wir die soziale Revolution in eine wunderschöne Knechtschaft auslaufen sehen«.9 Genauer formuliert: »Wenn dank der sogenannten reformistischen Arbeiter der politische Sozialismus triumphieren wird, werden wir in eine Ära grauenvoller Knechtschaft eintreten.«10