Der wilde Sozialismus

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DIE RELIGION DES STAATSSOZIALISMUS

Wie die weitere Geschichte zeigte, waren Bakunins Behauptungen und Einwände durchaus hellsichtig und eröffneten dem kritischen Denken eine neue Richtung. Gut zwanzig Jahre vor Gustave Le Bons Psychologie der Massen ging er von gleichermaßen sozialen wie eigenständigen Individuen aus, deren Gemeinschaftlichkeit er in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses rückte, jenseits von Gehorsam gegenüber Führern und einer äußeren Hierarchie. Diese Gemeinschaft war anderer Art als das abstrakte Wesen namens »die Masse«, das seit der Französischen Revolution die Angstvorstellungen der herrschenden Klassen und des Bürgertums befeuerte – eine angeblich wilde, brutale, infantile, kurz: furchterregende Masse. Nach Le Bon hat sich ein Individuum, das Teil einer handelnden Masse ist, bereits selbst aufgegeben; des eigenen Tuns nicht länger bewusst, ist es ein willenloser Automat geworden. Freud ging noch weiter. Er bemerkte, Le Bon zufolge sei die Masse »außerordentlich beeinflußbar und leichtgläubig, sie ist kritiklos, das Unwahrscheinliche existiert für sie nicht. […] Die Masse kennt also weder Zweifel noch Ungewißheit.« Sie stelle sich »instinktiv unter die Autorität eines Oberhauptes […]. Die Masse ist eine folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben vermag. Sie hat einen solchen Durst zu gehorchen, daß sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn ernennt, instinktiv unterordnet.«11 Der Führer ist nach Le Bon sowohl für flüchtige wie für künstliche, stabile – beispielsweise religiöse – Massen eine notwendige, unverzichtbare Figur. Freud zufolge verkörpert er das »Massenideal«, das an die Stelle des »Ichideals« trete; durch ihn unterwerfe sich das Individuum diesem Massenideal, passe sich ihm an. So sieht Freud die »Haupterscheinung der Massenpsychologie« in der »Unfreiheit des Einzelnen in der Masse«.12 Im Anschluss an Le Bon, demzufolge »der Sozialismus eine vergängliche Religion darstellt«13, meinte Freud, es könne »eine andere Massenbindung an die Stelle der religiösen« treten, »wie es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint«.14 Diese Ähnlichkeit zwischen der Unterwerfung unter die Religion und unter den Sozialismus der Führer war Bakunin nicht entgangen. Auch Sorel widmete dem »religiösen Charakter des Sozialismus« 1906 einen eigenen Essay.15

Freud, der zeitlebens nie über eine sozialdemokratische Geisteshaltung hinauskam, meinte offenbar, bei dieser »Bindung« und Unterwerfung unter Führerfiguren werde die sozialistische Bewegung stehenbleiben.16 Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass er den zitierten Text 1921 schrieb – drei Jahre nach der russischen Revolution und zwei Jahre nach der Novemberrevolution in Deutschland. Damals gab es durchaus Gruppen von freien, bewussten Individuen, die mit ihrem Handeln den institutionellen Rahmen des Sozialismus der Führer und den damit verbundenen »Durst zu gehorchen« radikal infragestellten und auf spontane Weise neue starke Bewegungen hervorbrachten, die auf Räten beruhten.

Tatsächlich decken sich die Reflexionen von Le Bon und Freud teilweise mit dem Gedanken, den Bakunin ein halbes Jahrhundert zuvor entwickelt hatte, und stehen gleichzeitig in schroffem Gegensatz zu ihm. Bakunin zufolge drückte sich die von ihm so entschieden kritisierte Verwandtschaft zwischen Religion und Staatssozialismus auch darin aus, dass dieser »eine bevorrechtete Klasse, gewissermaßen eine Priesterkaste des Staates« erzeuge, »die herrschende und besitzende Klasse, welche im Staate das ist, was die Priesterkaste in der Kirche ist«.17 Während die Massen laut Le Bon eine von Grund auf destruktive Energie antrieb, erkannte Bakunin in derselben Energie einen »Instinkt der Revolte«, der eine zugleich zerstörerische wie schaffende, positive Kraft sei – Ausgangspunkt für eine Bewegung der gesellschaftlichen Emanzipation und Mittel für das gesellschaftliche Individuum, zu seiner Freiheit zu gelangen. Eine doppelbödige Haltung, um das Mindeste zu sagen, nahm dagegen die Sozialdemokratie ein: Sie machte sich die Schlussfolgerungen von Le Bon zu eigen, um ihr zentralistisch-autoritäres Parteimodell zu rechtfertigen. So erklärte etwa Karl Kautsky bereits 1911, die bewusstlosen und unkontrollierbaren Aktionen der Massen zeigten, wie notwendig die Führung durch die Partei sei, die dem kollektiven Handeln erst zu Organisation, Bewusstsein und Reife verhelfe.18 Im Zuge der Novemberrevolution 1918 meinte der SPD-Politiker Gustav Noske, der wenig später, im Januar 1919, für den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verantwortlich war, bei der Mehrheit der deutschen Arbeiter, Soldaten und Matrosen »das dem Deutschen eingeborene Bedürfnis nach Ordnung« zu erkennen – eine reaktionäre Formulierung, in der Le Bons Gedanke des willenlosen, den Führern unterworfenen Einzelnen und der passiven Masse anklang.19

Bakunin formulierte seine Gedanken in einer wenig ausgefeilten Weise, seine Argumentation blieb mitunter vage und inkonsistent. Abstrakte Systeme lehnte er ab, da sie in seinen Augen nur Denken und Handeln lähmten. Bakunins Theorie war das Spiegelbild eines unbändigen Lebens und taugte nicht zur Weltanschauung. In der Organisationsfrage hatte sie auf die nicht-individualistischen Strömungen des Anarchismus wenig Einfluss; diese schwankten stattdessen zwischen dem »Plattformismus« eines Peter Arschinoff, der eine Art anarchistische Partei vorsieht, und dem klassischen Modell der gewerkschaftlich-politischen Doppelorganisation, wie es neben vielen anderen die spanische CNT-FAI (Confederación Nacional del Trabajo/Federación Anarquista Ibérica) am erfolgreichsten verkörperte. Bakunin selbst zeigte sich in seiner Organisationspraxis besonders widersprüchlich – auch in der Internationale und seinem Kampf gegen Marx. Er beharrte auf der Vorstellung, dass die revolutionäre Aktion von kleinen zentralisierten und klandestinen Gruppen ausgehen müsse, und zog Arbeiter damit in revolutionäre Verschwörungen, die zum Scheitern verurteilt waren. Während er in der Theorie das widersprüchliche Verhältnis zwischen dem Autoritätsprinzip und einer Bewegung der gesellschaftlichen Selbstbefreiung aufzeigen konnte, blieb er selbst Gefangener des damals noch vorherrschenden jakobinisch-babouvistischen Aufstandsmodells. Spontanes Handeln erschöpfte sich für Bakunin in einem »Instinkt der Revolte«, der auf das Wirken von Berufsrevolutionären mit der besonderen Fähigkeit angewiesen blieb, den subversiven Gedanken ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Ohne ein solches Eingreifen konnte es auch keine Selbstorganisation geben.

Die Kritik des Autoritätsprinzips schlug ohne Frage eine Bresche in die jakobinisch-hierarchische Gedankenwelt der sozialistischen Bewegung. In dieser setzte sich die Einschränkung der vollen Souveränität – das »Korrektiv«, das die permanente Repräsentation von Macht darstellte – als Unterordnung unter die Führung und als Blockade individueller wie kollektiver Fähigkeiten der Emanzipation fort. Die Unmöglichkeit einer ungeschmälerten Ausübung der Volkssouveränität, die Abwesenheit direkter Demokratie, ließ die Mängel des parlamentarischen Systems sowie die soziale Ungleichheit, auf der es beruhte, immer deutlicher hervortreten. Die repräsentative Demokratie erschien als Negation jeder Demokratie und nährte so das Verlangen nach gesellschaftlicher Emanzipation. Dreißig Jahre nach den ersten Andeutungen durch die Pariser Kommune musste die soziale Bewegung das System der Repräsentation aufbrechen, um solchen neuen Bedürfnissen konkret Rechnung zu tragen. Nur im Bruch mit dem Sozialismus der Führer und Apparate, auf wilde, ungezähmte Weise, konnte sie Gestalt annehmen.

KAPITEL 4
GENERALSTREIK ODER MASSENSTREIK?
DER REVOLUTIONÄRE SYNDIKALISMUS UND DAS BEDÜRFNIS NACH SELBSTREGIERUNG
SELBSTBILDUNG

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Sozialdemokratie in Deutschland, Belgien, Holland und Russland die unangefochtene Hauptkraft in der organisierten Arbeiterbewegung. Als solche rückte sie von Marx’ Überzeugung, das kommunistische Bewusstsein werde aus dem Proletariat selbst hervorgehen, immer stärker zugunsten einer Konzeption ab, die die zentralistisch-hierarchische Partei als Trägerin des Klassenbewusstseins begriff. Bakunins Warnungen vor den widersprüchlichen Folgen des etatistischen Modells wurden ignoriert oder schlicht vergessen. In anderen Ländern, vor allem in Frankreich, Italien und Spanien, behielten antiautoritär-anarchistische Kräfte dagegen ein starkes Gewicht in der Arbeiterbewegung und widersetzten sich dieser Marschrichtung. Natürlich lehnte die Sozialdemokratie der Zweiten Internationale den Föderalismus zugunsten eines Zentralismus ab, der als Gewähr für Disziplin, Realismus, Effektivität und somit für die Stärke der Arbeiterbewegung galt – ein Argument, das der linke Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Bolschewiki, sowie später die bolschewisierte Dritte Internationale übernahmen und das sämtliche avantgardistische Strömungen, Gruppen und Sekten bis heute anführen. Die Mittel, auf denen diese Effektivität beruhte, sahen die sozialdemokratischen Marxisten in keinerlei Widerspruch zu den Zielen, zumal das Erstarken ihrer Parteien in den Ländern, in denen sie die Bewegung dominierten, stetig und unaufhaltsam voranzuschreiten schien. Dieses Wachstum galt als Beweis dafür, dass die Führung die richtige Linie verfolgte und mit dem Strom der Geschichte schwamm. Wie Bakunin bemerkt hatte, maßten sich die »Chefingenieure« des Sozialismus an, Aufstände wie Maschinen steuern zu können; dass ihr autoritäres Agieren jede spontane Initiative von unten erstickte und früher oder später nur zur Lähmung von Bewegungen führen konnte, erkannten sie nicht. Damit entfernten sie sich von der Auffassung Joseph Dietzgens, eines Freundes von Marx, der eindringlich gemahnt hatte, ein Arbeiter, der an der Selbstbefreiung seiner Klasse teilnehmen wolle, müsse es zuallererst ablehnen, sich von anderen bilden zu lassen, und sich stattdessen selbst bilden. Genauso fremd war ihnen Bakunins Gedanke, dass die Revolution, »wenn sie in den Händen einiger regierender Personen konzentriert ist, […] unvermeidlich und unverzüglich zur Reaktion wird«.1 Im Namen ihres dirigistischen Programms betrieben die sozialdemokratischen Führer die »Schulung« der Massen mit den ihnen eigenen Mitteln – Partei und Gewerkschaft. Der geistigen und praktischen Selbstbestimmung der Individuen, ihrer Spontaneität, hielten sie die Autorität der »Wissenschaft« und die bürokratische Macht ihrer Organisationen entgegen. Dass deren Wachstum in die blinde Unterordnung der Arbeiterbewegung unter die Führer, ihre Lähmung im Angesicht der patriotischen Kehrtwende der Sozialdemokratie sowie schließlich in ihre Zerstörung durch das Kriegsgemetzel ab 1914 führen würde, schien undenkbar.

 

So wie die Pariser Kommune eine prägende Erfahrung für das sozialistische Denken gewesen war und die Kluft zwischen zentralistischen und antiautoritären Strömungen vertieft hatte, riefen die Streikbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts die scharfsinnigsten Köpfe der sozialistischen Bewegung auf den Plan, ließen die anarchistischen und antiautoritär-syndikalistischen Strömungen erneut zu wichtigen Protagonisten werden und erzeugten den ersten tiefen Riss in der Sozialdemokratie als dominierender Strömung des Marxismus. Sie eröffneten eine Phase lebhafter Debatten und weltanschaulicher Auseinandersetzungen, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielten und mit der Bewegung der Sowjets und Räte auch noch die Zeit der Revolutionen in Russland und Deutschland prägten.

SOZIALDEMOKRATIE UND MASSENSTREIKS

Die großen Streiks, die um die Jahrhundertwende in westeuropäischen Ländern, insbesondere in Belgien und Holland, ausbrachen, stießen sofort auf die Ablehnung der sozialdemokratischen Mehrheitsgewerkschaften. In der Spontaneität dieser Bewegungen, in der Initiative und direkten Aktion der Arbeiter, sahen die Gewerkschaftsführer eine erhebliche Gefahr für den vorgezeichneten Weg eines von oben gesteuerten, schrittweisen Übergangs zum Staatssozialismus. Dass die Streiks Massen von Arbeitern vom traditionellen Gehorsam gegenüber den Partei- und Gewerkschaftsspitzen abbrachten, entging ihnen nicht.

Eine Minderheit radikalerer Sozialisten, die den Streikbewegungen aufgeschlossen gegenüberstand, reagierte von der Führung völlig unerwartet mit vehementer Kritik auf diese Linie. Die massenhafte Auflehnung der Arbeiter setzte eine solche Kraft frei, dass die Parteiloyalität und -disziplin bis in die Führungsriegen hinein aufgebrochen wurde und eine ungekannte Dissidenz um sich griff. Da die sozialdemokratischen Parteiapparate und die auf Ausgleich bedachten großen Gewerkschaften, die nun von spontanen Bewegungen herausgefordert wurden, traditionell eng miteinander verflochten waren, näherten sich die Dissidenten unabhängigen, teilweise sogar anarchistisch orientierten kleineren Gewerkschaften an. In Holland brach eine von bekannten sozialdemokratischen Politikern und Theoretikern wie Herman Gorter und Anton Pannekoek angeführte Strömung um die Zeitschrift De Tribune bereits 1909 mit der sozialdemokratischen Partei, weil sie deren Haltung zu den neuen Streiks ablehnte. Der belgische Generalstreik von 1902 und der konservative Kurs der großen Gewerkschaften hatten auch in Deutschland zur Folge, dass eine kleine, aber einflussreiche Fraktion, zu der unter anderem Rosa Luxemburg gehörte, die Taktik des mächtigen SPD-Apparats hinterfragte. 1908 war Luxemburg allerdings noch davon überzeugt, ein Bruch mit der Partei bedeute unweigerlich, den Kontakt zu den Massen zu verlieren. Eine solche schmerzhafte Situation stand ihr zwar bereits vor Augen, vorerst hielt sie aber fest: »Die schlechteste Arbeiterpartei ist besser wie keine.«2 Was die Dissidenten in Holland und Deutschland antrieb, waren vor allem zwei Motive: Man musste die neuartige »revolutionäre Energie«, die sich in den großen Streiks zeigte, zunächst einmal zur Kenntnis nehmen und zweitens ihre Potenziale politisch analysieren.

Die Debatte, die sich durch eine in der Burgfriedenspolitik und Massenschlächterei des Ersten Weltkriegs mündende Krise der Sozialdemokratie zog, soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.3 Stattdessen geht es uns um das Verhältnis der neuartigen Orientierung radikal-marxistischer Fraktionen zu den Vorstellungen des revolutionären Syndikalismus. Beide entwickelten sich parallel zueinander. Was sie möglich machte und antrieb, war ein Zyklus sozialer Kämpfe im frühen 20. Jahrhundert, der im Gefolge der Russischen Revolution von 1905 eine Strömung hervorbrachte, die ausgehend von der Sowjetbewegung traditionelle Vorstellungen hinter sich ließ.

Im frühen 20. Jahrhundert vollzog sich ein Umbruch, der zunächst einer des Kapitalismus war: Die industrielle Revolution beschleunigte sich durch technische Entwicklungen, die die Unternehmenskonzentration vorantrieben und für die Lebensumstände der Arbeiter nicht ohne Folgen blieben. Mit dem Vormarsch der großen Industrie wurden die Arbeitsverhältnisse eines alten noch handwerklich geprägten Proletariats zertrümmert und ein neues proletarisches Milieu erzeugt, in dem harte und explosive Zustände herrschten. In Frankreich zeigte sich eine starke sozialistische Strömung um Jules Guesde wenig empfänglich für revolutionäre Spontaneität. Doch während die Mehrheit ihrer Anhänger den gewerkschaftlichen Kampf bereitwillig den Direktiven der politischen Partei unterordnete, gab es auch Teile, die den Gedanken einer direkten Souveränität der Arbeiter keineswegs ablehnten oder sogar auf dem Kongress der CGT (Confédération générale du travail) von 1906 für die revolutionär-syndikalistische Charte d’Amiens stimmten. Die reformistische Strömung um Jean Jaurès stellte sich die Veränderung der Gesellschaft dagegen als einen allmählichen Reformprozess vor, der auf Ausgleich und Kompromissen mit den Kapitalisten und dem Staat beruhen sollte. Aufgrund der harten Ausbeutungsbedingungen der damaligen Epoche kam es dennoch zu Streiks und Aufständen, mit denen Anarchisten und Anarchokommunisten ab dem späten 19. Jahrhundert an Einfluss in den Gewerkschaften gewannen. Ausgetragen wurde der Kampf zwischen den beiden Tendenzen in der 1895 gegründeten CGT. Während die eine den ersten Bemühungen um eine staatliche Zähmung des Kapitalismus folgte und einen »Realismus« der Reformen predigte, die sie sozialpartnerschaftlich mitgestalten wollte, lehnte die andere, klassenkämpferisch-syndikalistische Tendenz diesen Weg im Namen eines kompromisslosen Eintretens für die Interessen der Arbeiter ab. Eine wichtige Rolle in diesem Kräftemessen spielte von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg die Bewegung der Bourses du travail, die so zu einem Angelpunkt in der Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung in Frankreich wurde.

DIE BOURSES DU TRAVAIL ALS TEIL DER EMANZIPATIONSBEWEGUNG

Ursprünglich waren die Bourses ein wichtiges Element der revolutionär-syndikalistischen Strömung. Auch wenn sie zum Vorbild für ähnliche Organisationen wie die italienischen Camere del Lavoro wurden, blieben sie letztlich eine Besonderheit in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung.4 Die ersten Bourses wurden 1882 gegründet, ihr wirklicher Aufschwung erfolgte aber erst im Zuge der großen Streikwelle in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts.

Horizontal und auf geografischer Basis organisiert, standen die Bourses für das Bemühen, über Branchengrenzen hinweg Verbindungen und Solidarität zu schaffen. Sie waren das Modell für eine Praxis des unabhängigen Syndikalismus, die auf der Strategie größtmöglicher Basisdemokratie und direkter Aktion aufbaute. Mit dem republikanischen Gedanken der Zusammenarbeit zwischen den Klassen lehnten die Bourses auch die repräsentative Demokratie ab und hielten sich von politischen Parteien folgerichtig fern. »Die Aktivisten der Bourses du travail, besonders die revolutionären Syndikalisten und die Anarchisten, betrachteten die direkte Aktion als eine syndikalistische Praxis, bei der die Arbeiter ihren Kampf auf sämtlichen Ebenen und während jeder Etappe direkt selbst organisieren, ohne jeden Rückgriff auf Spezialisten der Vertretung und Verhandlung.«5 Entsprechend der syndikalistischen Vision von Bruch und Unabhängigkeit gegenüber der politischen Repräsentation bildeten die Bourses ein Zentrum des Widerstands gegen die Gewalt des Kapitalismus und übernahmen zugleich soziale Funktionen: Sie stellten eine Gegengesellschaft her, die Raum bot für Kultur und Bildung, Gesundheitsfürsorge, Berufsausbildung, Arbeitsvermittlung und Hilfe für Arbeitslose. Stärker als die übrige Arbeiterbewegung in Frankreich spielten sie damit eine ähnliche Rolle wie in Deutschland die Sozialdemokratie, die die Arbeiter mit einem gewaltigen Netz aus Organisationen und Strukturen von der Wiege bis ins Grab begleiten sollte. Angesichts der brutalen Ausbeutung und des staatlichen Autoritarismus im frühen 20. Jahrhundert spürten Arbeiter die Notwendigkeit solcher Zusammenschlüsse. Im sozialdemokratischen Modell blieb die proletarische »Gegengesellschaft« allerdings der Partei und ihren gewerkschaftlichen Transmissionsriemen untergeordnet; sie funktionierte nach den autoritären Prinzipien der großen Organisationen und respektierte den rechtlichen Rahmen des kapitalistischen Systems. Die Bourses dagegen sollten »den Kern jener gerechten Gesellschaft, für deren Aufbau wir alle kämpfen«, darstellen, wie der bekannte revolutionäre Syndikalist Fernand Pelloutier erklärte.6 Ihre breitgefächerte Praxis gestaltete sich nach den Prinzipien der direkten Demokratie sowie der Entfaltung der kollektiven Autonomie ihrer Mitglieder. Wie folgenreich dieser Unterschied war, zeigte sich drastisch, als die Sozialdemokratie im August 1914 eine Arbeiterklasse in das große patriotische Abschlachten führte, die sie zuvor ihren Organisationsformen unterworfen hatte.

Hatten die Bourses du travail zunächst eine solche emanzipatorische Bildungsfunktion, büßten sie aufgrund wachsender Abhängigkeit von der Lokalpolitik, besonders von den Gemeinde- und Stadtverwaltungen, ihren ursprünglichen Charakter zusehends ein, was es politischen Parteien erlaubte, sich an ihnen zu beteiligen und sie schließlich zu dominieren. Als tragende Elemente des revolutionären Syndikalismus entstanden, wurden sie zu Rädchen einer reformistischen, auf Integration zielenden Gewerkschaftsbewegung.

Aus dem Zusammenschluss der territorial organisierten Fédération des Bourses du travail mit der nach Branchen aufgebauten Fédération nationale des syndicats entstand 1902 der Gewerkschaftsbund CGT. 1906 votierte sie auf dem Kongress von Amiens nachdrücklich für eine revolutionär-syndikalistische Orientierung, die auf strikter Unabhängigkeit von Parteien beruhte und der direkten Aktion den Vorzug gab. Mit überwältigender Mehrheit erklärte der Kongress, man habe sich nicht »mit Parteien und Sekten aufzuhalten«, da der Syndikalismus sich selbst als ausreichend betrachte und – nach dem Generalstreik – die »Grundlage des Neuaufbaus« einer vom Kapital emanzipierten Gesellschaft sein werde.7

Diese Perspektive bestimmte die CGT bis in die späten 1910er Jahre, als die Niederlagen bei großen Streiks, die mit direkten Aktionen, Ausschreitungen, Sabotage und Zusammenstößen mit der Polizei einhergingen, den Niedergang der revolutionär-syndikalistischen Organisation anzeigten. Nach der Inhaftierung ihrer Führung und dem Scheitern des Generalstreiks vom August 1908 drohte ihr die Auflösung durch den republikanischen Staat. Binnen weniger Monate übernahm eine reformistische Führung das Ruder, die die Grundsätze der direkten Demokratie ablehnte. Das von Aufruhr und sozialer Unruhe geprägte Klima hielt allerdings noch bis zum Vorabend des Krieges an, besonders im Großraum Paris von 1908 bis 1910.8

Zum selben Zeitpunkt, Anfang 1908, wurden in Chicago die Industrial Workers of the World (IWW) gegründet. Ihre facettenreiche Geschichte prägte soziale und kulturelle Bewegungen in den Vereinigten Staaten nachhaltig und machte sie zum Vorbild für revolutionär-syndikalistische Organisationen. Während die IWW bestimmte Züge hatten, die sich auf die Besonderheiten der amerikanischen Gesellschaft zurückführen lassen, übernahmen sie im Grunde die Prinzipien der CGT von Amiens. Und auch wenn sie um die Form des Industriesyndikats einen ausgeprägten Organisationsfetischismus betrieben, praktizierten sie die direkte Aktion im großen Maßstab und bekämpften jede Zusammenarbeit mit den Unternehmern, insbesondere Betriebsvereinbarungen. In ihnen sahen die IWW einen Akt der Unterwerfung, der den Arbeitern auch und gerade in Momenten, in denen die Kapitalisten in der Klemme steckten, mit dem Streik ihre entscheidende Waffe nahm.