Der wilde Sozialismus

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SYNDIKALISTISCH-REVOLUTIONÄRER AUFSCHWUNG UND MARXISTISCHE DISSIDENZ

Die CGT von Amiens pflegte eine schroffe Ablehnung des Einflusses von Intellektuellen, in der man den Einfluss von Bakunins Denken erkennen kann. »Intellektuelle« stand hier für die Macht des Wissens und der Führer und somit für etwas, das der größtmöglichen realen Demokratie entgegengesetzt war. Der revolutionäre Syndikalismus vertrat dagegen die kollektive direkte Aktion als ein Moment der Selbstbildung und sah im Generalstreik das einzige Mittel der Machtübernahme und gesellschaftlichen Veränderung. Ein Theoretiker der Strömung war Georges Sorel, der eine scharfe Kritik des Avantgardismus formulierte und als einer der ersten den »reformistischen Marxismus« als autoritäre Ideologie angriff. Für Sorel, einen sehr ungewöhnlichen Marxisten, war der revolutionäre Syndikalismus »der ›proletarische Sozialismus‹ – im Gegensatz zu dem kleinbürgerlichen oder politischen Sozialismus, dem Sozialismus der Intellektuellen«.9 Er sah in ihm die Verwirklichung all dessen, »was am Marxismus wahr ist«, insbesondere des Gedankens, dass der Klassenkampf »ein vom Proletariat geführter sozialer Krieg« ist und die Gewerkschaft »das Instrument« dieses Krieges.10 Der revolutionäre Syndikalismus lehnte es ab, dass Revolutionen von Vertretern politischer Kräfte gelenkt werden; er war »apolitisch« im Sinne Bakunins. Im Zentrum seiner Vorstellungen stand der Gedanke einer direkten Souveränität der Arbeiter, einer Überwindung von Vermittlungen, Systemen der Repräsentation und dauerhafter Delegierung von Macht.

Liest man die Analysen zeitgenössischer radikaler Marxisten wie Rosa Luxemburg oder Anton Pannekoek, die beide den spontanen »Massenstreik« befürworteten, dann fällt die Vehemenz auf, mit der sie sich vom revolutionär-syndikalistischen Gedanken des »Generalstreiks« abzugrenzen versuchten. Das war geradezu obligatorisch, um in den sozialistischen Organisationen Gehör zu finden und dem Vorwurf zu begegnen, man sei zu den 1896 aus der Internationale ausgeschlossenen Strömungen übergelaufen. Besonders wichtig war ihnen dabei, der revolutionär-syndikalistischen Organisation die Fähigkeit abzusprechen, als »das Instrument des sozialen Krieges« und der Revolution aufzutreten. Für marxistische Sozialdemokraten blieb diese Aufgabe bekanntlich der Partei vorbehalten – auch für diejenigen, die zur Dissidenz gegenüber dem »offiziellen« Marxismus der Sozialdemokratie tendierten, aber noch vom Gedanken der Führungspartei geprägt blieben. Das gilt selbst für jemanden wie Pannekoek, trotz des Einflusses, den Domela Nieuwenhuis auf ihn gehabt hatte, der als bedeutendster Vertreter des holländischen »libertären Sozialismus« den Generalstreik propagierte.

Interessanterweise bestand in der Gewerkschaftsfrage eine Nähe zwischen solchen Marxisten und einigen Theoretikern des Anarchokommunismus. Errico Malatesta zum Beispiel, einer der umtriebigsten und anerkanntesten Köpfe dieser Strömung, wies in einer stichhaltigen materialistischen Analyse die Vorstellung zurück, die Institution Gewerkschaft könne sich in ein revolutionäres Organ verwandeln. Auf dem anarchistischen Kongress in Amsterdam 1907 erwiderte er dem CGT-Vertreter Pierre Monatte: »Der Syndikalismus, […] selbst wenn er sich mit dem Adjektiv ›revolutionär‹ schmückt, kann nichts anderes sein als ein legaler Zusatz, eine Bewegung, die gegen den Kapitalismus auf dem wirtschaftlichen und politischen Terrain kämpft, das Kapitalismus und Staat ihr aufzwingen. Es gibt daher keinen anderen Ausweg, und es kann nichts Dauerhaftes und Allgemeines erreicht werden, wenn nicht dadurch, dass er aufhört, Syndikalismus zu sein.« Und weiter: »Entgegen allen Erklärungen seiner glühendsten Anhänger enthält der Syndikalismus, aufgrund des Charakters seiner Funktionen, sämtliche Elemente der Degeneration, die die Arbeiterbewegungen der Vergangenheit korrumpiert haben. […] Mit einem Wort: Die Arbeitergewerkschaft ist ihrem Wesen nach reformistisch und nicht revolutionär.«11 Malatesta und andere Anarchokommunisten schrieben sich deshalb die Rolle zu, in die Gewerkschaften »revolutionären Geist hineinzutragen«, womit sie ihrerseits einem dirigistischen Prinzip folgten und sich zur Trennung zwischen gewerkschaftlicher Organisation einerseits und anarchistisch-politischer andererseits bekannten.

Die theoretischen Trennungslinien zwischen radikalen Marxisten und revolutionären Syndikalisten waren auch aufgrund einer unter Hochspannung stehenden realen Bewegung nicht immer klar bestimmt. Wenn Luxemburg zum Beispiel darauf beharrte, das Proletariat könne sich seine politische Bildung allein »aus der lebendigen politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in dem fortschreitenden Verlauf der Revolution«12 aneignen, wich sie damit nicht grundsätzlich vom Diskurs der CGT ab, der die direkte Aktion auch als ein Moment der Selbstbildung von Arbeitern begriff. Zwar hielt Luxemburg an dem Gedanken fest, eine spezifisch politische, von den Gewerkschaften getrennte Organisation sei notwendig, doch indem sie darstellte, wie Spontaneität nicht aus dem Nichts, sondern durch frühere Praxis und Ideen, aus den Erfahrungen der gesellschaftlichen Bewegung entstehe, begann sie die Führungsfunktion der Partei differenzierter zu fassen. Die Arbeiterklasse habe nunmehr die Fähigkeit und müsse »sich selbst im Laufe des revolutionären Kampfes aufklären, selbst sammeln und selbst anführen«.13 Mit der Überzeugung, dass »das ökonomische und das politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind«, ja »zwischen beiden eine völlige Wechselwirkung« bestehe, unterschied sie sich kaum vom revolutionären Syndikalismus.14 Auf der anderen Seite bezog Luxemburg immer deutlicher gegen die autoritären Konzeptionen des sozialdemokratischen Marxismus Stellung. So betonte sie seine »Überschätzung und die falsche Einschätzung der Rolle der Organisation im Klassenkampf«, die zumeist mit einer »Geringschätzung der unorganisierten Proletariermasse und ihrer politischen Reife« einhergehe, und kritisierte den Anspruch der Partei, das »Kommando« zu führen.15 Mit der Feststellung schließlich, dass »unser Organisationsapparat und unsere Parteidisziplin sich einstweilen noch besser im Bremsen als im Führen großer Massenaktionen bewähren«, vollzog Luxemburg in ihrem Denken einen wichtigen Schritt, der einen Bruch mit der Sozialdemokratie nicht nur denkbar, sondern unausweichlich erscheinen ließ.16 Die späteren Debatten während der Novemberrevolution von 1918 waren in dieser Kritik der zur Bremse gewordenen Führungspartei de facto in Keimform bereits enthalten. 1918/19 gingen radikale Marxisten dann dazu über, die Notwendigkeit der doppelten Organisation, und damit die Trennung zwischen politischem und ökonomisch-gewerkschaftlichem Kampf, infrage zu stellen und einheitliche Organisationen in den Betrieben aufzubauen.

DER TRIUMPH DER GEWERKSCHAFTLICHEN INTEGRATION UND SEINE KEHRSEITEN

Von 1902 bis 1908, als er sich noch auf massive Streiks und Demonstrationen stützen konnte und praktisch ein Klima des Aufstands herrschte, war der revolutionäre Syndikalismus mit einer gewaltsamen, blutigen Repression konfrontiert, die fatale Folgen hatte. In Frankreich zog die Schwächung der CGT am Vorabend des Ersten Weltkriegs das Scheitern der antimilitaristisch-internationalistischen Bewegung nach sich, in der viele ihrer Mitglieder aktiv waren.17 Dasselbe spielte sich etwas später in Amerika ab, wo eine regelrechte Terrorkampagne von Polizei und Unternehmern die IWW dezimierte, die dem Kriegsgemetzel das Banner des Internationalismus entgegenzuhalten versuchten.18

Für die herrschenden Klassen stand immer außer Frage, dass die Gewerkschaftsbewegung jenes »Element der gesellschaftlichen Konservierung« werden musste, von dem Malatesta gesprochen hatte. Mit aller Kraft stemmten sie sich daher dem Vormarsch eines Syndikalismus entgegen, der aus Gewerkschaften eine revolutionäre Waffe machen wollte. Erst mit dessen Auslöschung begann die Ära einer auf Verhandlungen, Verantwortung und Integration geeichten Gewerkschaftsbewegung.

Dreißig Jahre später kam Anton Pannekoek auf den Gegensatz zwischen diesen zwei Formen von Gewerkschaftsbewegung zurück und hob dabei vor allem ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf das Bewusstsein hervor. Der Triumph der gewerkschaftlichen Integration war laut Pannekoek unabdingbar dafür, dass die Interessen der Kapitalistenklasse als die allgemeinen Interessen der Gesellschaft akzeptiert werden: »Erstens, weil damit den Arbeitern die Illusion belassen wird, daß sie Herren ihrer eigenen Interessen sind. Zweitens, weil die starke Bande der Anhänglichkeit, die sich zwischen Gewerkschaften und Arbeitern aus der Tradition früherer Kämpfe ergeben haben, als eigene Schöpfung der Arbeiter, ihrer Opfer, ihres Kampfes und ihrer Begeisterung nachwirken und nun den Herren zugute kommen.«19 Im Verhältnis zu Gewerkschaften, deren Streiks in offiziell anerkannten Bahnen ablaufen, und andererseits zur Selbstorganisation spontaner Streiks wertete er den revolutionären Syndikalismus als eine »Zwischenform«. Besonders mit Blick auf die Geschichte der IWW argumentierte Pannekoek, solche Zwischenformen seien »Versuche […], die Gewerkschaftsbewegung durch Beseitigung ihrer Übelstände und Einhalten ihrer richtigen Grundsätze zu einem brauchbaren Kampfmittel umzubilden, die Führerschaft einer Beamtenbürokratie zu vermeiden, die Trennung durch enge Berufs- und Gewerbeinteressen aufzuheben und die Erfahrungen früherer Kämpfe zu bewahren und auszunutzen«.20 Aus Sicht des Rätetheoretikers waren Gewerkschaften dieses Typs nicht an eine bestimmte historische Phase gebunden, sondern konnten in ähnlicher Form auch zukünftig auftreten, besonders in Momenten einer Krise des modernen Kapitalismus. Bestimmte Umstände könnten die Ausgebeuteten vorübergehend dazu bewegen, über den lähmenden »Realismus« der integrierten Gewerkschaften hinauszugehen, aber zugleich an der Form als solcher festzuhalten und folglich kleine »kämpferische« Gewerkschaften zu gründen.

 

Mit dem voluntaristischen Vorhaben, Gewerkschaften zu Organisationen der direkten Aktion und des Umsturzes zu machen, stand der revolutionäre Syndikalismus in der historischen Nachfolge extremer Strömungen in der Französischen Revolution und in der Pariser Kommune. Was sich in ihm ausdrückte, war ein Bedürfnis nach umfassender und direkter Macht der Ausgebeuteten, der Gedanke der Selbstaufklärung durch die gemeinsame direkte Aktion sowie die Weigerung, die Macht an die von Bakunin verfluchten »Chefingenieure und Priester des Wissens« zu delegieren. Oder kürzer: Er trat für die Praxis der Selbstregierung ein. Diese Besonderheit des revolutionären Syndikalismus barg enorme Potenziale und überwog seine Schwächen bei weitem. Manche marxistische Strömungen fühlten sich von ihm genauso bedroht wie die Bourgeoisie, wenn auch natürlich aus anderen Gründen. Sie wollten in ihm etwas sehen, was die alte Debatte über Föderalismus und Zentralismus erneut auf die Tagesordnung setzte, obwohl die revolutionär-syndikalistischen Organisationen eine radikale Kritik an früherer Politik ausdrückten und vielmehr »Reaktionen auf die wachsende Bürokratisierung der sozialistischen Bewegung und ihre sozialpartnerschaftliche Politik darstellten«.21 Einige Jahre später bestärkten Streiks, die mit ihren insurrektionellen Zügen die europäischen Gesellschaften und Russland erschütterten, die linken marxistischen Minderheiten innerhalb der Sozialdemokratie in ihren Vorbehalten gegen die Unbeweglichkeit und Blindheit der Parteiführungen. Als sie das aus ihrer Sicht Neue an diesen Bewegungen herausarbeiteten, näherten sie sich faktisch den revolutionär-syndikalistischen Strömungen an.

Rosa Luxemburg, Anton Pannekoek, Herman Gorter und andere, weniger bekannte Figuren wie die holländische Sozialistin Henriette Roland Host (1869–1952), eine gefürchtete Rednerin und Agitatorin des frühen 20. Jahrhunderts, bewiesen Gespür für die Dynamik und den Reichtum einer revolutionären Spontaneität, die sie als neuartige »Massenenergie« verstanden. In Gesellschaften, in denen die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften machtvolle bürokratische Apparate geworden waren, musste die Bildung von direkt gewählten, gewerkschaftsunabhängigen Streikkomitees ohne Frage als Anzeichen einer neuen kollektiven Kraft gewertet werden, die mit der Unterordnung unter die Praxis der Gewerkschaften und die herrschende Politik brach.

Als der linke Flügel der Sozialdemokratie in solchen Streiks »die eigenständige Kraft, das eigenständige Handeln der Arbeiterklasse« entdeckte, ging er zu einer Kritik der institutionalisierten, auf Kompromiss, Versöhnung und Passivität beruhenden Gewerkschaften und der parlamentarischen Politik über, die aufs Engste mit der Bürokratisierung der sozialistischen Parteien zusammenhing. Die deutschen Mehrheitsgewerkschaften lehnten den Gedanken des Massenstreiks 1905 ab und es gelang ihnen auch, ihre Kontrolle über die Ausgebeuteten im legalen und ausgehandelten Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Unterdessen belebten jedoch die während der Russischen Revolution desselben Jahres spontan gebildeten Sowjets als neuartige, horizontal koordinierte Kampforganisationen die Debatte in der Sozialdemokratie. Luxemburgs Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) markierte dabei einen wichtigen Bruch mit den vorherrschenden Auffassungen des sozialdemokratischen Marxismus. Sie beharrte auf dem neuartigen Charakter der Streiks, die von Schottland bis Deutschland und von den Niederlanden bis nach Österreich ausbrachen und mit der Wahl unabhängig von den Gewerkschaften agierender Basiskomitees einhergingen. Diese Streiks, so Luxemburg, entstanden »meistens spontan, jedesmal aus spezifischen lokalen zufälligen Anlässen, ohne Plan und Absicht und wuchsen sich mit elementarer Macht zu großen Bewegungen aus.«22 An die Adresse der Parteiführung gerichtet bemerkte sie, dass »der Massenstreik nicht künstlich ›gemacht‹, nicht ins Blaue hinein ›beschlossen‹, nicht ›propagiert‹ wird, sondern daß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt«.23

Wie andere Figuren ihrer Zeit versuchte Luxemburg, die neuen Bewegungen zu begreifen, sie zu charakterisieren und Lehren aus ihnen zu ziehen. Die revolutionäre Energie, die sie an den Tag legten, hatte in ihren Augen mit spontanem Handeln und der Unabhängigkeit von Parteien zu tun – was zugleich die Schwerfälligkeit der großen bürokratischen Apparate deutlich machte, die weiterhin die Repräsentation und Führung der »Massen« für sich beanspruchten. So verteidigte etwa Kautsky als angesehener SPD-Theoretiker weiterhin mit Zähnen und Klauen den institutionellen Weg zum Sozialismus und die Möglichkeit einer Umgestaltung des bürgerlichen Staates: »das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung«.24

Die Kluft zwischen den beiden Modellen von Vertretung, einerseits durch gewählte Delegierte der Streikkomitees, andererseits durch Parlamentarier, wurde größer und schließlich unüberwindbar. Massen von Arbeitern kündigten den Führern die Gefolgschaft auf und versuchten sich an einer Praxis der Selbstregierung. Ihr Kampfgeist entsprach dem Projekt des revolutionären Syndikalismus, auch wenn dessen Organisationen inzwischen durch harsche staatliche Repression geschwächt waren.

Das Wüten des Krieges, in den die widersprüchliche Entwicklung des Kapitalismus die europäischen Gesellschaften trieb, erwies sich für die herrschenden Klassen aller Länder als die ersehnte Gelegenheit zur erneuten Festigung ihrer Macht. Nationalistische Hysterie und die aktive patriotische Kollaboration der Sozialdemokratie bereiteten den Manifestationen einer neuen Emanzipationsbewegung ein Ende. Die Ausgebeuteten wurden von der extremen Gewalt des Krieges zermahlen, der Schrecken hatte das Lager gewechselt: Er ging nicht mehr von irrationalen »Massen« aus, sondern von den Herren. »Jetzt fallen Millionen Proletarier aller Zungen auf dem Felde der Schmach, des Brudermordes, der Selbstzerfleischung mit dem Sklavengesang auf den Lippen«, notierte Luxemburg. »Auch das sollte uns nicht erspart bleiben. […] Aber wir sind nicht verloren, und wir werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben. Und sollte die heutige Führerin des Proletariats, die Sozialdemokratie, nicht zu lernen verstehen, dann wird sie untergehen, ›um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind‹.«25

KAPITEL 5
DIE REVOLUTION IN RUSSLAND (1905–1917)
DIE »UNVERFÄLSCHTE« DEMOKRATIE DER SOWJETS
DIE SOWJETS VON 1905

1920 schrieb der Anarchist Rudolf Rocker, die Räteidee sei »das bedeutsamste Zeichen der Zeit und ein Markstein in der Entwicklung der Arbeiterbewegung aller Länder«. Das Rätesystem betrachtete er als »die einzige Institution […], die zur Verwirklichung des Sozialismus führen kann«. Rocker erinnerte auch daran, dass die sozialistischen Arbeiterparteien nur »mit einer mitleidsvollen Geringschätzung auf diesen ›neuesten Utopismus‹« herabgeblickt hatten, und bemerkte in Anspielung auf Bakunins Äußerungen über die sozialdemokratische Ideologie des »wissenschaftlichen Sozialismus« ironisch: »Die ›Utopie‹ erwies sich stärker als die ›Wissenschaft‹.« Der Rätegedanke war laut Rocker bereits im 19. Jahrhundert formuliert worden und dann »mit dem revolutionären Syndikalismus […] zu einem neuen Leben« erwacht: »Besonders in der großen Aktionsepoche der französischen Syndikalisten von 1900 bis 1907 wurde der Rätegedanke aufs klarste und bestimmteste ausgebildet«, sodass »weder in Russland noch in irgend einem anderen Lande die Idee des Rätesystems um irgend einen neuen Gedanken bereichert wurde, den die Propagandisten des revolutionären Syndikalismus nicht schon vor 15 oder 20 Jahren entwickelt hätten«.1

Über diese Behauptung lässt sich streiten. Auch wenn es richtig ist, die Praxis des revolutionären Syndikalismus in der Tradition einer direkten Demokratie der Ausgebeuteten zu verorten, scheint es übertrieben, ihn mit einem »Rätesystem« zu identifizieren, das schließlich erst später, im Gefolge der Revolutionen in Russland und Deutschland, wirklich Gestalt annahm. In Die Rätebewegung in Russland, bis heute das Standardwerk zum Thema, bemerkte Oskar Anweiler über die Sowjets von 1905: »In beiden Fällen – als Grundlage des bolschewistischen Rätesystems und als Organisationsformen der Revolution – waren die Sowjets von 1905 nur Vorläufer der Räte von 1917. […] Bei der Entstehung der Sowjets in der ersten russischen Revolution spielte eine Reihe praktischer Gründe die Hauptrolle; weiter gesteckte Ziele entwickelten sich erst allmählich, und die Ausbildung einer besonderen Räte-Ideologie war erst der letzte Schritt.«2

Dennoch stimmt es, dass der revolutionäre Syndikalismus seine Gewerkschaften zugleich als Basisorganisationen verstand, die für den Aufbau einer neuen Gesellschaft ohne Ausbeutung notwendig seien. Damit stand er in frontalem Gegensatz zu dem Gedanken, politisches Bewusstsein müsse von außen durch kämpferische Intellektuelle in die Arbeiterklasse getragen werden, und kritisierte die Führungsrolle von Parteien als angeblichen Trägern des sozialistischen Projekts. Dessen ungeachtet verstand Rocker seinerseits das Rätesystem als Realisierung eines von den revolutionär-syndikalistischen Organisationen vorgefassten Plans. Außer Acht ließ er dabei die schöpferische Kraft der Massenstreiks im frühen 20. Jahrhundert, in deren Verlauf Sowjets, Streikkomitees und Räte auftauchten und sich verbreiteten. Sicherlich hatte der revolutionäre Syndikalismus Ideen und praktische Erfahrungen hervorgebracht, die im Denken und Handeln vieler Aktiver der Sowjet- und Rätebewegung präsent waren. Doch diese Bewegung entstand spontan und stellte einen qualitativen Sprung dar. Sie erzeugte eine andere Dynamik, da sich in ihr ein Reichtum an neuen Möglichkeiten ausdrücken konnte.

In den Wochen nach dem großen Generalstreik in Russland, der im Aufstand vom November 1905 kulminierte, bemühte sich ein junger Revolutionär, Vorsitzender des Arbeiterdelegiertenrats von Sankt Petersburg, jene neuartige Bewegung zu beschreiben, die – bei vollständiger Abwesenheit gewerkschaftlicher und politischer Organisationen – aus Fabrik für Fabrik spontan gewählten Arbeiterkomitees bestand: »Der Arbeiter-Delegiertenrat entstand als Erfüllung eines objektiven, durch den Gang der Ereignisse erzeugten Bedürfnisses nach einer Organisation, die die Autorität darstellen könnte, ohne Traditionen zu haben, einer Organisation, die mit einem Male die zerstreuten, nach Hunderttausenden zählenden Massen umfassen könnte, ohne ihnen viele organisatorische Hemmungen aufzuerlegen, nach einer Organisation, die die revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats vereinigen, die einer Initiative fähig und automatisch sich selbst kontrollieren könnte.«3 Dieser junge Revolutionär war kein anderer als Leo Trotzki, ein Kader der menschewistischen Richtung in der russischen Sozialdemokratie, die die Sowjets als Elemente einer »revolutionären Selbstverwaltung« betrachtete.4