Der wilde Sozialismus

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NEUE BEWEGUNGEN ODER UNREIFE AKTIONEN?

Die russische Rätebewegung von 1905 und die großen politischen Streiks in Westeuropa von 1908 und 1910 hatten für die verschiedenen Strömungen des organisierten Sozialismus unterschiedliche, aber durchweg weitreichende Folgen. In den Parteien der marxistischen Sozialdemokratie rissen sie erstmals tiefe weltanschauliche Gräben auf. Die kollektivistisch-anarchistischen und revolutionär-syndikalistischen Tendenzen nahmen aktiv an den Massenbewegungen teil, wenngleich ihre kleinen Organisationen von deren Schwung und der Bildung von Komitees, Räten und Sowjets häufig überrollt wurden. Die Räte waren ohne Zweifel zum »Markstein« der Arbeiterbewegung geworden, wie Rocker meinte, und führten die damaligen Debatten über die Idee des Sozialismus an einen Wendepunkt. Was hier Gestalt annahm, war eine soziale Bewegung neuen Typs, die den Kämpfen durch bislang ungekannte Aktions- und Organisationsformen und Ideen eine andere Orientierung gab. Spontan und autonom, kam sie den antiautoritären Strömungen, besonders den Anarchisten, entgegen, die antizentralistische Prinzipien in ihr ausmachten. Für die Mehrheitsorganisationen, die schwerfälligen Apparate der Sozialdemokratie und der mit ihnen verbündeten Gewerkschaften, bedeutete sie dagegen eine starke Verunsicherung. Während einige kluge Köpfe in ihren Reihen, die ein offenes Ohr für die wirkliche Bewegung der Ausgebeuteten hatten, in der gewaltigen Energie und dem Erfindungsreichtum der Massenstreiks Anzeichen eines neuartigen revolutionären Drangs sahen, gerieten die Parteispitzen in beträchtliche Schwierigkeiten. Mit Blick auf die russische Revolution von 1905 ermahnte Rosa Luxemburg ihre Kollegen in der SPD-Führung: »Wird es in Deutschland aus irgendeinem Anlaß und in irgendeinem Zeitpunkt zu großen politischen Kämpfen, zu Massenstreiks kommen, so wird das zugleich eine Ära gewaltiger gewerkschaftlicher Kämpfe in Deutschland eröffnen, wobei die Ereignisse nicht im mindesten danach fragen werden, ob die Gewerkschaftsführer zu der Bewegung ihre Zustimmung gegeben haben oder nicht. Stehen sie auf der Seite oder suchen sich gar der Bewegung zu widersetzen, so wird der Erfolg dieses Verhaltens nur der sein, daß die Gewerkschaftsführer, genau wie die Parteiführer im analogen Fall, von der Welle der Ereignisse einfach auf die Seite geschoben und die ökonomischen wie die politischen Kämpfe der Masse ohne sie ausgekämpft werden.«5

Auch Kautsky zählte zu den prominenten Sozialdemokraten, die die Kraft der Massenstreiks erkannten. Allerdings sah er in ihnen kein Zeichen einer neuen Politik. Da sie sich der Kontrolle der Partei entzogen, wertete er sie im Gegenteil als rückständige und schädliche Aktionen. Theorie und Praxis des Avantgarde-Modells prägten die Geisteshaltung selbst noch der brillantesten Köpfe der Sozialdemokratie. Ohne Führer, ohne politische Lenkung konnten die Massen demnach nur blinde, destruktive Kräfte sein, wie Gustave Le Bon behauptet hatte. Das sozialistische Bewusstsein konnte nicht im gemeinsamen Kampf entstehen oder erneuert werden, es musste den »Massen« von außen gebracht werden – durch die »wissenschaftlichen Denker« der Partei. Spontane Bewegungen und autonome Initiativen belegten in den Augen der Mehrheitssozialdemokratie die Unreife der kämpfenden Ausgebeuteten; ihre Reife konnte sich nur darin ausdrücken, dass sie an die Wahlurnen gingen, sich gewerkschaftlich betätigten und gegenüber den Programmen und Anordnungen ihrer Führer folgsam zeigten.

Anton Pannekoek, damals noch wie Kautsky in der europäischen Sozialdemokratie aktiv, erkannte in diesen Streiks und Bewegungen nicht anders als Luxemburg eine neue Aktionsform. In einer für ihn charakteristischen Weise bestimmte er das Phänomen in Abgrenzung zum marxistischen Diskurs der Sozialdemokratie, die den Zusammenhalt der alten Apparate als der einzig wirklichen, konkreten und denkbaren Organisation verteidigte: »Der Organisationsgeist ist in der Tat die bewegende Seele, die dem Körper erst Lebenskraft und Aktionsfähigkeit gibt. Aber diese unsterbliche Seele kann nicht nach christlicher Theologie leiblos im Himmelreich schweben; sie schafft sich immer wieder den Organisationskörper, weil sie die Menschen, in denen sie lebt, zum gemeinsamen, organisierten Handeln zusammenfügt. Dieser Geist ist nicht etwas Abstraktes, Vorgestelltes im Gegensatz zu der ›konkreten wirklichen Organisation‹, der bestehenden Vereinsform, sondern er ist genau so konkret und wirklich wie diese.«6 Nicht ohne Erstaunen sah sich Pannekoek, der der Kritik des Anarchismus zahllose Seiten gewidmet hatte, von Kautsky als Sympathisant des revolutionären Syndikalismus hingestellt. Enttäuscht von solcher Blindheit erwiderte er, falls dies zutreffe, dann »um so besser für den Syndikalismus«.7

DIE BEWEGUNG ÜBERHOLT DIE ORGANISATIONEN

Die politische Erschütterung, die vom Auftreten neuer Bewegungen ausging, traf nicht nur die SPD; auch in Russland wurden die beiden Strömungen der Sozialdemokratie, Menschewiki und Bolschewiki, sowie die Anarchisten von den Ereignissen der Revolution von 1905 überrollt.

Meutereien im Heer, Bauernaufstände und Streiks von Arbeitern gipfelten im Oktober in einem Generalstreik, während im Zuge der ersten Enteignungen von Land und vor allem von Fabriken ein riesiges Netz von Sowjets entstand, dessen Mitglieder von den Bauern und Arbeitern direkt gewählt wurden. Was diese Bewegung der Selbstorganisation sicherlich förderte, war die Schwäche der Gewerkschaften. Vor allem wurde sie aber von der Tradition der Dorfgemeinschaft geprägt, der Obschtschina, die im Bewusstsein breiter Volksschichten stark verankert war und besonders auf dem Land einen Impuls zur Bildung von Räten gab. Die Bedeutung der Obschtschina zeigte sich unter anderem an der Reaktion auf die Agrargesetze, die Premierminister Stolypin im November 1906 als »wichtigste von der Konterrevolution durchgeführte Sozialreform«8 erließ, um die Dorfgemeinschaften des Zarenreichs zugunsten des Privateigentums an Grund und Boden zu schwächen. Besonders in der Ukraine bildete der Widerstand gegen die Zerstörung des ländlichen Gemeineigentums ein starkes Ferment des Aufruhrs, der eng mit der von Nestor Machno angeführten kollektivistischen Bewegung verbunden war. Marx hatte 1881 in seiner mittlerweile bekannten Korrespondenz mit russischen Populisten die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass die Dorfgemeinschaft unter bestimmten revolutionären Bedingungen »der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands« werden könne, »ein Element der Überlegenheit über die Länder, die noch vom kapitalistischen Regime versklavt sind«.9 Noch nicht vorstellen konnte er sich dagegen, dass ihre egalitären Fundamente in einer moderneren Gestalt auftreten könnten – in Form der Sowjets. Mit größeren Potenzialen und einem gesellschaftlichen Wirkungsradius, der sich nicht nur auf das Land, sondern auch auf die Städte erstreckte, galt für die Sowjets, was Marx über die Dorfkommunen geschrieben hatte: Sie konnten »der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert«.10

Die Anarchisten, die in dem riesigen Land genauso minoritär waren wie die anderen politischen Kräfte, mit Ausnahme der Sozialdemokraten, schienen diesen neuen Organisationsformen anfangs keine große Bedeutung beizumessen, beteiligten sich aber dennoch nach Kräften an ihnen; die Räte entsprachen ihrer Vorstellung von einer spontanen Massenbewegung und Selbstorganisation, wie sie sie schon immer propagiert hatten.11

Auch die Menschewiki, die Minderheitsströmung der russischen Sozialdemokratie, beteiligten sich an den Sowjets.12 Allerdings folgten sie dabei einem deterministischen Geschichtsverständnis, nach dem Russland zunächst zwingend die Etappe der bürgerlichen Revolution durchlaufen musste; der »objektive Geschichtsverlauf« sah ein Wachstum der Arbeiterklasse und den Aufbau von Gewerkschaften vor. Aus einer solchen Perspektive betrachtet fiel den Sowjets die Rolle zu, Druck von unten auszuüben; sie stellten eine Gegenmacht dar, die die Aufgabe hatte, den bürgerlichen Staat zu demokratisieren.13 Als eine Art Gewerkschaft im Werden verstanden, waren sie natürlich nicht dazu berufen, an die Stelle der Partei zu treten. Da die Partei aber schwach war, konnten die Sowjets sie zeitweilig vertreten und Strukturen bereitstellen, um Kader für sie heranzuziehen. Für die Menschewiki waren die Sowjets insoweit eine spontan gebildete, vorübergehende und apolitische Form, wie es ihnen an einer organischen Verbindung mit der Partei fehlte.

Die Bolschewiki als antireformistische Mehrheitsströmung der russischen Sozialdemokratie unterstützten die Sowjets von 1905 unterdessen nur bedingt und zurückhaltend. Was sie von den Menschewiki vor allem trennte, war die Frage, welche Art von Revolution in Russland möglich sei. Einig waren sich die beiden Strömungen darüber, dass die materiellen Voraussetzungen für eine sozialistische Veränderung in der kapitalistisch kaum entwickelten russischen Gesellschaft nicht gegeben waren; der Umsturz der alten Eigentumsordnung auf dem Land konnte nur eine bürgerliche Revolution hervorbringen. Während aber die Menschewiki diesen Determinismus zu Ende dachten und eine bürgerliche Revolution zur unvermeidbaren Zwischenstufe erklärten, hielten es die Bolschewiki als revolutionäre Voluntaristen für möglich, über die demokratische Übergangsstufe hinaus in Richtung Sozialismus zu marschieren. Dabei zählten sie allem voran auf die Propagierung der Revolution in Europa. Zugleich war Lenin der Auffassung, dass die bürgerliche Revolution in Russland nur dann zu einer sozialistischen vorangetrieben werden könne, wenn ihre Aufgaben von einer revolutionären Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft übernommen würden – wobei »revolutionäre Diktatur« wohlgemerkt »Diktatur der revolutionären Partei« bedeutete. Hier finden sich bereits die Grundannahmen des Gedankens einer »permanenten Revolution« als Abfolge von Etappen und Übergangsphasen, der später die bolschewistische Strategie und Taktik prägen sollte. Anders als die Menschewiki, die den Sowjets nur die Rolle eines Druckmittels für Reformen und die Modernisierung des bürgerlich-demokratischen Staates zuerkannten, wiesen die Bolschewiki ihnen somit einen Platz bei der Vorbereitung der Revolution und dem Aufbau eines neuen, der revolutionären Partei unterworfenen Staates zu.

 

LENINS SKEPSIS UND TROTZKIS GESPÜR FÜR DIE RÄTE

Lenin pflegte in seinen Schriften eine mehrdeutige Haltung zur Rolle der Sowjets, die unterschiedliche und sogar widersprüchliche Interpretationen zuließ. Bisweilen unterstützte er in den Debatten der Sozialdemokratie Rosa Luxemburg. Doch wenn er die schöpferische Kraft revolutionärer Massen anerkannte, dann nur so weit, wie es seinem Kampf gegen den menschewistischen Reformismus entgegenkam. 1910 ergriff er im Streit über die revolutionäre Spontaneität gegen Luxemburg und für Kautsky Partei, der weiterhin als ein Gegner der Reformisten galt.14 Er teilte Kautskys Skepsis gegenüber spontanen Organisationen, da er in ihnen die Gefahr von Anarchismus und Anarchosyndikalismus ausmachte, auf deren Bekämpfung die Partei stets vorbereitet sein musste. Dass sich hinter dieser weltanschaulichen Kontroverse ein viel tieferer Bruch innerhalb der marxistischen Strömung verbarg, ahnten die Bolschewiki damals noch nicht. Während sie gegenüber dem menschewistischen Gradualismus die radikal-voluntaristische Taktik der Machteroberung vertraten, blieben sie dem organisatorischen Dualismus von Partei und Gewerkschaft treu, der das Rückgrat der Sozialdemokratie bildete. Vor allem aber lehnten sie es entschieden ab, die der politischen Partei vorbehaltene Rolle zu hinterfragen: Sie kannte den Inhalt des Sozialismus, verbreitete ihn und musste »die Massen« führen. Und schließlich übergingen oder übersahen Menschewiki wie Bolschewiki das Neuartige der Sowjets, die ein System der direkten Vertretung, bei dem die Kämpfenden unmittelbar die Macht kontrollieren und ihr Handeln selbst bestimmen, nicht nur forderten, sondern auch in die Tat umsetzten.

Letztlich wurden die Sowjets von 1905 mal als revolutionäre Organe akzeptiert, dann wieder als apolitisch und konfus verworfen. Lenin war »entschlossen, sie zu bändigen, seinem Willen zu unterwerfen und auf das von ihm gewünschte Ziel zu lenken. […] er kann sich die Sowjets nur als gelenkte Organisationen vorstellen, sie sind für ihn Führungsinstrumente der Partei innerhalb der Arbeitermassen, nicht echte Formen einer Arbeiterdemokratie.«15

Trotzki, der 1905 noch den Menschewiki nahe stand, zeigte sich wie erwähnt aufgeschlossener für den spontanen und demokratischen Charakter der Sowjets. Nicht nur begriff er, dass sie sich unabhängig von Parteien und den schwachen Gewerkschaften bildeten, er war auch einer der wenigen russischen Marxisten, die ihnen in Übereinstimmung mit Luxemburg und anderen linken Dissidenten der Sozialdemokratie die Fähigkeit zugestanden, etwas Neues zu schaffen und mit dem jakobinischen Modell zu brechen. Die Sowjets waren laut Trotzki »die echte unverfälschte Demokratie – […] ohne Berufsbürokratie, mit dem Recht der Wähler, zu jeder beliebigen Zeit ihrem Deputierten den Abschied zu geben«.16 Alexander Parvus, ein enger Gefährte von ihm, meinte sogar: »In dem Rat der Arbeiterdeputierten in Petersburg kam zum erstenmal eine Organisation zur Geltung, die nicht nur zerstörend, sondern auch aufbauend wirkte.«17

FEBRUAR 1917 UND DIE NEUEN AUFGABEN

Erneut brachen die Bewegung der Selbstorganisation und die Erfahrungen einer direkten Ausübung der kollektiven Souveränität in das politisch-institutionelle Leben von Parteien und Gewerkschaften ein; die Folge waren Debatten und scharfe Konflikte innerhalb wie auch zwischen den sozialistischen Organisationen. Gerade in den zentralistisch-jakobinischen Strömungen führte die russische Rätebewegung zu ideologischen Korrekturen, Umgruppierungen, Wechseln der politischen Taktik und zu Brüchen. Dabei waren die Revolution von 1905 und die Massenstreiks in Westeuropa nur der erste Moment einer Infragestellung. Sie verschärfte sich drastisch mit der Russischen Revolution von 1917.

1905 traten die Sowjets anfangs als schlichte Kampforgane auf. Mit ihrer Ausbreitung und der Schwächung staatlicher Institutionen waren sie aber bald gezwungen, sich mit allgemeineren Problemen auseinanderzusetzen, die über die Produktion hinaus die gesamte Einrichtung der Gesellschaft betrafen. Wie zuvor die Massenstreiks ließ die Bewegung mit ihrer Dynamik und Stärke die Trennung zwischen wirtschaftlichem und politischem Kampf hinter sich. Als das zaristische Regime wieder die Oberhand gewann, verschwanden die Sowjets jedoch so schnell, wie sie entstanden waren. Das Regime blieb allerdings schwach und konnte seine Kontrolle über die Gesellschaft bis zum Kriegsausbruch 1914 nicht wirklich festigen. Ab 1915 wiederum verdrängte der soziale Unmut den patriotischen Eifer und eine erneute gesellschaftliche Explosion schien unvermeidbar. Nach Wochen des Aufruhrs gegen die Massenschlächterei, die Hungersnot und das allgemeine Elend führte ein Generalstreik im Februar 1917 den Sturz des Zarismus herbei, an dessen Stelle unverzüglich eine provisorische Regierung trat. Auf dem Land wurden die Eigentumsverhältnisse umgewälzt, an der Front kam es zu Meutereien, begleitet von der Bildung von Soldaten- und Arbeiterräten; das Heer befand sich in rapider Auflösung, heimkehrende Gruppen von Soldaten propagierten in den Dörfern die soziale Revolution, während in den Industriezentren die Fabrikbesetzungen um sich griffen. Als der Regierungs- und Verwaltungsapparat des alten Regimes zusammenbrach, trat zugleich die Schwäche der provisorischen Regierung zutage. »Nun standen die Sowjets vor einer neuen Aufgabe. Aus Organen der Revolution mußten sie zu Organen des Wiederaufbaus werden.«18

Anders als 1905 breitete sich die Februarrevolution wie ein Lauffeuer aus und erfasste insbesondere die Dörfer. Zugleich waren die Räte, wie Oskar Anweiler hervorgehoben hat, nun deutlich stärker von politischen Parteien abhängig. Sie gingen 1917 nicht direkt aus Massenstreiks in den Industriezentren oder aus Landbesetzungen hervor, sondern waren eher das Ergebnis eines politischen Aufstands gegen Zarismus und Krieg. Sehr schnell wurden sie zum bevorzugten Betätigungsfeld von Kadern der politischen Organisationen, die dort um die Vorherrschaft rangen – in einer merkwürdigen Situation der Doppelherrschaft: »Das besondere Kennzeichen der Februarrevolution war […] der eigenartige Doppelcharakter der aus ihr hervorgegangenen staatlichen Macht: das Nebeneinander der Provisorischen Regierung und des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrates.«19

Alexander Kerenski, der als gemäßigter Sozialist der Provisorischen Regierung vorstand, sah die Sowjets als unvollkommene, vorübergehende Gebilde: Sie konnten keine Regierungsorgane sein, sondern »bloß Instrumente […], die dem Prozeß des Überganges zu einer neuen demokratischen Ordnung zu dienen hätten«.20 Mit anderen Worten: Das sozialdemokratische Verständnis der Räte hatte sich seit 1905 keinen Millimeter weiterentwickelt. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre (SR), die die Mehrheit in den Räten stellten, erkannten zwar ihre Rolle beim Sturz des alten Regimes an, bestritten aber, dass sie Träger neuer Perspektiven sein könnten; sobald die Provisorische Regierung installiert sei, sollten die Sowjets abtreten. Die Bolschewiki und die linke Fraktion der SR verfolgten eine andere Strategie: Sie wollten die Räte für die Übernahme der politischen Macht instrumentalisieren und zum Fundament eines neuen revolutionären Staates machen. Wie Anweiler bemerkte: »Die Frage der Machteroberung durch die Sowjets wurde identisch mit ihrer Bolschewisierung.«21 Diese Identität bedeutete, den Sowjets ihren eigenständigen und neuartigen Charakter zu nehmen; sie kündigte bereits ihre Kontrolle durch politische Organisationen und schlussendliche Auflösung im revolutionären Staat an.

ALS DER BOLSCHEWISTISCHE VOLUNTARISMUS DIE ANARCHISTEN VERFÜHRTE

1917 war Lenin bemüht, Marx’ Analysen der Kommune von 1871 in ein zeitgemäßes Gewand zu kleiden. Die Sowjets beschrieb er nun als revolutionäre Organe in einer Situation der Doppelherrschaft; er sah »eine geradlinige Entwicklung von der Kommune von 1871 über die Sowjets von 1905 zu den Räten von 1917 – sie alle seien ihrem Wesen nach ein neuer proletarischer Staat, der eine höhere Form als die bürgerlich-demokratische Republik darstelle«.22 Damit schien Lenin sich zeitweilig von der klassisch marxistischen Position der Sozialdemokratie zu entfernen, derzufolge nur eine zentralisierte Macht den Übergang zum Sozialismus bewerkstelligen könne. Allerdings waren die Frontverläufe der Debatte in der bolschewistischen Partei nicht immer klar. Zwar erkannte die große Mehrheit die grundsätzliche Bedeutung der Sowjets an, ihre Fähigkeit zur Machtübernahme wurde aber bezweifelt. Teile der bolschewistischen Führung sahen in Lenins taktischer Wende sogar eine Abkehr vom jakobinischen Weg zugunsten anarchistischer Auffassungen. Auch bei den Menschewiki wurden Stimmen laut, die Lenin und seinen Mitstreitern vorwarfen, unter dem Einfluss bakunistischer Gedanken zu stehen; der ausgeprägte Avantgardismus und Voluntarismus der Gruppe um Lenin stellte in ihren Augen nichts anderes als Anarchismus dar. So meinte ein russischer Sozialdemokrat 1919: »Ihre ganze Ideologie war aufs tiefste durchdrungen von den Ideen des utopistischen Sozialismus und sogar des echtesten Anarchismus.«23 Noch simpler formulierte es einer seiner deutschen Glaubensgenossen: »Die Theorie des Bolschewismus oder, genauer, des Leninismus ist nichts anderes als ein Rückfall in den Bakunismus.«24 In Wirklichkeit bot die Sowjetbewegung Lenin nur eine Gelegenheit, seine politische Wendigkeit unter Beweis zu stellen, indem er die eigenen Positionen an sie anpasste. Von der Notwendigkeit der Partei für die Machteroberung blieb er voll und ganz überzeugt, die Räte schienen ihm jedoch geeignet, ihr dabei zum Erfolg zu verhelfen. Dass das letzte Wort bei der Partei lag, stand außer Frage. Mit dem militärischen Sturz der Provisorischen Regierung im Oktober 1917 wurde der »2. Allrussische Sowjetkongreß […] von den Bolschewiki vor die vollendete Tatsache der Machteroberung durch die Bolschewiki und nicht durch die Sowjets gestellt«.25 Die Bolschewiki begriffen, dass die Sowjetbewegung einen Bruch mit dem traditionellen Reformismus darstellte, und demonstrierten ihr taktisches Geschick, indem sie sie zur Begründung der eigenen Macht benutzten.

Strömungen, die der Russischen Revolution einen »proletarischen« Charakter zusprechen, heben meistens die Rolle der bolschewistischen Partei hervor, die schließlich »das revolutionäre Bewusstsein des Proletariats« verkörpern sollte. Dagegen ließe sich nachweisen, dass ein solcher proletarischer Charakter vielmehr im Auftreten der gegen den Reformismus gerichteten Rätebewegung bestand. Die Russische Revolution zeigte »erstens, wie eine industrielle Arbeiterklasse durch gigantische Streikaktionen eine absolute Staatsmacht unterhöhlen und zerstören kann; und zweitens, wie sich in solchen Aktionen die Streikkomitees zu Arbeiterräten entwickeln, zu Organen des Kampfes und der Selbstverwaltung, die politische Aufgaben und Funktionen übernehmen«.26

In revolutionären Phasen sind die politischen Kräfte mit Situationen konfrontiert, die sich komplizierter darstellen als Analysen, Programme und Proklamationen. Vormals klare Positionen werden von den dringlichen Aufgaben und Erfordernissen des Augenblicks über den Haufen geworfen, Kräfte finden sich zusammen, die eigentlich im Gegensatz zueinander stehen. So waren auch zu Beginn der Revolution im Februar 1917 die Abgrenzungen zwischen anarchistischen Strömungen und den Bolschewiki auf dem Terrain der Kämpfe und Aktionen nicht immer trennscharf gezogen. Anarchisten, die linken Sozialrevolutionäre und die Bolschewiki standen Seite an Seite gegen die von den Menschewiki unterstützte Provisorische Regierung. Das erklärte Ziel der Bolschewiki bestand allerdings in der Übernahme und Sicherung der politischen Macht, weshalb ihre Gegnerschaft zur Regierung phasenweise zögerlicher ausfiel als die der Anarchisten, um die zu übernehmende staatliche Macht nicht gänzlich zu zerstören. Wie der Anarchist Volin bemerkte, verhielten sie sich mit ihrem Kalkül wie echte Politiker: »Eine Legalisierung der Bolschewistischen Partei durch die Konstituierende Versammlung hätte ihre Position im Innern wie auch im Ausland rasch und nachhaltig gestärkt. Für den anderen Fall fühlte sie sich stark genug, sich ihrer so bald wie möglich zu entledigen.«27

 

Dennoch ließen sich viele Anarchisten davon verwirren, dass zwischen dem leninistischen Voluntarismus und der anarchistischen direkten Aktion zeitweilig eine gewisse Nähe bestand. Die Maßnahmen der bolschewistischen Regierung, die die Dorfgemeinschaften sowie die Enteignung und Verwaltung von Fabriken durch Sowjets unterstützten, fanden ebenso wie die Dekrete über die Arbeiterkontrolle auch bei Anarchisten Zuspruch. Beim Sturm auf das Petersburger Winterpalais im Oktober 1917 standen die Anarchisten in vorderster Front. Und auch als die Bolschewiki im Januar 1918 die Konstituierende Versammlung auflösten und scharf gegen die Menschewiki vorgingen, hatten sie Rückhalt bei Anarchisten. Anfangs kämpfen viele Anarchisten auch in der Roten Armee. Exemplarisch dafür war der Fall von Gregori P. Maximoff, einem der umtriebigsten Anarchosyndikalisten in Russland. Er schloss sich 1919 der Roten Armee an, wurde später aber wegen Befehlsverweigerung inhaftiert, als die Bolschewiki dazu übergingen, ihre Truppen als Polizeikräfte gegen Arbeiter einzusetzen. Zum Tode verurteilt, kam Maximoff dank der Intervention der Metallarbeitergewerkschaft wieder frei. Lenins Rhetorik in Staat und Revolution, seine wiederholten Loblieder auf die direkte Arbeiterdemokratie der Sowjets und das erklärte Vorhaben, einen Staat nach dem Vorbild der Pariser Kommune aufzubauen, ließen Unklarheit über seine Positionen aufkommen. In etlichen Ländern wurde die Russische Revolution – aus der Ferne und mangels Informationen – anfangs für eine anarchokommunistische gehalten, was mitunter sogar dazu führte, dass Teile der anarchistischen Bewegung kommunistische Parteien gründeten.28

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