"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"

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Eine kulturelle und künstlerische Erneuerung im sozial-ethischen Sinne hätte der Parteisozialismus in seiner Beschränkung auf wirtschaftliche und politische Probleme freilich nicht durchführen können. Erst die Hilfe einer Gruppe von Individualisten, die sich aus allen Gesellschaftskreisen zusammensetzten und nur durch ihre sozialistischen Neigungen verbunden waren, vermochte das zu tun. Diese Repräsentanten des sozialen Gewissens der Zeit bildeten, ohne dass man sie gesellschaftlich hätte einordnen können, eine Art anonyme Partei. Es war eine Partei der Jugend, in der die akademische besonders vertreten war und sich hervortat. Sie war kaum ein Feind des Kapitalismus im sozialdemokratischen Sinne, sie kämpfte nur gegen die Macht des Kapitals über die geistige Freiheit. Erfüllt von nationalem Stolz, zog sie gegen den nationalen Illusionismus zu Felde. […] Das ewige Preisen und Beschönigung nationaler Tugenden und der zur Macht und Reichtum führenden Errungenschaften bedeuteten für sie hauptsächlich einen Rücktritt. […] Diese Partei verfolgte vor allem soziale und ethische Ideale. Und sie fand hauptsächlich auf dem künstlerischen Gebiet für das Zustandekommen einer sozialen Kultur zusammen. So war es zunächst mehr ein Programm der Vereinigung […]. (7)

Die erste Proto-Lerngemeinschaft der Münchner Moderne, welche die vorher erwähnten Züge trägt, entwickelte sich um die Literaturzeitschrift „Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die am 1. Januar 1885 gegründet wurde. Die Beschreibung ihrer Entstehung und Veränderung soll dem Zweck dienen, die Probleme der konkurrierenden Künstlerkreise vor Augen zu führen, die von ihr ausgingen.

Die „Gesellschaft“ bildete sich weniger aus gemeinsamen Ideen oder Projekten als vielmehr aus der generellen Verurteilung des als steril empfundenen Epigonen-Klassizismus der „offiziellen“ Kultur. Darüber hinaus strebten alle Mitglieder danach, ein politisches Diskussionsforum für die Moderne natura­listischer Prägung zu errichten. Die epochemachende Nähe zwischen Kunst und soziopolitischen Bemühungen kennzeichnete bereits sowohl die Zeitschrift als auch die an ihr gebundene „Gesellschaft für modernes Leben“, welche am 29. Januar 1891 in der Gaststätte Isarlust ihre erste öffentliche Veranstaltung durchführte. Wenn der Klassizismus von Heyse und Kollegen eine Flucht im wirklichkeitsentfernten Idealismus gefunden hatte, wollten Michael Georg Conrad – Hauptvertreter des Naturalismus in München – Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Hanns von Gumppenberg und der von vielen als Inbild des modernen Dichters verehrte Detlev von Liliencron »die künstlerische Produktion mit einem Engagement für die „Verbesserung der Lebensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung vernünftiger Lebensgestaltung“ und damit Kunst und Politik verbinden« (Wilhelm 1993: 16). Schriftsteller, Journalisten, Dramatiker und andere Künstler verlangten also ein gesellschaftliches, ja politisches Engagement, ohne damit parteipolitisch zu sein. Der erste Paragraph der Satzung der „Gesellschaft für modernes Leben“ lautete:

Zweck der Gesellschaft ist die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten […] durch Vortragsabende, Errichtung einer freien Bühne, Veranstaltung von Sonderausstellungen von Werken bildender Kunst, Herausgabe einer Zeitschrift und sonstiger literarischer Veröffentlichungen. Politische Tendenzen irgendwelcher Art stehen der Gesellschaft fern. (zit. nach Wilhelm 1993: 18)

Wenn man die Struktur dieser Gemeinschaft näher betrachtet, erkennt man zwei relevante Gestaltungsdimensionen, die später auch in anderen Kreisen und Vereinen zu verzeichnen sind: den Impuls zum Aktivismus und die Etablierung von Gewohnheiten und Zeremonien, wie etwa den Stammtisch, die Veranstaltung von Theateraufführungen, Autorenabenden oder die Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte. Speziell soll aber auch auf die mangelnde Aushandlung von Bedeutung innerhalb der „Gesellschaft für modernes Leben“ eingegangen werden, da sie ihre Weiterentwicklung behinderte. Ein klares Beispiel dafür bietet der dritte Vortragsabend der Gesellschaft, als Hanns von Gumppenberg aus den Werken von Karl Henckell vorlas, der als proletarischer Dichter galt8. Er las auch das Gedicht An die deutsche Nation vor, in dem sich Henckell schonungslos gegen den Kaiser äußert. Das Publikum protestierte vehement, man klagte von Gumppenberg wegen Majestätsbeleidigung an und die „Gesellschaft für modernes Leben“ distanzierte sich vom politischen Inhalt des Gedichtes, indem sie erklärte, sie hätte nur dadurch literarisch-künstlerische Tendenzen zeigen wollen. Auch von Gumppenberg verteidigte sich vergebens im Laufe der Gerichtsverhandlung auf diese Weise: Am Ende wurde er zu zwei Monate Festungshaft verurteilt9. Kurz nach dem Ende des Prozesses richtete sich die Münchner Polizei gegen die Zeitschriften „Gesellschaft“ und „Modernes Leben“, die ebenfalls Beiträge naturalistischer Autoren veröffentlichten. Der Naturalismus wurde weiterhin als verdächtig angesehen, als Inbegriff von Nihilismus und Atheismus, als Sprachrohr der Sozialdemokratie. Conrad distanzierte sich prompt von solchen Anklagen, wobei er sich mehrmals innerhalb weniger Monate als Nationalist, Protestant und SPD-Gegner öffentlich bezeichnete. Die Position Conrads wurde aber von anderen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft nicht geteilt, was zu einem ideologischen Bruch führte: Schon Ende September 1891 bemerkte Schaumberger in einem Brief an Max Halbe, die „Gesellschaft“ mangele inzwischen an Einheit und Einigkeit.10 Conrad und seine Vertrauten einerseits sowie die jüngeren Künstler andererseits waren nicht in der Lage, die Gemeinschaft zu erhalten und ihre Bedeutung, ihre Prinzipien sowie ihre Aktivitäten auszuhandeln. Nur die Aushandlung der Bedingungen innerhalb einer Lerngemeinschaft ermöglicht nämlich die Reziprozität des Vertrauens unter den Mitgliedern, die zum wesentlichen Bestandteil der Praxis wird. Im Fall der „Gesellschaft“ könnte man auch sagen, dass ihr gemeinsames Projekt bzw. das Ergebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses als zu schwach resultierte und die Personengruppe löste sich auf, sobald die partikulären Interessen der Mitglieder in der Praxis der Gemeinschaft nicht mehr integriert werden konnten und die Gesellschaftspraxis sich zugleich durch die partikulären Interessen der Mitglieder nicht mehr modifizieren ließ. Sehr schnell traten konkurrierende Literaturkreise, literarische Gesellschaften und Kulturstammtische in München auf, die die Existenz der „Gesellschaft für modernes Leben“ überflüssig machten und ihre Mitglieder anzogen. Die „Nebenregierung“, mit der Josef Ruederer und junge Musiker, Maler und Schriftsteller die zwei ‚Hauptregierungen‘ – bzw. den Naturalismus der „Gesellschaft für das moderne Leben“ und den Klassizismus eines Paul Heyse – herausfordern wollten,11 ist nur ein Beispiel für einen Anhängerkreis, dessen Trägerschaft zu elitär blieb und dessen Einsatzraum zu begrenzt war.

Theaterdebatten und -experimente in München

Die erfolgreichste neue Gesellschaft war „Der Akademisch-Dramatische Verein“, die ihren Wissensbereich deutlicher als die vorherigen Gemeinschaften bestimmte, Stile, Rituale und zeremonielle Aktivitäten für ihre Erhaltung eta­blierte und jedem legitimen Mitglied erlaubte, an den verschiedenen Handlungssegmenten teilzunehmen. Der am 27. November 1891 von Studenten der Münchner Universität, Intellektuellen und ausübenden Künstlern zur Förderung der modernen Kunst gegründete Verein identifizierte das lebendige Theater als seinen Wirkungsbereich, nach dem Vorbild der Berliner „Freie Bühne“. Als das Programm zur Förderung der gegenwärtigen Bühnenkunst vom Münchner Schauspielhaus zunehmend übernommen wurde, nutzte der Verein die Gelegenheit, sich anderen Zielen zuzuwenden: erstens der Popularisierung debütierender Dramatiker und Schauspieler, zweitens der »Pflege noch unbekannter oder kaum gespielter Werke vergangener Zeiten«, wie das Dialektlustspiel Datterich von Ernst Niebergall (Wenig 1954: 35). Der Verein distanzierte sich Schritt für Schritt vom naturalistischen Kurs, als man spürte, dass der Naturalismus längst tot war: »[D]ie enge Zusammenarbeit mit jungen Schriftstellern der verschiedensten Richtungen und die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem sich immer mehr der „Moderne“ öffnenden Berufstheater bewahrten den „Akademisch-Dramatischen Verein“ vor Einseitigkeit und Erstarrung in literarischen Dogmen« (Hartl 1976: 67). Demnach inszenierte man sowohl Dramen von Ibsen, Hauptmann, Sudermann und Max Halbe als auch Stücke von Maeterlinck, Wilde, D’Annunzio, Wedekind und drei Dialoge (4.–6.) aus Arthur Schnitzlers Reigen1, was am 28. November 1903 die Auflösung des Vereins durch die Universitätsbehörde zur Folge hatte. In dieser Hinsicht zeigte der Verein eine gewisse Elastizität im Aushandlungsprozess von Ressourcen und Werkzeugen, was nur wenige Tage nach seiner Auflösung, am 20. Dezember, zur Gründung der Nachfolgeorganisation „Der Neue Verein“ führte. Der treibende Impuls für die Neugründung war das Vorhaben, »die guten künstlerischen Überlieferungen zu wahren und die wertvolle Bibliothek« sowie die Sammlung neuerer Literatur zu retten (Kutscher 1955: 249). Josef Ruederer war erster Vorsitzender, während sich Georg Hirth, Thomas Mann, Otto Falckenberg und der Rechtsanwalt Wilhelm Rosenthal – später erster Vorsitzende sowie Direktor der „Emelka“ – den Vorstand bildeten. Gerade in diesem „Neuen Verein“ hielt Georg Fuchs am 10. November 1904 den Vortrag über das nur in München durchführbare »kameradschaftliche Zusammengehen der dramatischen Entwicklung mit der bildenden und darstellerischen Künstlerschaft« und über die »Lösung des Theaterproblems«. Dort fand er »die lebhafteste Zustimmung führender Persönlichkeiten der bildenden und angewandten Kunst« und die Einsatzfreude seines späteren Mitarbeiters Max Littmann (1909: 203). Der Verein war kurzum »[e]in Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympathische Aufführungen. Jede Veranstaltung dieses Vereins war ein Kulturereignis für München« (Mühsam 1977: 169). Der Erfolg und die Stabilität der Umwandlung vom „Akademisch-Dramatischen Verein“ zum „Neuen Verein“ beruhten darauf, dass sich ihre Mitgliedschaft fast jedes Semester erneuerte und immer neue Ideen und Kräfte in die Gruppierung aufgenommen wurden: »Daneben gab die demokratische Ordnung der Statuten ausgeprägten und berufenen Persönlichkeiten die Möglichkeit, schnell und wirkungsvoll die literarischen und künstlerischen Geschicke des Vereins zu beeinflussen« (Wenig 1954: 42). Die Gestaltung des gemeinsamen Projekts erwies sich folglich als außerordentlich flexibel, so lebte der Verein bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs weiter. Die Gesellschaft, die in der Zeitspanne 1905–1910 mit dem „Neuen Verein“ in Konkurrenz trat, war die von Conrad, Halbe und Kurt Martens geleitete „Münchner Dramatische Gesellschaft“. Diese »suchte ihre Hauptaufgabe in der Entdeckung und Förderung neuer Autoren. Damals, wo der Nachwuchs der Dramatiker von den großen Bühnen noch nicht so verwöhnt ward wie heutigen Tages, hatte das noch einen Sinn. Gleich der erste Versuch gelang über Erwarten2« (Martens 1924: 32). Sie war ihrerseits die Nachfolgerin der im Frühjahr 1900 erloschenen „Münchener literarischen Gesellschaft“, die zumindest erwähnt werden muss, weil sie im April 1898 Shakespeares Troilus und Cressida auf die Bühne brachte, was die ganze Idee der Gesellschaft enthüllte: »eben das Absonderliche […], das Grelle, Bizarre, Groteske, das Dekadente, das fin de siécle, auf das man abzielte und zu dem man sich bekannte« (Halbe 1976: 200). Nach einem Projekt von Ernst von Wollzogen und Ludwig Ganghofer gruppierte sich die geistige Münchner Elite, um den Tod des Naturalismus zu verkünden und an dessen Stelle für einen neuromantischen Kunstsinn zu plädieren 3. Die Inkohärenz zwischen der Trägerschaft und dem Projekt war aber ganz deutlich: Die Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft gehörte Paul Heyse, sowohl Lingg als auch Weltrich galten als Gründungsmitglieder, Otto Julius Bierbaum und Max Halbe waren ordentliche Mitglieder. Die Vertreter der Hofkultur sowie des Naturalismus, zusammen mit anderen Prominenten, hätten einem breiten Publikum durch Lesungen, Vorträge und Theateraufführungen künstlerische Neuorientierungen darbieten sollen, ohne dabei den kommerziellen, unterhaltsamen Aspekt des Projekts zu berücksichtigen. Bemerkenswerterweise wandelte sich die elitäre Kunstidee von Ernst von Wolzogen in Richtung einer Travestie sowohl des Klassizismus als auch des Naturalismus, sie verwandelte sich ins Kabarett.

 

Diesbezüglich muss hier ergänzt werden, dass der Gedankenaustausch über die Konturen moderner Theaterästhetik und über die Notwendigkeit einer Theaterreform um 1900 eine der bedeutendsten Thematiken für fast alle Proto-Lerngemeinschaften darstellte und von verschiedenen Ausgangspunkten getrieben wurde. In jeder kulturellen Gruppierung Münchens spielte das Theater, oder die Theatralität als »Modell für Kultur und Leben« (Balme 1994: 22), ohnehin eine wichtige Rolle. Theaterveranstaltungen bildeten das Repertoire und die Hauptaufgabe für die avantgardistischen Künstlerkreise. Darüber hinaus galt die theatralische Aufführung als Kunstform par excellence, um das ganze Volk mit einzubeziehen und das Terrain für eine gesellschaftliche Veränderung zu ebnen. Berücksichtigt man jedoch dieses Element, so gelangt man zu der Feststellung, dass die Münchner Moderne nicht nur von einer »umfassenden Theatralisierung der Kultur« geprägt wurde (13), sondern auch von der Überlagerung von Theatralität und soziopolitischem Engagement, ein Keim der in jeder damaligen CoP steckte. Die wichtigsten Innovationen im Theaterbereich betrafen also einerseits populäre, volkstümliche Theaterformen wie das Kabarett, das Schattenspiel, das Laientheater, die Bauernstücke oder die Passionsspiele, das Naturtheater und den Zirkus, andererseits entdeckten die Theatermenschen die empathische und physische Nähe zum Publikum, ohne auf das Wort zurückgreifen zu müssen, die Stärke des handelnden Körpers, des Raums, der Empfindungskraft, des Gemeinschaftserlebnisses. Um es kurz ausdrücken, die Theaterleute suchten am Anfang des 20. Jahrhunderts nach »Lockerung und Überwindung der überlieferten Formen« der Theatralität, in Richtung einer offeneren, direkteren Konfrontation mit dem Publikum« (Rühle 2007: 154).

Das prägnanteste Beispiel der Beziehung zwischen Kulturengagement und ästhetischer Reform, die das Münchner Theater außerhalb Bayerns bekannt machte und trotzdem nur kurzlebig war, ist das literarisch-künstlerische Kabarett „Die Elf Scharfrichter“, das nach dem Vorbild des Pariser „Chat Noir“ gegründet wurde. Das Vorbild zeigt sowohl den internationalen Anspruch des Vorhabens als auch die intendierte Popularisierung des Theaterprojekts. Otto Falckenberg nennt das Schwabinger Kabarett »ein Faschingskind«, da das Projekt eigentlich im Karneval zu datieren sei, in dem Künstler und Denker gegen die Lex Heinze kämpften.4 Die erste Libertinage-Welle, die eine massive Mobilisierung von Münchnern in Sachen Kunst sah, ist auf Anfang 1900 datierbar: Dreitausend Menschen, darunter Bierbaum, Conrad, Falckenberg, Halbe, Schaumberger, Hirth, Lenbach, Lips und Ruederer, versammelten sich zum Protest im Bürgerlichen Bräuhaus. „Der Akademisch-Dramatische Verein“ setzte eine Prozession Schwabinger Künstler und Studenten durch die Hauptstraßen und -plätze der Stadt in Bewegung, mit einem satirischen Plakat gegen das Gesetz und mit einem Chor: »Das Lied5 wurde in hektographierten Blättern verkauft. Damals erschien auch Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts« (Kutscher 1952: 113f.). Kurz danach gründeten Halbe und Hirth den „Goethebund“ zum Schutze freier Kunst und Wissenschaft, der sechstausend Münchner am 22. März 1900 gegen die Lex Heinze im Münchener Kindl-Keller aufbrachte. Im „Goethebund“ schlossen sich nicht nur Künstler und Publizisten, sondern auch Akademiker zusammen. Am 5. April 1900 luden die Liberalen ins Kreuzbräu ein. Am 7. April sprach Sudermann im Münchener Kindl-Keller vor viertausend Zuhörern, die dort vom „Goethebund“ eingeladen worden waren, und schließlich, am 1. Juli, forderte der Bund die gesamte Bevölkerung Münchens zum Eintreten gegen das missliebige Gesetz auf. Was sich in der Stadt ergab, war das Resultat aller Bemühungen seitens künstlerischer Gesellschaften, das Interesse für Kunstproduktion und Kunstfreiheit im Volk hervorzurufen, um dadurch eine erhöhte Aufnahmebereitschaft für ihre Werke zu erreichen.6 Im Reichstag wurde die Änderung des Gesetzes im März 1900 dank einer hinter-den-Kulissen-Arbeit möglich: Die Lex Heinze wurde nur geringfügig gemildert,7 nichtsdestotrotz glaubten Künstler und Intellektuelle, sie hätten durch ihren liberalen Protest politische Entscheidungen beeinflusst und sich mit der Masse in Kontakt gesetzt. An diesem Punkt, erzählt Falckenberg,

suchten auch wir, die Jugend dieser Kämpfe, unserer Kraft und Leidenschaft eine dauernde, fortwirkende Form zu geben. Der Gedanke des literarischen Kabaretts lag damals in der Luft: […] Stilpe, der Held von Bierbaums Roman, hatte die Idee eines künstlerischen Tingeltangels verkündet; Panizza und andere sie diskutiert; so saßen auch wir, Zeichner und Schriftsteller des „Simplicissimus“, Studenten und Schauspieler vom Akademisch-Dramatischen Verein, junge Maler der Sezession, die Münchner Avantgarde auf allen künstlerischen Gebieten in der „Dichtelei“ zusammen, einer Künstlerkneipe in der Türkenstraße, und berieten, wie ein solches Unternehmen wohl anzufangen wäre. (1944: 106)

Die Bezeichnung ‚Faschingskind‘ führt ferner die Erwartungen vor Augen, die die Künstler der Schwabinger Bohème gegenüber einem Theater hatten, das Unterhaltungsformen wie Vaudeville oder Singspiel als Köder für eine angemessene Rezeption der modernen Kunst in der Gesellschaft benutzen konnte. Diese Erwartungen hatten sich früher auf das Deutsche Theater konzentriert, das am 26. September 1896 eröffnet worden war: »Das ganze offizielle, künstlerische und literarische München war versammelt und harrte der kommenden Dingen. […] Alle Welt betrachtete die Einweihung des Deutschen Theaters unter der Direktion Meßthaler gleichsam als die Inthronisation der „Moderne“ in München. Aber es sollte anders kommen. Der Verlauf des Abends zeigte, daß Meßthaler höchstens vielleicht ein Johannes war, keinesfalls aber der erwartete Messias selbst« (Halbe 1976: 231). Das Programm war tatsächlich ein Mischmasch, der offensichtlich unter der Idee litt, dass man jeder Art von Zuschauer etwas zur Vergnügung geben musste. Halbe verurteilt: »Die Vielheit und Zwiespältigkeit dieser Genüsse verwirrte und ermüdete das Publikum (die Vorstellung endete erst lange nach Mitternacht) und offenbarte zugleich die mangelnde Eignung des neuen Hauses für das gesprochene Wort« (231f.). Das katastrophale Unternehmen des Deutschen Theaters wurde in kurzer Zeit ins Münchner Mekka der Varietés verwandelt.8 Die Mitglieder des Kollektivs der „Elf Scharfrichter“ nahmen sich daher der Thematik des Kulturengagements durch die Reformierung des Vaudevilles an9 und wählten als Spielort einen kleinen Fecht­raum im rückwärtigen Teil des Gasthauses „Zum Goldenen Hirschen“ (Türkenstraße 28).

Max Langheinrich entwarf die Innenarchitektur des Theatersaales und stattete den Raum mit einer Guckkastenbühne aus, wobei er danach strebte, eine Intimität zwischen Zuschauern und Darstellern herzustellen: »Mehr als achtzig hatten nicht Platz. Aber etwas mehr als hundert waren immer da« (Blei 2004: 314). Neben der Bühne befand sich ein versenktes Orchester, wie im Festspielhaus Bayreuth und im Prinzregententheater. An den Wänden bemerkte man vor allem die von Wilhelm Hüsgen modellierten Masken der „Elf Scharfrichter“10. Die Eröffnung des Kabaretts fand am 13. April 1901 statt. Die „Elf Scharfrichter“ in München, zusammen mit Ernst von Wolzogens „Überbrettl“ und Max Reinhardts „Schall und Rauch“ in Berlin, machte die Kabarettform in Deutschland bekannt. Die „Elf Scharfrichter“ beschränkten sich »keineswegs auf Parodie und Amüsement« wie die Berliner „Überbrettl“ und „Schall und Rauch“ (Falckenberg 1944: 114) und waren jedenfalls wenig bieder und angepasst an den einschlägigen Publikumsgeschmack, deshalb mussten sie sich stets mit Problemen der Zensur herumschlagen. Man spielte dreimal in der Woche, dann vermutlich allabendlich, und jeden Monat wurde ein neues Programm vorgestellt, zu dessen Premiere regelmäßig auch die Kunstprominenz im Publikum saß. Zuständig für die Auswahl der Texte waren Marc Henry, Leo Greiner, Willy Rath und Otto Falckenberg; Hans Richard war eher als „Kapellmeister“ tätig. Nach dem von Leo Greiner gedichteten und von Weinhöppel komponierten Eröffnungslied bzw. Scharfrichtermarsch folgten Nummern unterschiedlicher Natur aufeinander: Satiren und Parodien, vor allem aus Hanns von Gumppenbergs Teutschem Dichterroß, Sketsche, Gedichte, klassische Lyrik, Lieder, die „erotisch-verruchten“ Chansons und Balladen Wedekinds, Musikstücke, Tanzgroteske, „automatisches Zeichnen“, Einakter und Ein-Satz-Theaterstücke von Bernard, Courteline, Paul Schlesinger, Keyserling, Falckenberg und von Marc Henri selbst, Ausschnitte aus dem zeitgenössischen Avantgardetheater, Schattenspiele, Puppenspiele. Am Ende sangen alle Zuschauer den Schlager Schwalangscher. Der riesige Erfolg des Kabaretts führte zu hochfliegenden Plänen, zu Kämpfen mit der Münchner Zensur, aber auch zu Streitereien unter den Ensemblemitgliedern wegen des Honorars der Stars. Schon im November 1903 spielten die „Elf Scharfrichter“ zum letzten Mal zusammen. Falckenberg behauptet:

Für mich und die meisten anderen hatte die Sache ihren eigentümlichen romantischen Reiz, ihre innere künstlerische Fruchtbarkeit verloren. […] Zum ersten Male war ich nicht nur sympathisierender Zuschauer und bescheidener Helfer gewesen, sondern Mitspieler und Mitleiter an der Spitze einer gemeinschaftlichen künstlerischen Arbeit lauter junger begabter Menschen, einer Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst trug. Denn es wird der Ruhm der „Elf Scharfrichter“ bleiben, daß diese Kleinkunstbühne – im Unterschied zu so vielen späteren, unliterarischen oder angeblich literarischen Kabaretts und auch zu den zahlreichen Berliner „Überbretteln“ der Zeit –, daß unsere Kleinkunstbühne wirklich nur aus einer echten künstlerischen und kunstpolitischen Leidenschaft und Begeisterung heraus lebte und schuf […]. (1944: 137f.) (Herv. v.V.)

Man könnte auch sagen, das Kabarett habe sich aufgelöst, weil die Gemeinschaft von Künstlern als Innovationsknotenpunkt zunehmend an Gewicht verloren hatte: Andere Unterhaltungstheaterformen waren in München entstanden, die über andere Quellen und Ressourcen verfügten, um die Utopie sozialer Reformen weiter durch die Kunst voranzutreiben. Schon am 20. April 1901 war das Schauspielhaus in der Maximilianstraße, nach zehnmonatiger Bauzeit, mit Johannes von Hermann Sudermann eröffnet worden. Die Intendanz übernahm Ignaz Georg Stollberg, für den die Teilnahme an dem „Akademisch-Dramatischen Verein“ der Einstieg in seine große Karriere war. Das Schauspielhaus wurde blitzschnell zum Forum der Avantgarde, das aber ein Repertoire von schon etablierten modernen Dramen mit einer Vielfalt deutscher und französischer Possen verband. Das vom Architekt Littmann und vom Künstler des Jugendstils Riemerschmid errichtete Gebäude selbst war das Ergebnis einer modernen Theaterarchitektur, die gegen das sogenannte ‚Luxustheater‘ mehrere Versuche unternahm, das Auditorium einzubinden. Max Littmann11 erkannte gerade in der Einheit von Bühne und Publikum neue Wahrnehmungsmöglichkeiten: Er plädierte »entschieden gegen das Rangtheater zugunsten eines Amphitheaters, das sich durch eine weitgehende Gleichwertigkeit seiner Plätze auszeichnen würde« (Brauneck 1999: 638). Ab 1903 wurde auch ein Volkstheater (Josephspitalstraße, Stadtteil Altstadt-Lehel) tätig: Als Eröffnungsvorstellung wurde Schillers Kabale und Liebe geboten. Das Repertoire bestand aber nicht nur aus Klassikern, sondern auch aus Schwänken, Possen und Farcen.