"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"

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Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt

Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Theater allmählich als notwendige, soziale, ja kulturelle Praxis betrachtet, um die Kluft zwischen Kunst und gesellschaftlichem Leben zu überbrücken. Jelavich’ These einer Karnevalisierung von Theaterformen, im Sinne einer Überwindung von binarischen Gedanken wie gut/böse, Seele/Körper oder Sein/Schein1, gewinnt in dieser Hinsicht an Bedeutung, wenn man sie als eine ästhetische Verdoppelung kultureller Aufführungen ansieht. Theaterformen und -stile, die sich mit der Theatralität im breitesten Sinn bekannt machen, produzieren eine kondensierte, gesteigerte Inszenierung einer sich selbst wahrnehmenden Öffentlichkeit, durch die sich das Publikum, mitsamt den Akteuren, seines Zustandes bewusst wird. Weitere Aufschlüsse über die abgezielte Transgression jedes ästhetischen sowie ethischen Wertsystems einer unfruchtbaren Vergangenheit, die das Volk als Quintessenz der Gesellschaft vergessen hatte, bringt die damalige Nietzsche-Rezeption. Nach dem Tod Nietzsches wurde sein Gesamtwerk als auch seine Person zum Gegenstand öffentlicher Debatten und opponierender Positionen: Es war ein Pflichtpensum, sich mit ihm auseinanderzusetzen2. Neben dem visionären Philosophen, der ein neues vom selbstschöpferischen Übermenschen beherrschtes Zeitalter prophezeite, zog man auch den Gesellschaftskritiker in Betracht, der das bürgerliche Vakuum demaskierte.3 Dieter Borchmeyer (2009) betont zu Recht, dass sich Nietzsche über die Moderne, bzw. über die Ästhetik und Kunst seiner Epoche, nie positiv geäußert hatte, und trotzdem wurde er zur Schlüsselfigur für viele künstlerisch und geistig Schaffende um die Jahrhundertwende. Das enthält jedoch kein Paradox, weil die heranwachsenden Künstler der Moderne sie nie als Endstation verstanden, sondern als Durchgangsstation. Wenn bei Nietzsche die moderne Kunst mit den Begriffen ‚Romantik‘ und ‚Dekadenz‘ verbunden ist, und daher die gegenwärtige Krankheit, Geistesschwäche und Identitätszersplitterung veranschaulicht, ist sie auch ein notwendiger Schritt in Richtung einer Neugeburt – der Kultur eben wie der Menschheit.

Eines steht für Nietzsche fest: Auch wer die Décadence überwinden will, muss sie an sich selbst erfahren haben, muss sich ihr stellen und sie bis auf den Grund durchschauen. […] Nietzsches eigenes Ideal der dionysischen als einer Kunst des aufsteigenden Lebens entspricht demgegenüber der Selbsterfahrung des Décadent und bleibt dialektisch auf sie bezogen. (Borchmeyer 2009: 37)

Die dekadente Moderne war für Maler, Schriftsteller, Theatermenschen und Denker um 1900 der Rahmen einer neuen Kreativität, eines reformstrebenden Debattierens und Experimentierens, der sich jenseits der Kunst ausdehnte und die Lebensführung selbst hineinzog. Kunst und Kultur galten somit als kräftige Re-Aktion auf eine heuchlerische, lästerliche, passive Zeit. »Persönlich konnten wir Älteren uns mit den Jüngsten im Allgemeinen recht gut verständigen. Sie gehörten fast alle zu der Boheme, die ja auch wir als Durchgangsstation passiert hatten, waren der Parteipolitik erfreulicherweise ziemlich fremd, der kommunistischen Utopie nur vereinzelt zugetan« (Martens 1924: 155). Was alle, sogar die exklusivsten Gesellschaften und Vereine der Schwabinger Bohème bestimmte, war eine Regenerationsbewegung, die nach einer allgemeinen gesellschaftlichen Erneuerung strebte. Die Erwartung und zugleich Vorbereitung dieser Neugeburt fand in der Münchner Faschingstradition ihre Spiegelung und die Teilnahme an beliebigen Karnevalsfesten übernahm für Künstler, Dichter und Denker eine wichtige Funktion: die Erzeugung der geistigen Atmosphäre, die die neue Kunst inspirieren sollte. Selbst unter einem präzisen Reglement besteht das Festliche gerade darin, »bestimmte Regeln, nämlich die Beschränkungen des Alltags zu überschreiten – etwa zugunsten einer rauschhaften Verausgabung oder einer intensiven Gemeinschaftserfahrung« (Warstat 2005: 104). Emblematisch wirkt hierzu die Haltung der dem George-Kreis naheliegenden Gemeinschaft der „Kosmiker“. Um den ‚Meister‘ George gravitierten die ‚Enormen‘ Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und, bis 1901, Ludwig Derleth: Seit 1899 trafen sich die Freunde in der Wohnung Wolfskehls4 – Inbegriff des ‚Wahnmochings‘ –, im Café Luitpold oder in anderen Schwabinger Lokalen, um über Kultur, Mystizismus, Erotik und Zivilisation zu diskutieren. Der Name ‚Die Kosmiker‘ stammte aus ihrem ideologischen Credo, da »ihr Denken das kosmische Leben über das Einzelleben stellte und in kosmischen Beziehungen das Vorbild für symbiotische Verbände unter den Menschen erblickt wurde« (Schneider 1999: 386). Der Einfluss Nietzsches und die Begeisterung für dessen Wiederentdeckung des Heidentums und der Urnatur war nicht nur in der theoretischen Position der Kosmiker sichtbar, sondern auch in deren maßloser Leidenschaft für Feste, Bälle und Maskeraden.5 Die „heidnischen Feste“ der Kosmiker-Runde fanden vorwiegend während des Münchner Faschings statt und richteten sich an die Wiederbelebung einer heidnischen, reinen Lebensform. Sie bezogen daher Maskenumzüge mit historischen, mythologischen oder allegorischen Kostümen, Prozessionen mit Gesangbegleitung, saturnalische Tänze, bacchantische Betätigungen, Vorlesungen angemessener Werke, einen Rauschzustand und die Dionysos-Identifikation der (kosmischen) Beteiligten ein: Das Ganze konstituierte ein Ritual, eine kultische Feier mit steifem Zeremoniell. Die durch die Faschingsatmosphäre übermittelte Selbstinszenierung diente zur Belebung einer verkehrten, alternativen, geistigen Welt, in der eine gereinigte, regenerierte Menschheit erwachen konnte. Außer den privaten Feierpraktiken beteiligten sich die Kosmiker und andere Künstler mithin an der Wiederentdeckung von urtümlichen öffentlichen Theaterformen, wie die Krippenspiele6 oder die unter der Leitung des Literaten Frhr. Alexander von Bernus stehende Bühne „Schwabinger Schattenspiele“.7 Der moderne Mystiker Bernus – so wie er sich selbst konzipierte – verstand sein Unternehmen als ästhetisches Experiment, das sich von den naturalistischen Konventionen der zeitgenössischen Theaterpraxis löste: Das erneuerte Schattentheater sollte die Flächenkunst des Jugendstils zur szenischen Bühne des lyrischen Ausdrucks transformieren. Die Aufführungen zielten darauf hin, die »entmaterialisierte Welt der wachen Träume« als Ausdrucksform der neuromantischen Dichtkunst sichtbar zu machen (zit. nach Wilhelm 1993: 165). Neben Stücken des romantischen Schattenspielrepertoires kamen bald neue Dichtungen zur Aufführung, wie Karl Wolfskehls Thors Hammer, die der vom Symbolismus beeinflussten Sprachmagie Georges nahestanden. Die magische Qualität des Schattenspiels ermöglichte die Entdeckung einer mystischen Dimension jenseits der Grenzen der konventionellen Wahrnehmung, was auch Georg Fuchs ständig hervorhob.

Die Popularisierung und Karnevalisierung des Theaters sind ihrerseits Zeichen dafür, dass die Münchner Theaterszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gruppierungen multipler Mitgliedschaft charakterisiert war, die darauf abzielten, durch eine moderne – sprich: reformierte – Bühnenkunst auf den sozialpolitischen Kurs Einfluss zu haben. Die Bewusstmachung der Realität durch die verkehrte Welt des Theaters ebenso wie die Formation einer freien Öffentlichkeit wurden auch von der Volksbühnenbewegung propagiert, doch mit anderen Mitteln. Festspieltheateridee, Festspielprojekte und Volkstheater suchten im festlichen, zeremoniellen Rahmen der Aufführung eine Gemeinschaftsbindung von Darstellern und Zuschauern, die das Volk als utopische Einheit erscheinen ließ und daher zur Begegnung mit sich selbst bringen konnte. Die Orientierung an einer atavistischen, von Raumbewegungen, Gebärden, Tänzen, Ritualen dominierten Festkultur revolutionierte nicht nur die Vorstellung des Theaters als eine Kunst sui generis,8 die anders als die Literatur funktioniert, sondern auch die Rolle des Zuschauers, der zum mitschaffenden Bestandteil der Aufführung, des Kunstwerkes wurde. Georg Fuchs stellte fest, die Künstlertheaterbewegung sei ein Kampf gegen die Literatur gewesen, um »de[n] Orgiasmus, de[n] erhobene[n] Rauschzustand der schauenden Menge« als das Wesentliche anzuerkennen, woraus erst die Aufführung hervorgeht, um das Bühnenbild, die Schauspielkunst und das Drama als gleichberechtigte Elemente des Theaters zu würdigen (1909: 11). Bezüglich Georg Fuchs’ Essay Die Revolution des Theaters bemerkt Manfred Brauneck, seine moderne Theatervision habe sich in einer Art von »Massentheater, das bei den Beteiligten ein rauschhaftes Gemeinschaftserlebnis im Sinne einer „Volksgemeinschaft“ bewirken sollte« enthüllt9 (1999: 638). Fuchs war für die Entwicklung des Theaters in München besonders wichtig, weil er geistiger Urheber sowie Direktor und Dramaturg des „Münchner Künstlertheaters“ war und langjährig versuchte, ein Theater für das neue, große Publikum, bzw. für das ganze Volk, zu fördern. Wenn sich die sog. Bühnenreform – wie in den Versuchen der Shakespearebühne oder der Drehbühne – nur auf die Bühne konzentrierte, verlangte die Theaterreform Fuchs’ noch mehr: »das ganze räumliche Verhältnis, das Drama und Zuschauer umfaßt,« zu reformieren (Fuchs 1909: 109). Es muss aber hinzugefügt werden, dass Fuchs’ Idee eines reformierten Theaters schon mit Peter Behrens ihren ersten Ausdruck gefunden hatte. Auch er hatte für eine Revolution in der Theaterarchitektur plädiert, um ein Gesamtkunstwerk mystisch-symbolischer Natur zu erzeugen,10 um die »Kunst der Geisteskultur« zu verwirklichen (1900: 25).

Angeregt von Franz von Stuck, Max von Schillings, Friedrich August von Kaulbach, Fritz von Uhde, Fritz Erler, Ferdinand von Miller, Frhr. von Speidel (Generalintendant der Königlichen Bühnen) und selbstverständlich Georg Fuchs wurde das Künstlertheater am 17. Mai 1908 mit Goethes Faust eröffnet11 (R: Albert Heine). Kurz davor hatte der Georg-Müller-Verlag eine kleine Broschüre mit drei Beiträgen veröffentlicht, welche die Mission des Münchner Künstlertheaters und seine Gründung erklärten – darunter befand sich auch Georg Fuchs Die Ziele des Münchner Künstlertheaters. Das als problematisch empfundene Hauptmerkmal des damaligen deutschen Theaters war der sog. „Barbarismus“ seiner Ausstattung, die eine künstlerische Armut erzeugte.12 Nach Ansicht der Theaterreformer war das deutsche Theater von der aus dem 16. und 17. Jahrhundert übernommenen Oper-, Ballett-, und Guckkastenbühne beherrscht. Weder die Guckkastenbühne noch die „erhabene Bühne“ des Naturalismus hätten einen direkten Kontakt zum Publikum ermöglicht. Die vorgeschlagene Theaterreform betraf daher in erster Linie die Architektur, im Sinne von Spielraum und Dekoration. Der Grund dafür war die Annahme, dass der Kunstcharakter des Theaters nicht im Drama liegt, sondern in der Aufführung. Mit anderen Worten umfasste die Bestrebung nach der „Retheatralisierung des Theaters“ nicht nur eine neue Ästhetik des Mediums, sondern auch ein innovatives, experimentelles Theaterverständnis: Man musste eine wirksame theatrale Sprache entwickeln und die konstruktive Interaktion Darsteller-Publikum fördern. Sehr bald bildete sich eine starke Interessentengruppe, die eine Reform der „dekorativen Ausstattung“, im Gegensatz zu Kulissen, Kitsch, falscher Perspektive und zauberhafter Bühnenausstattung verlangte. Das Ziel war dementsprechend, die räumliche Trennung zwischen Publikum und Darstellern zu überwinden und somit das Illusionsprinzip des naturalistischen Theaters zu vermeiden. Das Gebäude wurde von Max Littmann realisiert, der sich über den Bau des Bühnenraums und des Zuschauerraums wie folgt äußerte:

 

Man braucht sich noch nicht auf den Standpunkt Gabriele d’Annunzios zu stellen, der vom Drama sagt, daß es nichts anders sein könne als ein „Gottesdienst“ oder eine „Botschaft“, die Überzeugung ist aber jetzt schon allgemein, daß wir im Drama ein nicht genug zu schätzendes ästhetisches Mittel zur Erhebung für unser Volk haben, das in möglichst vollkommener Form dargeboten werden muß. In dem Logenhaus ist aber das Verhältnis der Besucher zu einander die Hauptsache, und das Verhältnis des Zuschauers zu der Bühne, von der die erhebende Wirkung ausgeht, durch die erwähnten Mängel so gestört, daß unmöglich durch die Musik, durch das gesungene und gesprochen Wort jene ernste, weihevolle Stimmung erzielt werden kann, welche die feinsten Empfindungen der menschlichen Seele auszulösen vermag. (1908: 18f.)

Malerische Hauptfiguren des Münchner Künstlertheaters waren Thomas Theodor Heine, Wilhelm Schultz und Hans Beatus Wieland. Die vier neuen Vorschläge waren die Verkürzung der Szene und das reliefartig ausgestaltete Bühnenbild13, die Reduzierung der szenischen Mittel durch Anwendung stilistisch vereinfachter Dekorationen und Hintergrundmalerei nach dem Muster der jugendstilischen Flächenkunst, die strengste Unterordnung unter den Gesetzen des dramatischen Stils und die ausgiebige Zuziehung der „angewandten Kunst“.14 Trotz des klaren Projekts verfehlte das Münchner Künstlertheater gerade in seinen entscheidenden Neuerungen, so dass es sich am 29. Januar 1909, infolge ökonomischer und künstlerischer Schwierigkeiten, kapitulierte. Der erste Pächter war bemerkenswerterweise Max Reinhardt: Der Regisseur brachte nach München acht eigene Inszenierungen aus Berlin mit (Sommernachtstraum, Was ihr wollt, Der Kaufmann von Venedig, Faust I, Die Räuber, Lysi­strata, Gespenster und Revolution in Krähwinkel). Er begann dagegen die Berliner Festspiele im Künstlertheater mit einer neuen Inszenierung: Hamlet. Es folgten andere Münchner Premieren: Die Braut von Messina, Judith und Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt. Was Reinhardt in München für zwei Saisons (1909 und 1910) neu inszenierte, brachte er später nach Berlin.15 Reinhardt erschöpfte die Kunstidee des „Münchner Künstlertheaters“ völlig und übertrug sogar dessen künstlerische Prinzipien auf die Operette: Die Grundidee eines Festspieltheaters der Stilbühne, einer kritischen Öffentlichkeit für das gesamte Volk war mit dem Triumph eines dem Profit gewidmeten Geschäfts endgültig ausgelaugt. Doch Fuchs’ Forderung eines re-theatralisierten Theaters, das sich von der zerdrückenden Übermacht des Dramas befreien konnte, wirkte in der Kunst- und Theatergeschichte der Moderne weiter, wie etwa auf das von Paul Brann aufgestellte „Marionettentheater Münchner Künstler“ oder auf Wassily Kandinskys künstlerische Versuche.16 Seine auf der Bühne zu übertragende Synästhesie von Farbe, Klang und raum-zeitlicher Bewegung auf Kosten der naturalistischen Genauigkeit war nämlich mit der Suche nach einer sinnlichen, vollkommenen Wahrnehmung verbunden, die jahrelang von künstlerischen Zirkeln der Münchner Moderne betrieben wurde. Alle Maler, Architekten, Theatermenschen, Publizisten und Wissenschaftler, die an der Reform des „Münchner Künstlertheaters“ teilgenommen hatten, wollten einfach ihre Arbeit »nicht anders als einen „Versuch“ eingeschätzt wissen, ein Versuch, der seinen Zweck vollauf erfüllt, wenn er anderen Anregung gibt, auf der betretenen Bahn weiter zu arbeiten« (Littmann 1908: 39).

„Schwabingertum“ und Aktivismus

Im Kutscherkreis blieb ein Keim Schwabingertum immer virulent. Nicht jedes billige Schwabingertum einer impotenten museumsreifen Bohème, aus zweiter Hand – sondern ein Schwabing der freien Geister, der starken Sinne, oft krauser, überschäumender, aber immer schöpferischer Naturen – ein Schwabingertum, das noch immer die Erinnerung an Franziska von Reventlow, an die Mysterien des George-Kreises und an die Elf Scharfrichter heilig hielt. (Hartung 1948: 128)

Als Artur Kutscher um 1909 die ersten theaterwissenschaftlichen Vorlesungen zu halten begann, wurde der Übergang in seinen Tätigkeiten und Studien fast spontan. Sein Leben in München hatte sich immer durch das soziokulturelle Engagement charakterisiert und durch seine jahrzehntelange Erfahrung als Mitglied von Gemeinschaften. Kutschers Mitarbeit in verschiedenen Redaktionen, seine Rolle als Koordinator der „Intimen Abende“ und seine Teilnahme an zahlreichen Vereinen bildeten also die wichtigste Basis für die Umsetzung der Münchner Theaterwissenschaft.

Schon 1899, als 21-jähriger Student, war Kutscher dem „Akademisch-Dramatischen Verein“ beigetreten und kurz danach sogar dessen Vorsitzender geworden,1 weil er »Kameradschaft und Kunst« brauchte und an Vorträgen und Aufführungen teilhaben wollte: »Der Universität nahte ich erfüllt im Drange nach Wissen in Literatur, bildender Kunst, Archäologie und Philosophie. Die Stadt München mit ihrem künstlerischen Leben hatte einen frühen Ehrgeiz in mir verstärkt, mich selbst schöpferisch zu betätigen in dramatischer Dichtung und Schauspielkunst« (1952: 111). In Kutschers Erinnerung klingt noch der damals empfundene Abstand zwischen dem an der Universität vermittelten Wissen und dem praxisbezogenen Theater. Doch nicht nur lernte Kutscher in diesem Verein die bedeutendsten Künstler und Intellektuellen seiner Zeit kennen, sondern er begriff auch die Wichtigkeit des aufgeführten Theaters für die kulturelle Entwicklung der deutschen Gesellschaft. Im ersten Tätigkeitsjahr kam der Verein täglich von 2 bis 3 Uhr im Café Gisela zusammen, dazu gehörten eine junge Schar von Studenten, die sich für die Bühne interessierten, wie der spätere Direktor des Burgtheaters Franz Herterich, Otto Falckenberg, Kurt Stieler oder Kutschers Hannoverscher Klassenfreund Bernhard von Jacobi, sowie ältere Angehörige, darunter auch Friedrich Kayßler, den Otto Brahm gerade in jenem Kreis spielen sah und schleunigst am Deutschen Theater Berlin verpflichtete. Die inszenierten Stücke waren in der Regel von den Mitgliedern selbst ausgewählt und gespielt, allerdings kam es auch vor, dass sich professionelle Schauspieler oder Schauspielschüler an den Aufführungen beteiligten. Der „Akademisch-Dramatische Verein“ wurde rasch zur skandalträchtigen Laien-Bühne, auf der immerhin vielversprechende Künstler agierten. Der Verein brachte eine »große Anzahl dramatisch wertvoller älterer und neuerer Stücke, die von Hof- und Stadt- und Privattheatern aus ästhetischen oder sittlichen Gründen nicht gegeben werden durften« auf die Bühne, was seine Mitglieder zu »Vorkämpfern einer neuen Richtung« werden ließ (112). In der Zeitspanne 1899–1901 führte Otto Falckenberg seine ersten Regien in den Aufführungen des Vereins, noch mehr: »Er führte die künstlerischen und wirtschaftlichen Verhandlungen, unter anderen mit Possart, Stollberg, Schmederer wegen Mitwirkung von Schauspielern, Überlassung von Bühne, Garderobe usw.« (113). Wie Otto Falckenberg war Kutscher vor allem als Autor und Mithelfer im Verein tätig2 und schrieb sogar ein Festspiel zum deutschen Märchenfest am 15. Februar 1900.3 Durch den Verein lernte Kutscher Frank Wedekind kennen, nachdem dieser seine Festungshaft infolge des Palästina-Skandals verbüßt hatte. Der junge Student gab Wedekind sein Stück David zu lesen, um die Meinung des Dichters darüber zu hören. Trotz Wedekinds Kritik an das Drama schlossen die beiden eine lebenslange Freundschaft.4 Häufige Gäste des Vereins waren Prominente der Münchner Moderne wie Conrad, Dauthendey, Halbe, Henckell, Hirschfeld, Ruederer, Scharf, von Scholz und Schauspieler wie Fritz Basil, Wilhelm Schneider und Emil Lind. Durch private Theateraufführungen und Rezitationen von aus Zensurgründen extrem brisanten Dramen engagierte sich der Verein für die freie Kunst, für die Moderne: »Man spielte die Moderne aus Prinzip, und wollte in einer Zeit etwas heißen, als ihr die Pforten der Theater noch verschlossen waren; in mancher Beziehung hat der Akademisch-Dramatische Verein Grund, auch davon prinzipiell abzustehen und alle Kräfte für die literarische Kultur einzusetzen« (Kutscher 1912: 288f.). Das Ziel war dementsprechend nicht die Darstellung von tadellosen, den bürgerlichen Geschmack befriedigenden Stücken, sondern die Provokation des Bewusstseins, die Anregung des Denkens: »Man wollte aufklären, Problemstellungen bewußt machen und man wollte Diskussionen auslösen« (Hartl 1976: 68). Noch mehr, sowohl in der Stückauswahl als auch in der Veranstaltung von Vortragsabenden stellte der Verein die internationale Orientierung des damaligen deutschen Theaters dar: Kitasato hielt beispielsweise am 23. Februar 1899 einen Vortrag über „Das japanische Theater“, Ruederer referierte am 13. November 1901 über „Mont Saint-Michel in der Normandie und seine Wunder“, Georg Polonski sprach am 11. März 1903 über Maxim Gorki; auch unkonventionelle transnationale theatralische Themen waren dabei berücksichtigt, wie „Das künstlerische Varieté“, „Pornographie, Kunstbetrachtungen im Nachtcafé“ oder „Hexen- und Zauberkünste“. Der Verein schloss sich der Bühnenreformbewegung begeistert an, wobei er – wie aufgezeigt – öffentliche Gespräche von Fuchs, Hagemann, Kilian und Wilhelm von Scholz in seinen Lokalen ermöglichte und auf einem praktischen Niveau durch eigene Theateraufführungen mitwirkte. Das Kulturengagement des Vereins im gesellschaftlichen Leben war also ein notwendiger Bestandteil seiner Praxis, die Kutscher durchaus teilte und weiterführte. Er nahm an allen Faschingsfesten, Fastnachtstreiben und am Kampf gegen die damals vorgesehene Lex Heinze teil. Was die Uraufführung der drei Szenen aus Schnitzlers Reigen betrifft, war sich Kutscher des schlüpfrigen Stoffes des Stückes wohl bewusst und warnte vergeblich den Verein vor einer Aufführung.5 In derselben Zeit wurde Kutscher, vermutlich von Wedekind, auch in der „Gesellschaft für modernes Leben“ und in der berühmtesten literarischen Kegelgesellschaft der Stadt eingeführt: in Max Halbes „Unterströmung“ 6. Wie sich Kutscher selbst erinnert, hatten sich »auch andere Organisationen der Geselligkeit in München […] künstlerische Ziele gesetzt, selbst Stammtischrunden und Kegelklubs« (1960: 63f.). Die Kegelabende, nur für Männer, fanden in der Privatkegelbahn Halbes statt; dort wurde nicht nur gespielt, sondern auch über literarische Themen debattiert. Treue Mitglieder dieser Gesellschaft waren, neben Kutscher und Wedekind, Korfiz Holm, von Keyserling, Langheinrich, Mühsam, Panizza, Scharf, Edgar Steiger, Weinhöppel, Weisberger, Hubert Wilm und später auch Roda Roda. Häufige Gäste aus der Theaterwelt waren Messthaler, Peppler, Stollberg und Weigert. Damals fungierte Halbe als Katalysator der Münchner Künstlerschaft7, so dass Kutschers enge Freundschaft mit dem viel älteren Dramatiker das Sprungbrett für sein breites Engagement an kulturellen und gesellschaftlichen Kämpfen darstellte. Weder in Kiel noch in Berlin verband sich Kutscher mit Künstlergruppen und, als er nach München zurückkam, suchte er den Kontakt zum „Akademisch-Dramatischen Verein“ und zu den dort lebenden Künstlern wiederherzustellen. Wenn Kutscher Das Naturgefühl in Goethes Lyrik als Thema seiner Dissertation auswählte,8 in der die dramatische Tätigkeit des Dichters nur flüchtig erwähnt wurde,9 und wenn er vorwiegend mit einem philologischen Instrumentarium arbeitete, dienten seine Beteiligung am „Akademisch-Dramatischen Verein“ und das Miterlebnis des „Elf Scharfrichter“-Unternehmens dazu, den jungen Wissenschaftler an die Bühnenkunst anzunähern. Im letzten Lebensjahr des „Akademisch-Dramatischen Vereins“ fanden die zwei später berühmten Uraufführungen von Kleists Robert Guiscard und Hebbels Diamant unter Falckenbergs Regie statt. Kutscher besuchte regelmäßig auch das Münchner Schauspielhaus und am 22. Februar 1902, nach seinem Studienaufenthalt in Berlin, war er an der Uraufführung von Wedekinds So ist das Leben beteiligt: »Hier haben wir alle wichtigen Aufführungen besucht im Kampf um die Moderne, der damals noch höchst persönlich ausgefochten wurde« (1960: 37).

 

Kutscher musste seine Verwurzelung in der Schwabinger Bohème allerdings aufgeben, als er 1903–1904 seine Militärdienstpflicht erfüllte. Ende März 1904 wurde er entlassen und, von der Perspektive einer akademischen Laufbahn fasziniert, kehrte er nach München zurück. Ihm wurde trotzdem klar, »wie schwierig es sein würde, ohne jede Protektion, ja, ohne überhaupt im Bayernland irgendeinen Menschen von Einfluß zu kennen, Universitätslehrer zu werden« (1960: 45). Der kürzeste Weg führte ihn nach Hannover, wo seine Mutter noch lebte und wo jemand seine wissenschaftliche Tätigkeit hätte brauchen können: Vor Januar 1905 hatte er schon viermal einen Vortrag über Goethes literarische Entwicklung bis zu seiner Zusammenarbeit mit Friedrich Schiller gehalten. Kutscher blieb in dieser Zeit der Lyrik treu und besuchte seinen Landsmann Hermann Löns, Journalist und seit drei Jahren auch produktiver Dichter. Dieses Treffen zeigt nicht nur Kutschers „zeitgemäße“ Intuition, sich an journalistischen Arbeiten zu erproben, um an Sichtbarkeit zu gewinnen, sondern auch seine Vorliebe für Gegenwartsliteratur. Löns erkannte das Potential des Jungen und bot ihm das Feuilleton der von ihm geleiteten Zeitung „Hannoverschen Tageblatt“ und dessen Beilagen „Heimat“ und „Kunst und Literatur“. Trotz seines anfänglichen Mangels an Erfahrung entwickelte Kutscher in knapp einem Jahr – und zwar vom Herbst 1905 bis zum Oktober 1906 – eine bemerkenswerte Fähigkeit als Kritiker, die ihm auch in literarischen Kreisen Münchens eine höhere Stellung zuwies: Er war nicht mehr ein literaturbegeisterter Student, sondern ein wissenschaftlicher Könner.

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