Achtsamkeit, Meditation & Psychotherapie

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Einleitung der Herausgeberin

Achtsamkeit, Meditation und Psychotherapie – Einführung in die buddhistische Psychologie ist eine Auswahl von Schriften des buddhistischen Meditationsmeisters Chögyam Trungpa Rinpoche. Sie präsentiert Einblicke in die Themen Meditation, Geist und Psychologie, die er in den Siebzigern und Achtzigern in Amerika westlichen Psychologen, Psychotherapeuten und Schülern der buddhistischen Meditation vermittelte. Im Grunde ist es ein Buch darüber, wie jeder von uns, wir alle, mit uns und anderen auf vernünftige und freundliche Weise arbeiten können. Darüber hinaus spricht der Autor im Rahmen der Diskussion über buddhistische Psychologie auch die speziellen Probleme und Bedürfnisse von Menschen unter extremem seelischem Leidensdruck an. Und er greift die Anliegen von Psychotherapeuten und Angehörigen anderer Heilberufe auf, die am seelischen Wohlbefinden ihrer Klienten genauso arbeiten wie an ihrem körperlichen.

Während der Autor anerkennt, dass viele Menschen professionelle psychologische Hilfe brauchen und dass es wichtig ist, für manche Patienten eine geeignete therapeutische Umgebung oder therapeutische Gruppe zu schaffen, besteht die Grundthese dieses Buches darin, dass alle Menschen in sich die Anlagen haben, um von Grund auf gesund zu werden. Immer wieder erklärt Trungpa Rinpoche, dass wir alle mit grundlegender geistiger Gesundheit geboren werden, die er auch als grundlegend Gutes, als Gesundheit oder Wachheit bezeichnet. Sich selbst und anderen zu helfen, auf diesen Boden der Klarheit und Gesundheit zurückzukommen, das ist der Weg und das Ziel der buddhistischen Psychologie, wie sie im hier vorliegenden Band präsentiert wird. Wie der Autor im Kapitel „Eine gesunde Umgebung schaffen“ formuliert:

„Man sollte danach Ausschau halten, wo die Gesundheit des Patienten herkommt. … Jemand ist vielleicht paranoid und bedrohlich, aber wo kommt diese Genauigkeit her? Er oder sie ist vielleicht extrem neurotisch und destruktiv, aber wo ist der grundlegende Kristallisationspunkt dieser Energie? Wenn man die Menschen von diesem Standpunkt aus betrachtet, vom Standpunkt des grundlegend Guten, dann kann man anderen definitiv in irgendeiner Weise helfen“ (Seite 195/196).

Chögyam Trungpa widmete sein ganzes Leben der Arbeit mit anderen, um ihnen zu helfen. Die Tradition des buddhistischen Mahayana, die Grundlage seiner Ausbildung, spricht von der Verantwortung, die letztendlich jeder von uns übernehmen muss, alle fühlenden Wesen zu befreien – wobei man bei sich selbst anfängt, um für andere von Nutzen zu sein. Das ist Arbeit für andere in großem Stil!

Trungpa Rinpoche arbeitete tagaus, tagein mit anderen Menschen. Zehntausende führte er in die Praxis der Sitzmeditation ein und hielt Tausende von Einzel- und Gruppengesprächen ab. Die Leute suchten bei ihm Rat wegen ihrer Meditationspraxis, aber auch zu ihrer Lebensführung: wen sie heiraten, welchen Job sie annehmen, ob sie ein Geschäft gründen oder wieder die Schulbank drücken sollten. Rinpoche war bei ihnen, wenn sie starben, wenn sie Kinder zur Welt brachten, wenn sie meditierten, wenn sie heirateten und wenn sie krank waren. Die Leute kamen zu ihm, wenn sie deprimiert waren, wenn ihre Ehe zerbrach, wenn sie an Selbstmord dachten – in so ziemlich jeder Situation und jedem Gemütszustand. Wenn man auch nicht sagen würde, dass ein buddhistischer Lehrer dasselbe ist wie ein Psychologe, so erwartet man doch – vor allem in der westlichen Welt – von einem buddhistischen Lehrer, dass er sich mit vielen der Probleme befasst, mit denen es klinische Psychologen zu tun haben. Über diese Ähnlichkeit der beiden Tätigkeiten sagte Chögyam Trungpa: „Sie sollten das, was Sie tun, nicht als gewöhnliche medizinische Arbeit betrachten. Als Psychotherapeuten sollten Sie Ihren Patienten mehr Aufmerksamkeit widmen und an ihrem Leben Anteil nehmen. Diese Art der Freundschaft ist eine langfristige Verpflichtung. Sie ist fast wie die Lehrer-Schüler-Beziehung auf dem buddhistischen Weg. Sie sollten stolz darauf sein“ (Seite 187).

Für Chögyam Trungpa ging es in der Spiritualität, in der Psychotherapie und im Leben überhaupt darum, so vollständig wie möglich Mensch zu werden, statt sich in etwas ganz anderes verwandeln zu wollen. Er schrieb, dass der „Geist nicht verändert oder ausgewechselt werden kann, nur ein Stück weit geklärt. Man muss zurückkommen auf das, was man ist, statt sich zu etwas anderem bekehren zu wollen“ (Seite 225). Es ist diese Weisheit – die Weisheit, wer wir sind –, die er leidenschaftlich vertrat und die hier als Grundlage für die Arbeit mit uns selbst und anderen präsentiert wird.

Meditation, Geist und Psychologie

Dieses Buch zerfällt grob in drei Teile: Meditation, Geist und Psychologie. (Ich sage „grob“, weil Chögyam Trungpa oft über die Natur des Geistes spricht, wenn er die Meditation behandelt, und in vielen seiner Beiträge über Geist und Psychologie bezieht er sich wiederum auf die Meditation.) Das Buch beginnt mit dem Prolog „Die Begegnung von buddhistischer und westlicher Psychologie“, in dem die grundlegende Logik dargestellt wird, die das gesamte Material dieses Buches verbindet. Trungpa Rinpoche definiert hier ursprüngliche Gesundheit und erläutert, warum Meditation und die Untersuchung des eigenen Geistes als Grundlage für das Verständnis von anderen und die Arbeit mit ihnen wichtig ist. Teil eins, „Meditation“, stellt dann sowohl die Technik der Meditation vor als auch, was sie für das Verständnis der Natur des Geistes und für die Anwendung der gewonnenen Einsichten in unseren Beziehungen zu anderen bedeutet. Teil zwei, „Geist“, präsentiert Material zur Entwicklung des Ego aus buddhistischer Perspektive und behandelt Aspekte menschlicher Intelligenz, Wahrnehmung und Kognition. In diesem Abschnitt behandelt der Autor auch die Energie von Emotionen und die komplexen Gemütszustände, die wir kreieren. Teil drei, „Psychologie“, beleuchtet speziell die Arbeit mit anderen in einem therapeutischen Rahmen. Der kontemplative Ansatz, den Trungpa Rinpoche empfiehlt, beruht auf der Praxis der Meditation und den Einsichten, die aus dieser Praxis erwachsen. Wie der Autor sagt:

„Wenn Psychologen aus dem Westen den Buddhismus zu studieren beginnen, taucht fast immer eine wichtige Frage auf: Muss man Buddhist werden, um etwas über den Buddhismus zu lernen? Die Antwort ist natürlich nein, aber es muss zurückgefragt werden: Was wollen wir denn lernen? Das Wichtigste, was der Buddhismus einem Psychologen aus dem Westen zu sagen hat, ist, wie man sich direkter auf das eigene Erleben einlässt, seine Frische, seine Fülle, seine Unmittelbarkeit. Dazu braucht man kein Buddhist zu werden, aber man muss Meditation praktizieren. … Eine ordentliche Portion Meditation ist für die Arbeit mit uns selbst und anderen wirklich notwendig“ (Seite 35/36).

Meditation

Wer bin ich? Was bin ich? Warum bin ich? Seit vielen tausenden von Jahren stellt sich der Mensch diese Fragen. Im Lauf der Zeit hat unsere Spezies viele Antworten formuliert, aber auch individuell ringt jeder Mensch mit diesen Problemen. Vorformulierte Antworten befriedigen uns irgendwie nicht, so entscheidend sind diese Fragen für das menschliche Dilemma. In der buddhistischen Tradition ermöglicht uns die Praxis der Meditation, diese Fragen auf eine direkte, empirische Weise zu untersuchen, statt uns irgendwelche Dogmen anzubieten.

Meditation ist eine uralte Methode, und doch ist sie für die Arbeit mit unserer gegenwärtigen Situation erstaunlich gut geeignet und anwendbar. Sie steht im Einklang mit vielen Entdeckungen, die westliche Psychologen im Lauf der letzten hundert Jahre gemacht haben. Buddhistische Meditation ermutigt uns, mit dem Erleben unseres eigenen Geistes anzufangen und diese durch Meditation gewonnene Erfahrung für eine Untersuchung dessen zu benutzen, was wir sind oder zu sein scheinen. Die buddhistischen Lehren empfehlen uns, unsere gewohnheitsmäßigen Denkmuster und die Art, wie sie unser Erleben bestimmen, genauer zu prüfen. So durch die Praxis der Meditation zu erforschen, wer wir sind, kann uns helfen, überflüssiges mentales Gepäck loszuwerden und unser Leben auf eine echte Weise zu leben. Das heißt nicht, dass wir zwangsläufig von all unseren Problemen befreit werden, aber durch den Blick darauf, wie unbehaglich wir uns oft fühlen, wie wir oft leiden, wie wir oft unzufrieden und ängstlich sind, beginnen wir gleichzeitig zu begreifen, wie wir diese Misslichkeiten überwinden oder auflösen können.

Selbst innerhalb der buddhistischen Tradition gibt es viele Spielarten der Meditation. Es gibt bedeutende Unterschiede in den Techniken und wie sie angewandt werden, und das hat Einfluss darauf, wie man die Meditation erlebt und welche Schlussfolgerungen man vielleicht hinsichtlich der Natur des Geistes und der Wirklichkeit zieht. Man könnte sagen, dass diese Unterschiede vergleichbar sind mit dem Blick durch verschiedene Objektive. Wir können etwas mit dem bloßen Auge betrachten, wir können Linsen benutzen, die Kurz- oder Weitsichtigkeit korrigieren, wir können durch ein Mikroskop schauen, wir können ein Fernrohr nehmen und das All betrachten. Jedes Mal bietet sich uns ein anderer Anblick. Manche dieser Perspektiven bestätigen die alltägliche Auffassung von der Realität, manche zeigen uns einen Aspekt der Welt, der völlig anders ist als das, was wir vielleicht erwartet haben. Galileo Galilei wurde als Ketzer verteufelt, weil er beschrieb, was er sah, als er sein Fernrohr in den Himmel richtete. Die Meditation kann uns eine Perspektive bieten, die womöglich genauso revolutionär ist.

 

Jegliches Werkzeug, auch die Meditation, kann natürlich aber auch dazu benutzt werden, lediglich das zu bestätigen, was wir bereits glauben, wobei wir alles ignorieren, was mit unseren Ansichten über die Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Oder aber wir können es dazu benutzen, mit einer offenen Einstellung das Terrain zu erkunden, was uns zu neuen Erkenntnissen führt. Chögyam Trungpas Ansatz war der des Forschers. Die Technik, die er lehrte, ermuntert uns, unsere Überzeugungen erst einmal auf Eis zu legen, ohne allzu viele vorgefasste Meinungen vorzugehen und ohne allzu viele Schlussfolgerungen weiterzumachen. Sei einfach. Sitz einfach. Warte mal ab. Das ist sein Rezept.

Gleichzeitig aber, als einer, der bereits ausgiebige Forschungsreisen unternommen und die Arbeit anderer Forscher zu Rate gezogen hat, informiert er uns auch über die Hinweisschilder, die sich auf dem Weg finden. Und er entlässt uns auch nicht einfach in den Dschungel, damit wir uns den Weg freikämpfen, sondern zeigt uns einen Weg, wie wir anfangen und wie wir weitermachen können; er gibt uns die Werkzeuge an die Hand, die wir für unsere Reise brauchen. Ganz einfach gesagt, sind das: unser Körper und unsere Sitzhaltung als Hilfsmittel zur Orientierung und als Ausdruck unserer grundlegenden Wachheit und menschlichen Würde; unser Atem als Mittel, unsere reine Aufmerksamkeit zu fokussieren, als Erinnerung an unsere Lebenssituation, unsere Lebendigkeit und, in einer tieferen Dimension, als ein Mittel, unseren Geist mit Raum zu durchmischen; schließlich die Techniken, unsere Gedanken zu etikettieren – anzuerkennen, dass wir denken – und mit leichter Hand eine gewisse Bemühung aufzuwenden, damit wir in der Gegenwart bleiben und uns auf die Gegenwärtigkeit unseres Erlebens einlassen können. Er ermutigt uns, unser gesamtes Wesen und unser gesamtes Erleben auf das Meditationskissen zu bringen. Bring das Chaos; bring die Verwirrung; bring das Gepäck. Lass nichts weg; schiebe nichts zur Seite. Bring alles her. Klammere dich nicht daran fest, sondern lass es gut sein. Warte mal ab.

Chögyam Trungpas Ansatz bei der Meditation – ein Ansatz, der nicht zielorientiert ist – ist ein ziemlich radikales Rezept der Lebensführung. Die Technik, die er lehrte, beruht darauf, eine Wertschätzung für den gegenwärtigen Moment zu entwickeln, indem man sich auf ein nicht festgelegtes Daseinsgefühl einstimmt. Dieser Ansatz beruht nicht darauf, Konzentration zu entwickeln, obwohl er Bewusstheit3 fördert. Er ist keine Entspannungstechnik, obwohl er hilft, ein Gefühl der Zufriedenheit zu entwickeln, indem man akzeptiert, was man ist. Er ist auch nicht in erster Linie eine Methode, Probleme zu überwinden oder Dinge zu ändern, die wir an uns selbst nicht mögen. Dieser Ansatz umfasst vielmehr den Reichtum und die Komplexität – sogar das Chaos – unseres Erlebens. Er beruht darauf, dass man sich für sich selbst öffnet, statt etwas verdrängen oder verändern zu wollen. Chögyam Trungpa sagte ganz oft, Meditation heiße, Freundschaft mit sich selbst zu schließen.

Man könnte sagen: Weil durch die Praxis der Meditation, so wie er sie präsentierte, nichts verändert wird, wird alles verwandelt. Wenn wir aufhören, auf uns einzuprügeln und zu denken, dass mit uns etwas nicht stimmt, bringt das eine fundamentale Erlösung mit sich und lindert unser Leiden und unsere Ängste. Statt ein künstliches Werkzeug zur Überwindung unserer Verwirrung zu fabrizieren, bringt uns die Meditation in Verbindung mit der Klarsicht und der Wachheit, die unserem Erleben inhärent sind. Während uns die Meditation also helfen kann zu sehen, dass viele unserer festgelegten Vorstellungen über uns selbst und unsere Welt fragwürdig sind, so ist sie doch andererseits keine Technik, die uns entmutigen, deprimieren oder den Boden unter den Füßen wegziehen sollte. Sie ist eher ein Weg, unser Leben, uns selbst und andere zu bejahen.

Manchmal müssen wir uns in der Meditationspraxis auch mit unseren schwierigen Seiten auseinandersetzen. Wir sollten jedoch erkennen, dass es grundlegende Intelligenz ist, die uns überhaupt befähigt, hinzuschauen und unser Leben zu untersuchen. Ohne sie könnten wir die Fragen gar nicht stellen. Diese Erkenntnis könnte für uns der erste echte Schimmer grundlegender geistiger Gesundheit sein. Wenn wir unsere eigene Wachheit zu würdigen beginnen, sehen wir auch, dass das menschliche Leben insgesamt etwas Machtvolles und Heiliges hat. Dieser Kontakt zu einer größeren Dimension ist die Basis dafür, andere wertzuschätzen und ihnen von da aus wirklich zu helfen.

Trungpa Rinpoche hatte das Gefühl, dass westliche Adepten der Meditation, wie auch westliche Therapeuten und Therapien, oft unter mehr oder weniger starken Nachwirkungen des Glaubens an die „Erbsünde“ litten. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer Fixierung auf Gefühle der Schuld und der Verdammnis, dem Gefühl, wir würden etwas Böses tun oder uns sei etwas Böses angetan worden, und das sei die Wurzel unserer Probleme. Im Gegensatz zu diesem Schuldgefühl, das er als etwas dem Buddhismus völlig Fremdes ansah, sprach er vom „grundlegend Guten“ als der Grundlage des Erlebens und der Meditationspraxis. Das „grundlegend Gute“ ist gut ohne Kontrast zu „schlecht“, ist Gutes als Boden jeder Erfahrung, bevor die Polarität von Gut und Schlecht überhaupt einsetzt. Von diesem Standpunkt aus ist irgendeine Sünde oder ein Verbrechen nicht die fundamentale Ursache unseres Problems, wenn auch vielleicht ein verschärfender Faktor. Wir brauchen keine Angst zu haben, dass wir, wenn wir uns öffnen, bei uns einen schrecklichen Defekt oder ein schreckliches Geheimnis entdecken. Wenn die Wolken der Verwirrung sich verziehen, entdecken wir, dass ein schlichtes Missverständnis vorliegt, und das entpuppt sich als unser irriger Glaube an ein feststehendes Selbst oder Ego. Wir entdecken, dass unser Wesen wie die Sonne ist, die am Himmel scheint: strahlend und von Grund auf ungehindert. Die Entdeckung des „Mythos Ego“ führt uns zum zweiten Teil des Buches.

Geist

Teil zwei, „Geist“, präsentiert Schriften über die Natur des Geistes und die Entwicklung des Ego aus buddhistischem Blickwinkel. Dieser Abschnitt untersucht einige der Einsichten, die sich ergeben, wenn man das eigene Erleben durch das Vergrößerungsglas der Meditation betrachtet. Wo die klinische Psychologie im Westen mit der Untersuchung oft im Stadium voll entwickelter Gedanken, Emotionen und Gemütszustände ansetzt, beginnt der buddhistische Ansatz auf einem fundamentaleren Niveau und betrachtet die Bausteine und grundlegenden Funktionen des Geistes, des Intellekts und des Selbst. Der Ansatz, den Trungpa Rinpoche präsentiert, beginnt mit grundlegendem Raum, einem offenen Raum, der mit dem ursprünglichen Zustand der Intelligenz und Wachheit zusammenhängt, der sich durch alles Erleben hindurchzieht. Die verschiedenen Komponenten dessen, was wir gewöhnlich für unser Selbst oder unser Ego halten, erwachsen auf diesem oder inmitten dieses grundlegenden Bodens. Wenn wir in Panik geraten – als Reaktion auf den verunsichernden Aspekt dieser Offenheit –, versuchen wir, die offene Weite einzufrieren, und wir erschaffen die Welt der Dualität, die Welt des Ego. In den buddhistischen Lehren wird Ego als eine überflüssige und trügerische Kreation betrachtet, eine dualistische Selbstbesessenheit, die uns an einer echten Wertschätzung für unser Leben hindert. Es wird als Flickwerk betrachtet, das keine echte Substanz hat, keine wirkliche Existenz. Es ist voller Löcher wie ein Schweizer Käse, und auch der Käse ist nur heiße Luft. Während dies bestimmten Ansichten im Westen fremd zu scheint, steht es doch mit verschiedenen psychologischen Ansätzen im Einklang, die den Wert von Verletzlichkeit, Flexibilität und Offenheit für Veränderungen betonen. Das Durchschauen des „Mythos Ego“ hat die Kehrseite, dass wir wieder in Kontakt kommen mit der grundlegenden offenen Weite und diesen Zustand der Egolosigkeit als grundlegende Gesundheit erkennen, als einen ursprünglichen Seinszustand, den wir alle besitzen.

Hier findet sich auch Material über die verschiedenen Wissens- und Intelligenzfunktionen, die der Geist zeigt. Auf Tibetisch heißen sie sems, rikpa, lodrö und yi. Es sind Werkzeuge oder Wege des Erkennens, Aspekte unserer Intelligenz und wie wir sie anwenden, im Gegensatz zu den Aspekten oder Komponenten, den Skandhas, des Ego. Die Skandhas sind aufeinander aufbauende Schichten (skandha bedeutet wörtlich „Haufen“) von Komplikationen und Konfusion, die wir kreieren, um die grundlegende Offenheit und Weiträumigkeit des Seins zu übertünchen.

Im Abschnitt „Geist“ präsentiert Chögyam Trungpa auch die sechs Welten der Existenz, die als fixe Ideen oder Halluzinationen beschrieben werden, die wir kreieren – auch wenn wir sie oft als von außen erzeugt oder aufgedrängt erleben. Chögyam Trungpa bezeichnet sie manchmal als „Stile der Gefangenschaft“. Die sechs Welten hängen traditionell mit den buddhistischen Lehren über das Rad des Lebens zusammen und werden beschrieben als tatsächliche Himmels- und Höllenwelten inklusive allem dazwischen – der Welt der eifersüchtigen Götter, der Welt der Menschen, der Welt der Tiere, der Welt der hungrigen Geister. Chögyam Trungpa macht dieses Material zugänglich und aufschlussreich, indem er diese Welten den emotionalen und psychischen Zuständen zuordnet, die wir alle täglich durchleben.

Zum Schluss gibt es in Teil zwei ein Kapitel über verschiedene Stile der Wahrnehmung, die Chögyam Trungpa auch auf verschiedene Persönlichkeitstypen und Emotionen bezieht. Diese Darlegungen beruhen auf den tantrischen Lehren des tibetischen Buddhismus zu den „fünf Buddha-Familien“. Diese Lehren stellen eine Kategorisierung verschiedener Eigenschaften oder Stile dar, die für Verwirrung wie auch für Weisheit charakteristisch sind. Anders ausgedrückt, beschreiben die Buddha-Familien Energie, sowohl neurotische Energie als auch die erleuchtete Energie, die transformiert oder hinter jedem neurotischen Gefühlsausbruch entdeckt werden kann. Chögyam Trungpa war, glaube ich, der Erste, der die Lehren über die Buddha-Familien so direkt auf die Psychologie und Persönlichkeit des Menschen angewandt hat. Sowohl in seine eigene künstlerische Arbeit und in die mit anderen Künstlern wie auch bei seiner Arbeit mit Psychologen im Bereich der psychiatrischen Vorsorge brachte er dieses Material ein. Für ihn waren die fünf Buddha-Familien einer der Lehrinhalte aus der tantrisch-buddhistischen Tradition, mit dem die westliche Kultur und Denkweise sofort etwas anfangen konnte. Bis heute ist dies der Bereich, wo seine Leistungen am deutlichsten bahnbrechend sind.

Psychologie

Teil drei des Buches schließlich, „Psychologie“, präsentiert Schriften zur Umsetzung buddhistischer Psychologie und Meditation innerhalb der westlichen Psychologie, Psychotherapie und generell bei der Arbeit mit anderen im Rahmen einer heilenden Beziehung. Ein kurzer Abriss von Chögyam Trungpas Beschäftigung mit westlicher Psychologie soll hier als Grundlage dienen, um seine Thesen zu diesem Thema würdigen zu können.

Nach seinem ersten Kontakt mit westlichen Ansichten über den Buddhismus, denen er in den sechziger Jahren in Indien und England begegnete, war Trungpa Rinpoche klar, dass im Westen eine gewisse Verwirrung herrschte, weil der Buddhismus für eine Religion gehalten und buddhistische Meditation irrigerweise oft als eine Form der Anbetung oder als ein Mittel, einen veränderten oder höheren Bewusstseinszustand zu erreichen, betrachtet wurde. Viele der Menschen, denen er im Westen als erste begegnete, verstanden Meditation nicht als Methode, die Natur des eigenen Geistes zu untersuchen.

Von allen Schulen des buddhistischen Denkens war der tibetische Buddhismus, wegen der Komplexität seiner Rituale und Symbolik und wegen seiner Darstellungen tantrischer „Gottheiten“ wahrscheinlich die am meisten missverstandene. Vielen Beobachtern im Westen schien der tibetische Buddhismus ein System der Anbetung oder der Vereinigung mit den Göttern zu sein, ein Versuch, in den Besitz göttlicher oder gar schwarzmagischer Kräfte zu gelangen.4 Ohne ein Verständnis der im tibetischen Buddhismus verwendeten Symbolik war es schwer zu begreifen, dass die abgebildeten Gottheiten eigentlich Darstellungen der vielen Facetten des menschlichen Geistes und seiner Myriaden von Gedanken und Gefühlen waren.

Als er Anfang der Sechziger in den Westen kam, um in Oxford zu studieren, erkannte Chögyam Trungpa bald, dass in der Sprache der Psychologie die buddhistischen Lehren besser zu vermitteln sein würden, als das in der Sprache westlicher Religion bisher gelungen war. Sehr früh wählte er den westlichen Fachausdruck „Ego“ als Bezeichnung für die Erfahrung quälender Selbstbezogenheit5 und prägte den Ausdruck „Egolosigkeit“ als Bezeichnung für die in der Meditation gewonnene Einsicht in die nichtige oder illusorische Qualität des Selbst und seiner Gewohnheitsmuster. Dies dürfte wahrscheinlich als sein wichtigster Beitrag zum Verständnis des Buddhismus im Westen gelten. Sogar das Oxford English Dictionary führte in seiner zweiten Auflage unter dem Stichwort „Ego“ Trungpas Gebrauch des Wortes „Egolosigkeit“ auf.6 Er benutzte auch das Wort „Neurose“, aber nicht in erster Linie als Diagnose für eine Geisteskrankheit. Neurotischer Geist war vielmehr die Verzerrung, die aus der allgemeinmenschlichen Erfahrung entsteht, aus Gewohnheit am Glauben an ein feststehendes und separates Selbst festzuhalten. Ab den siebziger Jahren wählte er Ausdrücke und Formulierungen wie „Angst“, „Depression“, „Schuldgefühle“, „neurotische Denkmuster“ oder „unbewusste Tendenzen“ und beschrieb damit verwirrte und schmerzvolle Erfahrungen, die uns allen vertraut sind und durch die Praxis der Meditation angegangen werden können. Dieses psychologische Vokabular im Zusammenhang mit buddhistischer Praxis zu gebrauchen kommt uns heute völlig normal vor, war aber in den Siebzigern eine Pioniertat.

 

In England machte Chögyam Trungpa in den sechziger Jahren die Bekanntschaft des englischen Psychoanalytikers R. D. Laing, der ihn in einige der radikaleren Ansätze westlicher Psychologie einführte. In Amerika sprachen er und der Zen-Meister Shunryu Suzuki Roshi zu Anfang der Siebziger oft über den Aufbau einer therapeutischen Wohngemeinschaft für die Arbeit mit geistig verwirrten Menschen. Leider starb Suzuki Roshi Ende 1971 an Krebs. Chögyam Trungpa arbeitete jedoch weiter an diesen Plänen, und 1972 gründeten er und eine Gruppe seiner Schüler, die seine Ausführungen zum Thema Psychologie wie auch die Arbeit einiger westlicher Psychologen studiert hatten, im Norden des US-Staates New York eine therapeutische Gemeinschaft, um dort Klienten mit schweren psychischen Problemen zu behandeln. Chögyam Trungpa hatte eine auf konkreten Erfahrungen basierende Methode namens „Maitri Space Awareness“ entwickelt, bei der eine Reihe speziell entworfener Räume und Körperhaltungen zum Einsatz kam, die die Neurose schärfer akzentuierten, so dass sie klar erkannt und direkt bearbeitet werden konnte. Er entwickelte „Maitri Space Awareness“ gemäß seinem psychologischen Verständnis der fünf Buddha-Familien, die in Teil zwei beschrieben werden. Seine frühen Gedanken zum Thema „Space Awareness“ werden in Teil drei dieses Buches vorgestellt, im Kapitel „‚Maitri Space Awareness‘ in einer buddhistisch-therapeutischen Gruppe“.

Als sich herausstellte, dass sie für die Behandlung schwerer geistiger Krankheit unzureichend ausgebildet waren, begannen die Schüler, die das „Maitri“-Team bildeten, sich mit Hilfe der von Chögyam Trungpa entwickelten Techniken weiterzubilden und ihre eigene Psychologie zu studieren. Diese kombinierte Form der Arbeit mit „Maitri Space Awareness“ hat sich bis heute fortgesetzt.

1974 gründete Chögyam Trungpa das „Naropa-Institut“ (mittlerweile „Naropa-Universität“) in Boulder, Colorado. Von Beginn an umfasste diese vom Buddhismus inspirierte weiterführende Bildungseinrichtung das Studium kontemplativer Psychologie. Viele von Chögyam Trungpas Ansichten und Einsichten psychologischer Art wurden in das Programm integriert. Noch heute ist „Maitri Space Awareness“ ein Teil der Naropa-Ausbildung in kontemplativer Psychologie.

Trungpa Rinpoche arbeitete eng mit den Dozenten und Studenten von Naropa zusammen, und eine Reihe der Artikel über Psychologie, die im vorliegenden Band enthalten sind, beruht auf seinen Diskussionen mit Studenten und Dozenten dieses Fachbereichs. (Heute bieten die verschiedenen Naropa-Fachbereiche mehrere verschiedene Psychologie-Studiengänge an. Ursprünglich gab es aber nur einen Fachbereich.) Angelockt von Chögyam Trungpas Reputation strömten in den siebziger und achtziger Jahren Scharen von Therapeuten und Psychologen nach Naropa, um zu studieren und zu unterrichten. Viele blieben dort und halfen beim Aufbau von Naropas Psychologie-Studiengang. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von klinischen Psychologen, Psychotherapeuten oder Psychiatern durch ihre Verbindung zu Naropa von Chögyam Trungpas Einsichten über Psychotherapie und die Natur des Geistes beeinflusst worden sind.

Chögyam Trungpa pflegte eine enge Beziehung zu Dr. Edward Podvoll, dem Direktor des Naropa-Fachbereichs Psychologie von 1977 bis 1990. Ed arbeitete mit Chögyam Trungpa an der Herausgabe einiger Artikel, die hier in diesem Buch enthalten sind. Eine wichtige Sache, die sich aus Naropa und der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Dr. Podvoll, seinen Studenten und Chögyam Trungpa ergab, war der Aufbau der „Windhorse Community Services“ zur intensiven Arbeit mit psychisch schwer gestörten Menschen. Ein Windhorse-Team richtet eine Therapie-Wohnung für den Klienten ein und lebt mit ihm oder ihr während der Behandlung zusammen. In dieser Situation wendet das Team viele der Prinzipien buddhistischer Psychologie an, die Chögyam Trungpa formulieren half. Windhorse begann in den Achtzigern in Boulder, Colorado, mit einer oder zwei solcher Therapie-Wohnungen. In der Region um Boulder gibt es mittlerweile vierzig Therapie-Wohngemeinschaften, außerdem weitere in Northampton, Massachusetts, sowie in Wien und Zürich. In Nordamerika und Europa gibt es auch einige Studiengruppen zum Windhorse-Modell.

Chögyam Trungpa hatte auch viel Kontakt zu Vertretern und Anhängern der transpersonalen Psychologie in Nordkalifornien. Eines der Kapitel dieses Buches, „Ursprüngliche Gesundheit: Ein Gespräch mit Angehörigen verschiedener Heilberufe“, wurde zuerst im Journal of Transpersonal Psychology veröffentlicht. Schon 1971 gab Chögyam Trungpa bei der nationalen Konferenz der „Association for Humanistic Psychology“ in Washington eine Präsentation zum Thema Meditationspraxis. Dieser Vortrag wurde ebenfalls für die Veröffentlichung im Journal of Transpersonal Psychology vorbereitet, wo er 1973 erschien. Im vorliegenden Band erscheint er in Teil eins unter dem Titel „Wie man Meditation angeht: Ein Vortrag für Psychologen“.

Der dritte Teil dieses Buches, „Psychologie“, enthält eine Reihe von Vorträgen über die Anwendung von Meditation bei einer Therapie und in der westlichen Psychologie generell, die Chögyam Trungpa vor Psychologen, Psychologiestudenten und seinen eigenen Buddhismus-Studenten hielt. Viele davon erschienen ursprünglich als Zeitschriftenartikel und sind schon seit Jahren in fotokopierter Form unter denen im Umlauf, die sich für Chögyam Trungpas Arbeit interessieren.7

In all seinen Beiträgen über Psychologie präsentiert Chögyam Trungpa einen Ansatz, der auf den aus der Meditationspraxis erwachsenden Einsichten beruht, auf dem Verständnis, das man für seinen eigenen Geist entwickelt, und auf der Praxis der Meditation in allen Aktivitäten des eigenen Lebens. Die Verbindung zwischen formeller Praxis und alltäglichen Lebenssituationen war etwas, auf das er bei seiner Vermittlung der buddhistischen Lehren im Westen früh Wert legte. Nicht umsonst lautete der Titel seines ersten Buches, 1969 in England veröffentlicht, Meditation in Action. Angesichts dieser Zielrichtung seiner ganzen Arbeit überrascht es nicht, dass er Erkenntnisse aus der buddhistischen Tradition auf die psychotherapeutische und klinisch-psychologische Arbeit – sowie auf eine Reihe anderer „weltlicher“ Disziplinen des Westens – übertrug.

Obwohl Trungpa Rinpoche ziemlich detaillierte Ratschläge erteilt, was die Arbeit mit anderen auf einer geistig gesunden und mitfühlenden Grundlage angeht, so ist sein Rezept gleichzeitig doch breit angelegt und von großer Tragweite. Im Artikel „Ganz Mensch werden“ beispielsweise beginnt er die Diskussion des Themas mit der Bemerkung: „Die grundlegende Arbeit in einem Heilberuf besteht generell und besonders bei Psychotherapeuten darin, ganz Mensch zu werden und diese Qualität des Ganz-Mensch-Seins in anderen zu wecken, die ihr Leben als sinnlos empfinden“ (Seite 181).