Kalypsos Liebe zum kalten Seerhein

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WOLLMATINGEN

Am Abend veranstaltet der Naturschutzbund sein Herbstgrillfest. Die Fluss-Seeschwalben haben die installierten Brutflöße dieses Jahr gut angenommen, das feiert man mit einem Freudenfeuer, Stockbrot und Biowürstchen. Im Tipi gibt es Zwiebelkuchen und Apfelmost. Die Sonne verkriecht sich hinter roten Wolken, die ersten Fackeln brennen bereits, und Niks hüllt sich fester in ihren alten Wollponcho, der den Rauchgeruch früherer Feste in sich trägt. Alle um sie herum sind jünger als sie. Anfangs fühlte Niks sich fremd zwischen den engagierten Ehepaaren. Deren lebhafte Erzählungen von Sitzblockaden in Gorleben, am Frankfurter Flughafen oder im Wendland erinnerten Niks vor allem an die Glaszelle, in der sie Tag für Tag saß, um das Geschehene in trockene, verständliche Sätze zu packen.

Neben ihr sitzt Julia, eine schmale Ornithologin mit fünf Kindern und einem Mann, der sein halbes Leben auf der Rainbow Warrior verbracht hat. Heute kauert er vor dem Feuer und hält fünf Stockbrote in die Flammen. Julias Blick ist liebevoll-nachsichtig. Sie zieht eine Tupperdose aus ihrem Rucksack und bietet ihren zwei jüngsten Kindern Apfelstückchen daraus an. Nächstes Jahr könnten wir noch mehr Brutflöße bauen, sagt sie zu Niks. Herrmann wird das beantragen.

Als hätte Herrmann sie gehört, nimmt er die fünf Stöcke in die rechte Hand, dreht den Kopf und winkt mit der Linken. Dann wendet er sich wieder dem Feuer zu.

Ich hoffe, dass er dieses Jahr daheim bleibt, nickt Julia. Max ist in der vierten Klasse und wird sie nicht so leicht schaffen wie die zwei anderen. Es ist eine schwierige Zeit für ihn und für uns, und Herrmann muss mithelfen. Er hat eine Vollzeitstelle bei Greenpeace angeboten bekommen. Das Meiste wäre einfacher Redaktionskram, den er von daheim aus erledigen kann. Höchstens ein Mal in der Woche würde er nach Stuttgart fahren. Er wollte unbedingt fünf Kinder, also soll er sich auch Zeit für sie nehmen. Julias hageres Gesicht ist alltäglich, ein Gesicht, das sich in sprechende Quer- und Längsfalten legen lässt.

Klingt prima. Niks nimmt Herrmann zwei Stockbrote ab und reicht sie weiter. Julias jüngste Kinder Noah und Lena tauchen unter der Bierbank hervor und krähen lautstark nach Futter. Ungestüm schiebt sich Lena ein Brot in den Mund, verbrennt sich die Lippen. Das Brot fällt zu Boden.

Ruhig, Lena, ruhig. Julia hält ihre heulende Tochter mit der linken Hand auf der Sitzbank und kramt mit der Rechten in ihrer Handtasche aus Lastwagenplanen, um ein winziges, braunes Fläschchen hervorzuholen. Sie schraubt es auf, ohne die Linke zu Hilfe zu nehmen, und träufelt Lena ein paar Tropfen auf die verbrannte Stelle. Das Kind brüllt. Der Bruder steht dicht daneben und nagt gedankenvoll an seinem Brot. Schmeckt’s, fragt Niks, doch Noah hat kein Interesse an ihr. Die Aufmerksamkeit, die seine Schwester erregt, scheint ihn zu ärgern. Lena tut der ganze Mund weh, und ihre Mutter redet beschwichtigend auf sie ein. Greenpeace-Herrmann kauert mit den verbliebenen Stockbroten vor dem Feuer, umringt von seinen drei Ältesten. Niks muss an ein Wolfsrudel denken, hochkonzentriert und gleichzeitig halb wahnsinnig vor Hunger. Doch als Herrmann vorsichtig über die Brote bläst und sie seinen Kindern überreicht, nehmen sie die Stöcke behutsam entgegen. Nacheinander fragen sie ihn, ob er auch mal beißen will, und jedes Mal nickt er und knabbert mit geschürzten Lippen ein kleines Stückchen ab. Dann essen die Kinder. Herrmann sieht ihnen zu. Im warmen Feuerschein wirken ihre Gesichter kupfern und schattig.

Wie wär’s mal mit Glühmost?

Niks nimmt den angebotenen Becher dankbar entgegen; die Herbstkälte zieht ihr in die Finger und lässt sie taub werden, doch Julia schüttelt den Kopf. Nicht für mich.

Alex, der Zivi, hält sein Glühmosttablett hoch und erklärt Julia, dass es auch alkoholfreien Kinderpunsch gebe. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf das fackelbeleuchtete Tipi. Dort drin haben sie einen Riesentopf voll.

Niks trinkt ein paar Schlucke Most und schlägt Noah und der tränenverschmierten Lena vor, für Mama Punsch zu holen. Sie steht auf, nimmt die klebrigen Pfoten der beiden Kinder links und rechts in ihre Hände, steuert auf das Tipi zu. An Fasching bin ich auch Indianer. Lena tapst vorsichtig durch den Rindenmulch vor dem Zelteingang.

Du bist gar kein richtiger Indianer. Noah stößt sie in die Seite. Indianer heulen nie.

Gar nicht. Die Kinder weinen auch manchmal. Die Indianer haben doch auch Kinder, oder? Lena sieht bittend zu Niks hoch. Klar, sagt Niks. Jedes Kind weint mal. Und Erwachsene auch.

Aber Mama weint nie. Lena geht durch den Zelteingang und bleibt stehen, überrascht von der Wärme und dem strahlenden Licht der Glühlampen, die von der Decke baumeln. Die schimpft bloß immer. Noah trampelt Lena unsanft in die Hacken. Geistesabwesend tritt Lena zurück und trifft Niks am Schienbein.

Seid doch vorsichtig. Niks legt Lena die Hand in den Nacken und schiebt sie weiter.

Hinter der Theke steht eine junge Frau in Haremshose und Wolljacke, die in einem großen, dampfenden Kessel rührt. Sie lächelt freundlich auffordernd. Hallo Niks, sagt sie. Hast du deine Enkel dabei? Das ist ja nett! Niks schüttelt den Kopf, während Lena und Noah lautstark protestieren. Die sind von Julia. Wir wollen drei Mal Kinderpunsch, nicht wahr?

Die junge Frau schöpft Punsch in drei Tonbecher und stellt sie auf ein Tablett. Niks bezahlt. Noah versucht, das Tablett mit beiden Händen anzuheben, dann verlässt ihn der Mut, und er setzt es wieder ab.

Ich trage es schon, sagt Niks beruhigend. Aber ihr müsst mir die Zeltklappe aufhalten. Danke schön.

Die junge Frau winkt ihnen mit dem Stiel ihres Schöpflöffels hinterher. Niks nimmt das Tablett, lässt sich von den Kindern aus dem Zelt lotsen und ist verwirrt von der Dunkelheit draußen. Das Feuer brennt noch, aber sein Schein dringt nur trübe in die Gesichter der im Kreis sitzenden Menschen. Niks blinzelt. Ihre Augen brauchen so lange, sich an Helligkeitsunterschiede zu gewöhnen. Lena zerrt ungeduldig an einem Zipfel ihres Ponchos, und Niks lässt sich mitziehen, unsicher, halb blind, immer darauf bedacht, das Tablett in der Waage zu halten. Als sie wieder sehen kann, merkt sie, dass sie Tränen in den Augen hat.

PARADIES

Grünflächen machen eine Menge Lärm. Um sieben Uhr morgens rücken Laubbläser an, Äste werden gekappt und die Rasenmäher verabschieden sich röhrend in den Winter. Niks fragt sich, warum man die gefallenen Blätter nicht einfach lassen kann, wo sie sind. Ein durchschnittlicher PKW-Motor bringt es im Wohngebiet vielleicht auf sechzig Dezibel. So ein Laubbläser dröhnt gut und gern das Doppelte. Die Männer in Orange unten auf der Straße halten ihre Schläuche in den Händen, tragen Gehörschutz und tun so, als ginge sie das alles gar nichts an. Sie sind beauftragt, welke Blätter vor sich herzutreiben.

Niks steht am offenen Schlafzimmerfenster. Sie würde am liebsten etwas werfen. Stattdessen geht sie nach unten, tritt auf einen der orangefarbenen Männer zu. Ein Außerirdischer. Er hat eine bedeutende Nase, lächelt sie an, schiebt sich den Gehörschutz in den Nacken und stellt sogar den Laubbläser ab.

Die Kastanien, sagt er ernst. Sind von Miniermotten befallen. Wenn wir das Laub nicht wegmachen, nisten die sich im Winter dort ein und nächstes Jahr werden es noch mehr. Niks ist verblüfft, wie logisch das klingt. Als wäre er eigens geschult, die Fragen lästiger Anwohner zu beantworten.

Diese Bäume werden jedes Jahr früher gelb. Wenn sie absterben und wir sie weghauen müssen, wäre Ihnen das auch nicht recht, oder? Niks ist uninformiert. Doch der Mann in Orange scheint es ihr nicht übelzunehmen. Er lächelt noch immer.

Sehen Sie. Er startet seinen Motorbläser neu. Damit Sie auch im nächsten Jahr noch Freude daran haben. Die letzten Worte versteht Niks kaum mehr. Der orangefarbene Mann deutet eine Verbeugung an, tritt einen Schritt zur Seite und widmet sich wieder seiner Arbeit. Es verschließt ihr den Mund. Im Lärm trudelnde Blätter setzen sich mitten auf der Straße zu einem langen Streifen ab. In ein paar Minuten wird das Räumfahrzeug kommen und sie holen.

Der Gedanke an Karen und ihren Sohn lastet auf ihr. Sie will ihren Alltag nicht aufgeben, so eintönig er auch sein mag. Vielleicht sollte sie sich einen Hund kaufen und sagen, sie habe es sich anders überlegt. Niks stellt sich den Hund vor, einen blitzgescheiten Jack-Russell-Terrier mit hoher Sprungkraft, der unermüdlich Bälle apportiert und nach Steinen taucht. Sie würde ihn Förster nennen und ihm ein grünes Lodenjäckchen kaufen. In seinen Barthaaren würde er die Jahreszeiten mit nach Hause bringen: getauten Schnee, Blüten und Pollen, Laubfetzen. Sein Schlafplatz wäre im Flur oder in der Küche, und wenn ein Fremder unangemeldet einträte, würde er bellen.

Doch dann denkt Niks an Häufchen und schwarze Plastiktüten und muss lachen. Es ist zu demütigend, öffentlich hinter einem Hund herzuräumen. Soll sie sich das antun, bloß um einen jungen Mann loszuwerden, der garantiert sehr bald eine eigene Bleibe finden wird? Vielleicht hat sie Glück, und er ist einer von denen, die sich tagein tagaus hinter ihren Rechner verkriechen. Denn was sollte sie mit ihm reden? Wird Karen erwarten, dass sie ihm abends etwas zu Essen macht? Niks genießt ihre einsamen Mahlzeiten, die sie manchmal direkt aus dem Topf isst, den Löffel in der einen und ein Buch in der anderen Hand. Gemeinsame Mahlzeiten mag sie nicht. Sich mit anderen zu unterhalten und dabei verschmierte Münder und verklebte Zähne zu sehen, hat ihr schon in jungen Jahren den Appetit geraubt. Auch sie selbst bietet keinen schönen Anblick mehr. Nach jedem Bissen muss sie ihre Zähne heimlich mit der Zunge überprüfen, das gebietet der Anstand.

 

Sie nimmt sich vor, den Jungen zur Selbstständigkeit zu ermuntern und ihm die Küche zu überlassen. Vorausgesetzt, er macht sie hinterher wieder sauber. Hektor. Von Achill getötet und drei Mal um die Stadt geschleift. Was für eine Grausamkeit!

Niks tritt in ihr Gästezimmer. Ein bordeauxfarbenes Ausziehsofa, weiße Wände, an den hohen Fenstern Gardinen mit winzigen Blumenmustern. Kein Teppich, nur ein lackierter Dielenfußboden. Ein Biedermeiersekretär, den Niks vor Jahren in einem Auktionshaus gefunden hat, und an dem sie ihre immer kümmerlicher werdende Briefpost erledigt. In einem Fach steht ein Portraitfoto ihrer Mutter, in einem anderen ein buntes Bild von Karen und Nadine, Arm in Arm vor der untergehenden Sonne, verwuschelte Haare, bis in die Spitzen erleuchtet. Zwei erwartungsvolle, junge Frauen, in deren Blicken die ersten Zweifel bereits aufscheinen. Ein Einundzwanzigjähriger würde in diesem Zimmer lächerlich wirken. Sie stellt sich ihn vor, wie er mit schweren Schritten über den Dielenboden geht, sich auf den zierlichen Holzstuhl wirft, dessen Sitzfläche Niks erst kürzlich mit einem blau-grauen Streifenstoff hat beziehen lassen. Wenn er nun aggressiv ist, Drogen nimmt, seine wodkaverschwitzten, lärmenden Kumpels nachts um drei mit auf die Bude nimmt und alles kaputt haut? Was dann? Karen wird ihren Sohn in Schutz nehmen und Niks vorwerfen, sie sei viel zu empfindlich, zu verschroben, zu allein.

In der Nacht wacht sie auf, weil ihr wieder einmal einfällt, wie alt sie ist, wie wenig Zeit ihr noch bleibt. Der Gedanke überfällt sie im Halbschlaf. Ein weiterer Tag will zornig von ihr wissen, warum sie ihn so vergeudet hat. Die Angst vor dem unbekannten, endgültigen Datum lässt sie nicht wieder einschlafen. Sie denkt an ihren Phantasiehund Förster und beneidet ihn um seine Ahnungslosigkeit. Hunde träumen nicht vom Tod. Hunde müssen sich auch keine Götter ausdenken. Ab und zu kommen Niks nächtliche Tränen, die stumm und unbemerkt in ihr Kopfkissen sickern. Ein ganzes Leben war sie allein, erst jetzt fühlt sie sich einsam. Falls sie demnächst sterben sollte, wird der junge Mann wenigstens den Bestatter rufen können. Sie lacht verhalten, mit Tränen im Mundwinkel, und schläft wieder ein.

Nun steht sie auf ihrem wettergeschützten Balkon und wartet auf Karen und deren Sohn. Feiner Nieselregen knistert auf den vertrockneten Kastanienblättern, die auf dem Holzrost liegen wie himmelwärts gekrümmte, gelbe Hände. Niks schließt die Balkontür, geht durch den Flur, rückt eine Blumenvase zurecht, schenkt sich ein Lächeln durch den Garderobenspiegel. Das Gästezimmer ist blitzsauber, gerade hat sie es noch einmal kontrolliert. Absurde Vorstellung, dass hier ein Einundzwanzigjähriger leben soll! Er wird laut auflachen und seiner Mutter hinter Niks’ Rücken vielsagende Blicke zuwerfen. Karen wird wütend sein, sich aber beherrschen. Sie werden zusammen Kaffee trinken und den Kuchen essen, den Niks vorhin vom Bäcker geholt hat. Danach werden sie sich für immer voneinander verabschieden.

Es klingelt. Niks geht zur Tür, drückt auf den Summer und hört Stimmen. Die von Karen klingt ernst und bestimmt. Der Junge hat den weichen Ton junger Studenten, deren lässige Wortwahl von einer überkorrekten Aussprache konterkariert wird. Zwei Hände rutschen auf dem Treppengeländer hintereinander her nach oben. Niks sieht einen roten Ärmelaufschlag, Karens Hand. Die Finger des Jungen werden von einem schwarzen Bündchen fast verdeckt.

Dann steht Karen vor ihr. Ihr dunkles Haar zeigt graue Strähnen, um den Bauch ist sie etwas voller geworden, doch die gespannte Haltung ihrer schmalen Arme und Beine verrät die einstige Tänzerin.

Karen lächelt. Hallo Niks. Das ist mein Sohn Hektor.

Niks weiß nicht, ob sie erst Karen oder den Sohn umarmen soll. Herzlich willkommen, tretet ein. Sie drückt Karen ein ungeschicktes Küsschen auf die Backe. Über Karens Schulter hinweg sieht sie dem Jungen ins Gesicht. Hektor, Sohn des Priamos. Der Trojaner. Ist das nicht eigentlich eine Kondom-Marke? Er hat strubbelige, hellblonde Haare, ungewöhnlich dunkle Augen und lächelt verlegen.

Hallo, Hektor, sagt Niks. Wie schön, Sie zu sehen.

Es folgt ein längeres Trara um die Aufbewahrung von Karens rotem Mantel. Der Nieselregen hat Mutter und Sohn völlig überrascht, und Karen befürchtet, das Mantelfutter könne einlaufen, wenn man es nicht sofort ins Warme bringt. Niks holt einen breiten Kaufhausbügel, um den Mantel im Bad aufzuhängen.

Ist es auch warm genug da drin, ruft Karen. Ich weiß doch, wie spartanisch du lebst. Aber wenn Hektor jetzt hier ist, wirst du hoffentlich nicht an der Heizung sparen.

Kopfschüttelnd hängt Niks den Mantel über den Bügel. Dem Jungen ist das alles deutlich peinlich. Er zerrt am Bündchenärmel seines feuchten Parkas.

Sie können ihn dort an die Garderobe tun. Niks zeigt auf einen Haken.

Die beiden sind mit leeren Händen gekommen; Hektors Gepäck liegt vermutlich noch im Auto.

Aufmerksam sieht sich Karen in der Wohnung um. Du hast ja ein modernes Wohnzimmersofa. Schön, wenn keine Kinder da sind. Die würden so einen weißen Bezug ganz schnell dreckig machen.

Ich bin mir sicher, Hektor macht keine Bezüge mehr dreckig, sagt Niks.

Karen wirft ihr einen todernsten Blick zu, während der Junge einen verklemmten Gluckser ausstößt und sich die schwarze Kapuze über den Kopf zieht. Ha ha, sagt Karen. Dein Humor war früher mal besser.

Niks möchte Karen missverstehen und nickt. Du hast recht. Früher war so vieles besser. Erinnerst du dich noch an unsere schönen Spaziergänge am See und im Mainauwald? Wie still es damals noch war. Heute haben sie überall diese Laubbläser.

Aus dem Gluckser des Jungen ist ein unwilliges Schnaufen geworden. Früher, früher, murrt er unter seiner Kapuze hervor, dann attackiert er seine Mutter: Wenn man euch zuhört, glaubt man, früher war das reinste Paradies. Die Sätze kommen stoßweise wie angestrengter Atem.

Karen legt ihm entschuldigend den Arm um die Schulter. Hek ist manchmal sehr emotional, das hat er von mir. Auf dem Land musste ich ihn jedes Wochenende besuchen. Und jetzt steht er davor, das Nest endgültig zu verlassen. Das ist schwer für uns beide, nicht wahr, Hekie?

Mit zuckenden Achseln duckt sich der junge Mann unter ihrer Umarmung weg. Karen bleibt allein stehen und fragt: Und? Was meinst du?

Niks sieht zu dem Jungen. Das müsst ihr entscheiden.

Er lächelt sie zum ersten Mal an. Er hat verstanden. Doch Karen lässt sich das Gespräch nicht entgleiten. Ich muss gar nichts entscheiden. Ich war von Anfang an dafür.

Niks legt sich einen Finger über die Lippen und sieht Hektor an.

Der Junge schiebt sich die Kapuze in den Nacken. Mal sehen, sagt er.

Hek, mahnt Karen. Weißt du eigentlich, wie viel die Zimmer in Konstanz kosten? Mit deinem Volontärssalär wirst du da nicht weit kommen.

Der junge Mann erstarrt, ihm stehen verstohlene Tränen in den Augen.

Niks hält es für das Beste, Karen nachzugeben. Nach drei, vier Wochen wird sie Hektor ein günstiges Zimmer zur Zwischenmiete suchen und ihm die langersehnte Freiheit schenken.

Sie sind hier jederzeit willkommen, Hektor. In der Hoffnung, dass er sie auch zum zweiten Mal versteht, zwinkert Niks ihm verstohlen zu.

Ich hätte Lust auf eine Tasse Kaffee, sagt Karen. Wir haben selbstgebackenen Kuchen mitgebracht.

Hektor sitzt im Gästezimmer auf dem Ausziehsofa und studiert den grauen Novemberhimmel. Da gibt es überhaupt nichts zu sehen, nur gelbe Linden und Hausfassaden in Gelb und Dunkelrot mit hellgrauen Einfassungen. Seine Mutter ist vor einer halben Stunde abgefahren, mitsamt ihren Vorschlägen und Anweisungen. Sie hat die beiden gedrängt, einander zu duzen und sie dann sich selbst überlassen. Auf welche Weise aber soll man einen einundzwanzigjährigen Jungen ansprechen, der sein ganzes Leben abwechselnd verhätschelt und herumkommandiert worden ist? Niks beschließt, den träumenden Hektor mit dem neugewählten Du und einer Schockfrage aus seiner Starre zu reißen.

Wie viele Mädels pro Nacht willst du denn mitbringen?

Er wendet sich langsamer um, als sie erwartet hat. In seinem lethargischen Blick glaubt sie, sich selbst zu erkennen: eine nutzlose, einsame, alte Frau, voller Neid auf die vielfältigen Vergnügungen der Jugend. Hektors Antwort ist leise und zögernd. Er hebt die Schultern. Seine braunen Augen liegen dunkel in seinem dämmerigen Gesicht. Niks schaltet die Lampe ein. Er blinzelt in das unangenehm grünliche Zwielicht der warm werdenden Energiesparbirne.

Sie wollen … du willst mich nicht hier haben, stellt Hektor fest. Das Licht überzeichnet seine blonden Haare so grell, als gehörten sie nicht zu ihm. Seine Schultern sind breit wie die eines Surfers oder Landarbeiters, sein dunkler Pullover ist großmaschig und zu einem dünnen Netz auseinandergezerrt; darunter entdeckt Niks ein helles T-Shirt, das lange Ärmel haben muss, sonst wäre ihm doch viel zu kalt. Nichts an ihm erinnert sie mehr an Karen; die unausgefüllte Stille ist der einzige Beweis, dass Karen eben noch hier war.

Hektor wendet den Blick wieder zum Fenster. Er wirkt viel gelassener, wenn Karen nicht dabei ist. Als wäre es ihm piepegal, was Niks von ihm hält. Niks kennt die jungen Leute, die sich Zeit lassen beim Reden. Aus deren Pausen keine Furcht spricht. Die sich phlegmatisch immer wieder korrigieren, bis sie ihren Gedanken korrekt formuliert haben. Unbeirrt gehen sie davon aus, dass man ihnen bis zum Ende zuhört.

Ich werd bestimmt bald etwas anderes finden. Hektor fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Er stützt die Ellenbogen auf die Knie, sein Kinn in die Hände und starrt auf die dämmrigen Lindenwipfel, die im Lampenschein zu dunklen, spitz zulaufenden Silhouetten geworden sind..

Du kannst hier bleiben, solange du möchtest, sagt Niks.

Vielen Dank. Hektor richtet sich auf. Es ist nur …

Bitte?

Hektor lächelt. Ich muss morgen früh aufstehen. Kann ich zuerst ins Bad?

Ulla ist in Tränen aufgelöst. Ihre Stirn lehnt an Niks Schulter, sie heult wie eine Katze im Sack. Niks atmet mit Ullas Schluchzern mit, tätschelt Ullas Schulter. Ihr Pulli ist vorne schon ganz durchweicht, und sie versteht nicht, was Ulla ihr sagen will. Ulla atmet Schleim und Pulloverstoff ein, ihre Äußerungen sind dumpf und unerfreulich.

Alte Leute sollten sich nicht so gehen lassen, findet Niks, das ist im wahrsten Sinne des Wortes überflüssig.

Was los sei, fragt sie.

Ulla legt den Kopf zurück und zeigt rotgeränderte, wässrige Augen. Mein Sohn. Er wird heiraten.

Ullas Sohn geht auf die Vierzig zu, ganz in Grau und zuverlässig. Sein Haaransatz hat sich bereits vor Jahren Richtung Tal verschoben. Niks hat es nicht für möglich gehalten, dass er jemals heiratet. Dabei ist er nett. Er sammelt alte Feuerwehrhüte und zur fünften Jahreszeit probiert er sie aus.

Die Schlampe kennt ihn noch nicht mal ein halbes Jahr, und jetzt ist sie schwanger von ihm, schluchzt Ulla.

Niks zupft an den feuchten Stellen ihres Pullovers. Das müsste dir doch bekannt vorkommen. Außerdem wünschst du dir einen Enkel.

Ulla schüttelt den Kopf. Meine Töchter sind beide Mitte dreißig und wissen genau, in welcher Welt sie leben. Da kann ich mich auf sie verlassen. Susi hat ihren Produktdesigner, und Gabi arbeitet bei der Deutschen Bank. Sie haben genügend Geld, Erfahrung und tickende biologische Uhren. Was passiert also?

Niks hebt beide Hände und mimt trockene Ratlosigkeit.

Gar nichts passiert, fährt Ulla fort. Die beiden sind völlig ausgereift. Ich hab keine Ahnung, worauf sie warten. Stattdessen ausgerechnet Peter.

Womöglich ist es seine letzte Chance, erwachsen zu werden.

Das sagst ausgerechnet du, kreischt Ulla.

Niks fürchtet, Ulla könnte sie wie früher an den Haaren ziehen. Was hast denn du der Welt gegeben? Kein Kind, keine Familie, keine Wärme, nichts, das bleibt und weitergeht. Und da erlaubst du dir, über meinen Sohn zu urteilen!

Niks schenkt Kräutertee nach, gönnt sich ein Plunderteilchen mit Sahnekringel obendrauf. Der Sohn von Karen wird für eine Weile bei mir wohnen. Sie hofft, Ulla mit diesen Worten aus ihrer ichbezogenen Trübsal herauszureißen, doch Ulla hört nicht. Niks mustert Ullas Säulenkörper, das verschwindende Kinn, die wässrigen Beine, die sie unter weinroten Samthosen versteckt hält. Die frühere Ulla hatte fliegende, seidige Haare; sie ging mit drahtiger Anmut ihres Weges, und die dunklen Ringe unter ihren Augen schienen gewollt, als Spiegelung ihrer immerschwarzen Klamotten, die ihren Blick noch intensiver machte. Es ist anstrengend, einen Menschen lange zu kennen. Die Erinnerung verwandelt Ullas Anblick in ein Kippbild der Vergänglichkeit.

 

Was ist dein Problem?

Mein Problem? Ulla streicht sich sichtbar angewidert über ihre künstlichen, grauen Locken. Mein Sohn ist viel zu gutmütig. Das hat er von mir. Und jetzt kommt diese … diese …

Frau, sagt Niks.

Meinetwegen. Ich hatte ein anderes Schimpfwort im Sinn. Auf jeden Fall ist sie nicht in der Lage, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie hält sich für eine Künstlerin, dabei ist sie bloß faul. Und Peter soll es ihr richten, damit sie nie wieder arbeiten muss.

Dafür bekommt sie sein Kind. Das ist der Deal.

Was heißt schon Deal! Du hast so eine mechanistische Ansicht von der Liebe. Hier geht es um Schöpfung. Ulla hustet und putzt sich lautstark die Nase. Niks muss schmunzeln. Auf ihre alten Tage ist Ulla ungemütlich fromm geworden. Nicht schlecht für eine Frau, die über den Tod von Andreas Baader einst bittere Tränen vergoss, weil sie keinen Himmel für ihn wusste.

Das Kind wird dich sicher mögen, beruhigt Niks.

In vielen Filmen und Theaterstücken gehört Bewegung zum Charakter. Menschen rennen oder klettern in unpassender Kluft. Entführte Jungfrauen krabbeln im zerrissenen Hochzeitskleid Mauern hoch. Anwälte, von Gangstern verfolgt, springen im Smoking von einem Hausdach zum nächsten. Romantiker tragen Blumensträuße, lassen sich vom Regen durchnässen und laufen dem nächstbesten Taxi nach, um die verpasste Liebe doch noch einzuholen. Der Blick des Zuschauers landet auf muskulösen Waden unter flatterndem Rocksaum, auf der anmutigen Kurve, die ein Körper beschreibt, wenn er fast aus der Bahn fliegt, auf schlenkernden Armen und wippenden Haaren: winzige Ausschnitte, wie von Blitzlicht gemalt, kürzer und eindringlicher als die träge Wirklichkeit. In Ullas Gesicht schienen die Gefühle einst ineinanderzufließen, beim Reden lief ihre lebhafte Gestik den Betonungen ihrer Stimme entgegen, was einen erst recht dazu brachte, ihr zuzuhören. Ihr Gang war orthopädisch korrekt, er machte sie schnell. Niks erinnert sich, wie sie vor Ulla davonlief. Sie hatte versprochen, nach der Vorlesung am Haupteingang der Universität auf sie zu warten. Doch als sie Ulla männerumringt auf sich zukommen sah, in ihrer Alltagstracht aus reichem Haar und schwarzen, zipfeligen Klamotten, mit ihrer Ledertasche unter dem Arm und dem freien Lachen, das sich hell über die anderen Stimmen erhob, hielt es Niks nicht länger aus. Sie wandte sich ab, stieß so heftig gegen die Drehtür, dass sie davon auf die Straße katapultiert wurde, stürzte beinah, fand ihr Gleichgewicht wieder und rannte in Richtung Parkplatz, bis ihr die Kehle brannte. Doch Ulla hatte keine Mühe, sie einzuholen. An der Schranke packte sie Niks am Kragen und brachte sie unsanft zum Stehen. Sie flocht ihre Finger durch Niks’ Haare und zerrte sie zurück.

Was soll das? Willst du mich hier vor allen Leuten lächerlich machen?

Niks gab keine Antwort. Der Schmerz auf ihrer Kopfhaut erinnerte sie an Ohrfeigen und ausgerissene Strähnen und trieb ihr demütigendes Wasser in die Augen.

Ich hab drei Verabredungen abgesagt, nur damit ich mit dir einen Kaffee trinken kann, und jetzt rennst du vor mir davon. Bist du verrückt?

Niks hob die Hand und versuchte, Ullas Finger aus ihren Haaren zu lösen. Sie sah Wasser auf Ullas Jacke tropfen. Einen Moment stand es glänzend auf dem schwarzen Stoff, dann sickerte es weg. Ich muss heim, sagte Niks. Es geht mir nicht gut.

Sofort nahm Ulla ihre Finger zurück. Ihr Zorn schlug in neugierige Besorgnis um. Was ist los? Bist du krank? Niks schüttelte den Kopf und schämte sich. Ihre Mutter hatte ihr früher verboten, Blessuren oder Unwohlsein vorzutäuschen. Nein, mir fehlt nichts. Ich möchte nur allein sein.

Nichts hinderte Niks am Gehen. Ihre Haare waren längst wieder frei.

Ulla zuckte mit den Achseln. Wie du willst.

Im Schutz des Kollektivs durfte man neugierig aufeinander sein, der Einzelne war austauschbar. Wie leicht würde Ulla eine neue Freundin finden. Sie wandte sich zum Gehen, überzeugt, Niks würde ihr folgen. Sie machte große, lässige Schritte. Niks erwartete, hinter ihr immer kleiner zu werden. Ullas Haare wehten, ihre Rockfransen schmiegten sich an ihre schwarzen Beine und rissen sich wieder los. Ein verlängerter Schritt brachte sie auf die Straße. Da kam auch schon der Bus, der zur Haltestelle abbremste; er traf Ulla von der Seite. Sie wurde zu Boden geschleudert und blieb auf dem Gesicht liegen.

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