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Der verbindende Bezugspunkt der doppelten Perspektive Heideggers ist die Faktizität des Todes, die der individuellen Existenz des Menschen unabweisbar aufgegeben ist. Diese Unausweichlichkeit wirft den Einzelnen auf seine eigene Endlichkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit zurück, so dass der Tod selbst den eigentlichen Zeithorizont allen menschlichen Daseins darstellt. Weil über die Temporalität menschlicher Existenz innerhalb der Grenzen von Geburt und Tod hinaus rational verantwortet nichts weiter gesagt werden kann, ist für Heidegger die Berechtigung der Frage nach der Möglichkeit postmortaler Existenz von vorneherein ausgeschlossen84. Demnach erfährt sich der Mensch als permanent herausgefordert, seine jeweilige Gegenwart auf das Faktum seiner Endlichkeit und damit auf seinen Tod selbst zu beziehen. Dies mag er negativ in den Formen von Leugnung und Flucht tun, kann aber auch positiv seine jeweilige Gegenwart so auf die Möglichkeit des eigenen Todes ausrichten, dass ihm durch diesen bewusst wird, ausschließlich gegenwärtig die einmalige, nicht wiederkehrende und je einzige Möglichkeit zu haben, sein Leben entschlossen als Ganzes zu ergreifen. Menschliches Dasein ist angesichts beider Möglichkeiten immer ein Vorlaufen in den Tod und bezieht seine temporale Dynamik deshalb aus dieser ihm unausweichlichen Zukunft85. Der unmittelbare Bezug dieser individuell bevorstehenden und zugleich uneinholbaren Zukunft zur jeweiligen Gegenwart des Einzelnen macht deutlich, dass Heidegger Zukunft nicht auf ihre rein chronologische Ausständigkeit hin abstrahiert, sondern als konstitutives Element einer auf das individuelle Dasein fokussierten existentiellen Gegenwartserfahrung bestimmt: Zukunft ist nicht die quantitativ noch ausstehende Dimension des Chronos, sondern die die Existenz des Einzelnen begrenzende Zeitekstase. Insofern das Dasein des Einzelnen Sein-zum-Tode ist, erweist sich die Gegenwart selbst als Dynamik der Zeit aus dieser ekstatischen Zukunft.

(2) H. Rombach: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Gegenwart

Der Denkansatz Heinrich Rombachs stellt den Versuch dar, die Komplexität der Wirklichkeit unter dem einen Begriff der »Struktur« zu interpretieren86. Auch wenn sich in Rombachs strukturontologischem Denken keine systematische Entfaltung eines spezifischen Zeitverständnisses findet, so verweisen seine vielfach eingeflochtenen Zeitanalysen auf die zentrale Stellung, die der Zeitthematik innerhalb des Strukturdenkens zukommt. Die Originalität dieses Ansatzes, der um die Vermittlung einer plural verstandenen Wirklichkeit aus unterschiedlichsten Perspektiven bemüht ist, und die damit zusammenhängende temporale Dimension dieser in Strukturen gedachten Wirklichkeit betrachten wir als einen wichtigen Beitrag zu einem perichoretischen Verständnis von Zeit.

Als Schüler Heideggers ist Rombachs Schaffen zugleich eine permanente Auseinandersetzung mit dem phänomenologischen und vor allem fundamentalontologischen Ansatz seines philosophischen Lehrers, von dessen Grenzen und offenen Fragen aus er in der ihm eigenen Weise weiterdenkt. Während Heidegger in den fundamentalontologischen Analysen von »Sein und Zeit« die Welt als das Ganze der Seinswirklichkeit allein von der Daseinsverfassung des Menschen und dessen Zeitlichkeit her erschließt, geht Rombach den umgekehrten Weg von der Welt zum Menschen hin87. Dabei muss sein Weltbegriff als das verstanden werden, was die Mitte seines Denkens kennzeichnet: als Struktur.

Rombachs Ansatz gliedert sich in drei Konzeptionen, die, wie er selbst betont, miteinander verbunden und trotzdem als je eigenständige Entwürfe zu betrachten sind88: die streng philosophische Ausarbeitung der Strukturontologie als Weiterführung der von Husserl und Heidegger geprägten Phänomenologie, die Hermetik und die Bildphilosophie. Während Rombach erstere auf grundlegende phänomenologische Fragestellungen hin anwendet und dabei auch soziologische, pädagogische, psychologische, kunsthistorische und theologische Themen integriert, verlässt er mit der Hermetik und der Bildphilosophie den Bereich der streng methodischen Philosophie, um fachübergreifend-assoziativ und in Bezugnahme auf Denkformen anderer Kulturkreise die Tiefendimension aller Wirklichkeit zu erschließen. Insbesondere mit der Hermetik radikalisiert er sein Denken einer struktural verfassten Wirklichkeit, deren pluraler Wirklichkeitsreichtum hermeneutisch nicht mehr erschließbar ist. Diese Entwicklung seines Denkens wie auch der elitäre Anspruch (worin er Heidegger nicht unähnlich ist), die Strukturontologie als die alle bisherigen Philosophien und Weltbilder überbietende Deutung der Gesamtwirklichkeit zur Geltung zu bringen, haben trotz des hohen Reflexionsniveaus und der offenen Weite seines Denkens eine umfassende Rezeption seines originären Ansatzes weitestgehend ausbleiben lassen89.

Unser Interesse gilt primär Rombachs strukturontologischen Zeitbestimmungen, die trotz der Distanzierung von Heidegger insbesondere dessen seinsgeschichtlichem Denken nahe stehen. Das von Rombach perichoretisch gedachte Ineinander komplexer Zeitstrukturen wird sich dabei als Schlüssel zu einem Zeitverständnis erweisen, dessen ursprüngliche Mitte das Phänomen der Gegenwart selbst ist. In der jeweiligen Gestalt einer Situation ist Gegenwart immer die Erfahrung allumfassender Wirklichkeit in je konkreter Gestalt: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus ihrer jeweiligen Gegenwartsgestalt heraus.

(3) P. Ricœur: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Vergangenheit

Mit P. Ricœur kommt ein Denker zu Wort, der in kritischem Anschluss an M. Heidegger und unausdrücklicher Parallele zu H. Rombach ein eigenständiges dynamisches Zeitkonzept entwickelt. Begründet Heidegger die Dynamik der Zeit in der Bezogenheit des menschlichen Daseins auf die Zukunft im sorgenden Sich-vorweg als Sein-zum-Tode und leitet Rombach dieselbe Dynamik aus der je konkreten Gestalt der allumfassenden Gegenwart ab, spricht Ricœur in besonderem Maße der Vergangenheit die Funktion zu, die Zeit zu verlebendigen. Gegenüber einer Sichtweise von Vergangenheit, die auf deren Abgeschlossenheit und damit Unveränderlichkeit fixiert ist, macht Ricœur auf den inneren Zusammenhang von Zeit und Erzählung aufmerksam, den er detailreich und aus vielen teils gegensätzlichen Perspektiven heraus in seiner dreibändigen Untersuchung »Zeit und Erzählung«90 beleuchtet. Dieser gilt im Folgenden – nicht ohne Seitenblick auf seine späteren, biblisch-hermeneutisch und ethisch-theologisch motivierten Schriften91 – das Hauptinteresse unserer Analysen, weil Ricœur darin seine zentrale These entfaltet, nach der das komplex-paradoxe Phänomen der Zeit erst dann zur wahrhaft menschlichen Zeit wird, wenn das in ihr Geschehene angesichts seines Vergangenseins erzählt wird. Mit jeder Erzählung wird die Vergangenheit nicht ohne Wirkung für die Gegenwart und Zukunft verlebendigt. Die Bewegung der Zeit ist an die Semantik narrativer Strukturen gekoppelt und erhält damit ihren wesentlichen Antrieb »von hinten« her – indem sie als Vergangene immer wieder neu erzählt werden muss. Gegenüber einer sich grundsätzlich in Aporien verwickelnden rationalen Erschließung der Zeit gibt Ricœur der narrativen Vergegenwärtigung vergangener Situationen den Vorrang und schlägt deshalb vor, »die Erzählung als den Hüter der Zeit anzusehen, sofern es ohne die erzählte keine gedachte Zeit gäbe.«92

(4) M. Cacciari: Gegenwart als Dynamik der Zeit ohne Chronos

Den Abschluss der philosophischen Durchführungen werden jeweils die Überlegungen des im deutschsprachigen Raum bisher kaum rezipierten italienischen Philosophen und Politikers Massimo Cacciari93 bilden, der die Kritik Heideggers, Rombachs und Ricœurs am chronologisch vereinseitigten Zeitverständnis radikalisiert, indem er den auf den leeren Chronos fixierten gegenwärtigen Zeitumgang als »Chronolatrie«94 bezeichnet und einen gänzlichen Abschied vom Chronos zugunsten alternativer Zeitkonzeptionen fordert:

»Die ‘normale’ Ordnung unseres Systems, isoliert betrachtet, kann nicht den Anspruch erheben, universelles Gesetz zu sein; sie repräsentiert nur eine der möglichen Ordnungen. Andere sind vorstellbar. Die mens tuens ist durchaus in der Lage, irreversible Ordnungen zu imaginieren, die nicht entropisch, ektropische Ordnungen, die nicht mechanisch sind, ‘Umkehrungen’ – im Krebsgang, um musikalisch zu reden – der Zeitrichtung, instante Zeiten, Schichtungen der Zeit, die sich simultan ergeben.«95

In der 1990 erschienenen umfassenden Studie »Dell’Inizio«96 legt Cacciari eine mythologische Deutung der Gesamtwirklichkeit vor, in der er den Chronos durch den Kairos ersetzt und dabei das Christentum als anspruchsvollste Entfaltung mythologischer Wirklichkeitsdeutung vorstellt. Dabei zieht er das theologisch-trinitarische Drama von Tod und Auferstehung des Gottessohnes zur Interpretation der Zeitganzheit als äonischen Augenblick heran, durch den sich das offen-oszillierende Wesen aller Wirklichkeit offenbart: Gegenwart als unentschieden bleibende »Einzweiheit« (»unoduità«) von absolutem Sein und radikalem Nichtsein. Damit spitzt Cacciari die vorangegangenen Ansätze im Hinblick auf ein perichoretisches Zeitverständnis insofern zu, als er die temporale Dynamik der Gegenwart nicht mehr von einer ihrer zeitlichen Ekstasen her, sondern aus ihrem Geheimnis selbst bestimmt. Deshalb fragt er nicht mehr nur noch auf dieses Geheimnis zu, um mit ihm die denkerisch mögliche Grenze zu erreichen, sondern fragt von ihm her, so dass sich hier eine erste theo-logische Perspektive andeutet. Diese kann freilich nur vorsichtig eingenommen werden, weil sie in ihrem mythologischen Grundansatz keine wirkliche Perspektive eines entschiedenen Glaubens darstellt und darin mitnichten theologisch ist, sondern den Anspruch vertritt, mit dem Christentum eine Matrix zur Wirklichkeitsdeutung verfügbar zu haben, die dem Geheimnis der unentschiedenen Wirklichkeit am ehesten entspricht. Der spezifische Vorzug einer solchen Perspektive zeigt sich jedoch in dem bewussten Fehlen einer gewöhnlich einem entschiedenen Glauben entspringenden heilsgeschichtlichen Eindeutigkeit zugunsten einer antitriumphalistisch-uneindeutig gedeuteten Wirklichkeit, die ein Zeitverständnis voraussetzt, nach dem

 

»[d]ie Zeit […] nicht mehr als Übergang von Nyn zu Nyn, von Momentum zu Momentum [erscheint], sondern als Komplex von Ausschnitten (tempus von temnein, schneiden), von nicht reduzierbaren Singularitäten. Jetzt beginnt eine Gegenwartsebene von Ereignissen zu fehlen, die darin vereint sind, eine einzige Vergangenheit und eine einzige Zukunft zu haben. In ihrem Komplex (vielmehr in jenem Komplex, den wir von Mal zu Mal ausschneiden können) sind Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft gleichzeitig und fortwährend im Spiel.«97

Das Interesse an Cacciaris Überlegungen, die nach »Dell’Inizio« 2004 in seiner zweiten großen Schrift »Della cosa ultima«98 ihr »eschatologisches« Pendant fanden, gilt deshalb der perichoretischen Ineinssetzung der chronologischen Zeitdimensionen zu einer äonisch-einzigartigen Gegenwart, die als zwischen den Möglichkeiten von Sein und Nichtsein oszillierende Wirklichkeit sichtbar wird. Darüber hinaus kann den sich anschließenden theologischen Erwägungen zu einem perichoretischen Zeitverständnis aus der Perspektive des Geheimnisses selbst diese antisystematische Wirklichkeitsdeutung vorsichtige Maßgabe und heilende Korrektur sein.

3. Das theologische Interesse am Pleroma: Gegenwart als pleromatische Gestalt der Ewigkeit

a) Das Missverhältnis von Chronos, Kairos und Pleroma

Das theologische Interesse an der Zeit ist von der Tatsache bestimmt, dass das Phänomen Zeit selbst unergründliches Geheimnis aller Wirklichkeit ist. Ein theologisches Verständnis von Zeit hat somit das in der Gegenwart gründende perichoretische Ineinander der einzelnen zeitlichen Dimensionen immer wieder zur Geltung zu bringen, um einseitige Perspektiven zu vermeiden und dabei zu helfen, dass die der Zeiterfahrung eigene ambivalente Spannung zwischen deren Geläufigkeit und Entzogenheit ausgetragen werden kann. Denn wenn die Vollendung der Zeit nur chronologisch gedacht wird, resultiert daraus ein Zeitverständnis, das die aus dem Endlosen in das Endlose entschwindende Zeit auf eine »schlechte Unendlichkeit«99 reduziert. Diese wird irreführend als Ewigkeit bezeichnet, übersteigt im Grunde jedoch den Horizont des Endlichen nicht100. Auf den Kairos beschränkte Zeitinterpretation verkürzt dagegen die Vollendung der Zeit auf deren gesammelte Abgeschlossenheit. Demzufolge kann zeitliche Vollendung nur als ein in sich erstarrtes »Nunc stans«101 der Universalgeschichte gedacht werden, oder als ein alle Zeiten bündelnden Augenblick, der die Ewigkeit als deren hermetisch geschlossenes Komprimat erscheinen lässt102. Und wenn das Pleroma der Zeit nicht in seinem ursprünglichen Zusammenhang mit den anderen Dimensionen gesehen wird, erscheint es als das dualistisch abgetrennte Andere der Zeit. Eine solcherart verstandene Ewigkeit kann zwar ganz und gar als Geheimnis angesehen werden, dies allerdings um den Preis ihrer uneinholbaren Zeitentrücktheit. Alle drei Antwortversuche werden vor allem der dem Menschen in der Zeit gewährten Freiheit nicht gerecht, welche vor dem Hintergrund einer quantifizierten Unendlichkeit gleich-gültig wird, im erstarrten Augenblick vom vollendeten Ende her immer schon un-gültig ist und gegenüber einer abgetrennten Ewigkeit innerhalb der Zeit jede end-gültige Relevanz verliert.

b) Das Missverhältnis von Zeit und Ewigkeit

Die metaphysische Abkoppelung von Zeit und Ewigkeit hat zur Folge, dass eine der Größen auf Kosten der anderen herabgesetzt wird. Wenn Ewigkeit als »Erlösung aus der Zeit«103 verstanden und so jenseits von Zeit und Welt in unüberbrückbare Ferne gerückt wird, dann droht menschliches Lebens zum »Zwischenspiel«104 herabgesetzt zu werden, welches schnellstmöglichst zu bewältigen ist. Indem die Theologie zugunsten des platonistisch-dualistischen Modells die sie konstituierende Zeitlichkeit immer mehr verdrängt hat, hat sie sich selbst nicht nur nach und nach aus dem Diskurs der Moderne herausgenommen, sondern auch zentrale Theologumena ihres spezifischen Zeitindexes beraubt, so die Auferweckung der Toten, die Verheißung des Gottesreiches, das ewige Leben, das Verhältnis von Altem und Neuem Äon, die (liturgische) Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, die Theodizeefrage oder das Schöpfungsgeschehen105. Ewigkeit ist unter dieser Hinsicht entweder eine abstrakt und leer bleibende Größe, in der Freiheit und Zeit bedeutungslos sind, oder ein vorgegebenes und dementsprechend anzunehmendes Glaubensgut, dem sich rationales Verstehen bedingungslos zu unterwerfen hat.

Als antizipiertes und bereits vollendetes Ende wird die Ewigkeit zum alleinigen Maßstab menschlichen Handelns in der Zeit und steht damit grundsätzlich in der Gefahr, verabsolutiert zu werden. Wo jegliches Geschehen aber von Ewigkeit her bereits feststeht, kann es nichts wirklich Neues mehr geben. Zur Totalisierung neigende Ewigkeitsmetaphysik tilgt die Kategorie der Neuheit, indem Gottes Ewigkeit im Abwenden des Neuen zum Bewahren des Alten herangezogen wird106. Das wahrhaft Neue (Novissimum) kann demzufolge erst von einem Übergang der endenden Weltzeit in die bis dahin vorenthaltene Ewigkeit erwartet werden. Eine der daraus erwachsenden Versuchungen ist die Verweigerung gegenüber dem herausfordernden Ruf der Gegenwart und die Bewältigung dieser mit dem ausschließlichen Rückbezug auf das »von Ewigkeit her gültige« Alte. Eine weitere Versuchung besteht in der Apokalyptisierung der Gegenwart, deren Charakteristikum es ist, die Zeichen der Zeit auf das unmittelbar bevorstehende Ende hin zu instrumentalisieren, um mit deren Diffamierung, Dämonisierung oder Infernalisierung eine der jeweiligen Glaubensüberzeugung oder Ideologie adäquate Verhaltensänderung herbeizuführen107.

Vor diesem Hintergrund eines triumphalistischen Ewigkeitsverständnisses verliert die christliche Botschaft von endgültigem Heil und Erlösung an Plausibilität, weil das in außerzeitliche Ferne gerückte Jenseits gegenüber einem wohlstandsorientierten Leben zunehmend unattraktiv und im Verständnishorizont eines positivistisch orientierten Weltbildes irrational erscheint. Wie schon im Blick auf die heutige Vergegenwärtigungstendenz zu sehen war, müssen die Bedürfnisse einer »erfahrungsungeduldigen Erlebnisgesellschaft«108 möglichst zeitnah und konsumierbar erfüllt werden, so dass größere Zukunftsentwürfe aus dem Erwartungshorizont herausrücken. Ewigkeit wird so zu einer Funktion der Zeit, durch die das Leben der Verstorbenen allenfalls in dem an sie erinnernden Erbe beziehungsweise im »photo- und videogestützten Gedächtnis der Hinterbliebenen«109 weitergeht oder die eine wie auch immer verstandene Reinkarnation ermöglicht, aus der sich neue – diesseitige – Lebenschancen ergeben110.

Hierin zeigt sich die andere mögliche Folge dualistischer Ewigkeitsmetaphysik, die die Ewigkeit gegenüber der Zeit entwertet. Ewigkeit soll inmitten der Zeit als deren Steigerung beziehungsweise Intensivierung erfahrbar gemacht werden. Insbesondere der an sich unverfügbare Augenblick scheint dazu geeignet, Katalysator solcher Erfahrungen zu sein. Zweifelsohne kann in einem mystischen, ekstatischen oder fordernden Augenblick die Entgrenzung der Zeit erfahren werden, freilich unter der Bedingung seines kairologisch unverfügbaren Ergehens, das dementsprechend angenommen und ebenso wieder losgelassen werden muss. Unter der Maßgabe des perichoretischen Zeitbegriffs begegnet in einem solchen Augenblick allerdings nicht eine dualistisch abgetrennte und als überzeitliche Größe stilisierte Ewigkeit. Vielmehr wird die Gegenwart des einzigartigen Augenblicks auf das Ganze des Pleroma hin geöffnet und erweist so seinen Bestand in ihm: das Ganze der allumfassenden Gegenwart im Fragment der je konkreten Gegenwart.

Alle geistigen, religiösen und künstlerischen Kompensationsversuche, die metaphysisch verloren gegangene Ewigkeit in einen künstlich erzeugten Augenblick zu bannen, müssen bei aller Größe der Entwürfe und Schöpfungen notwendig hinter jenen nicht herbeiführbaren Augenblicken zurückbleiben, die im weitesten Sinn als mystische Erfahrungen eine das Dasein verändernde Wirklichkeit setzen111. Mit einer auf die reine Augenblickserfahrung reduzierte Ewigkeit hat der Mensch jedoch nicht mehr als ein »gepresste[s] Stück Zeit in der Hand«112.

c) Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit als perichoretisches Ineinander von Gegenwart und Pleroma

Aus den angedeuteten temporalen Missverhältnissen erwächst die Frage nach der Ewigkeit in ihrem rechten Verhältnis zur Zeit. Wo diese Frage angesichts von Vergänglichkeit und eigener Sterblichkeit ernsthaft gestellt und nicht einfach als irrational oder fideistisch abgewiesen wird, zeigt sich die offensichtliche Unzulänglichkeit eines Zeitverständnisses, das sich ausschließlich auf den quantitativen Verlauf von Zeit beschränkt und allenfalls ihr unverfügbares Ergehen anzunehmen gewillt ist. Ebenso wenig ist ein triumphalistisches Ewigkeitsverständnis glaubwürdig und verantwortbar, für das die Zeitlichkeit zu einer lediglich vorübergehenden Episode degradiert wird.

Dem Verlust der Ewigkeit und der Ent- oder Überbewertung der Zeit – ob im hypostasierten Augenblick, aufgrund einer dualistischen Ewigkeitsmetaphysik oder eines diesseitigen Zeitpositivismus – kann nur mit einer korrelativen Integration der einzelnen zeitlichen Dimensionen in einen einheitlichen Begriff entgegengewirkt werden. Die Deutung der Zeit als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma muss freilich trennende Schematisierungen vermeiden, so sehr auch die Sprache an die Grenze ihrer Möglichkeiten kommt, die Einheit der Zeit im reziproken Unterschiedensein ihrer Dimensionen hinreichend auszudrücken. Denn alle Vereinseitigungen im Zeitverständnis können, wie zu sehen war, für den praktischen Zeitumgang in die zum Teil folgenschweren Aporien chronologischer Verunendlichung, kairologischer Verkürzung oder unüberbrückbarer Abspaltung führen.

Stattdessen müssen in jeder Benennung einer der drei Dimensionen die anderen perichoretisch immer schon so mitgedacht sein, dass ihre wechselseitige Verwiesenheit in den Übergängen jeweils einer auf die anderen beiden Dimensionen hin zum Ausdruck kommt. Dadurch sind verschiedene Perspektiven auf das eine komplexe Phänomen Zeit möglich, ohne dass das Ganze dabei aus dem Blick gerät. Denn Chronos ist als Bewegung der Zeit bezüglich des Kairos dessen vergänglich-offener Zeit-Raum und bezüglich des Pleroma dessen sammelnd-vollendete Fülle. Kairos ist als Beweger der Zeit in Bezug auf das Pleroma dessen gegenwärtig-konkreter Zeit-Raum und in Bezug auf den Chronos dessen unableitbar-einmalige Gestalt. Und das Pleroma ist als Entzogenheit der Zeit hinsichtlich des Chronos dessen unabgeschlossene Offenheit und hinsichtlich eines jeden Kairos dessen ausstehende Unvergänglichkeit. Alle drei Zeit-Weisen sind sich wechselseitig ursprünglicher Ausgang, vergänglicher Übergang und erfüllter Eingang. In ihrer perichoretischen Gleichursprünglichkeit113 gehen sie ineinander über, ohne miteinander zu verschmelzen und heben sich gegenseitig auf, ohne sich dabei zu vernichten.

 

Sowohl von der kairologischen als auch von der chronologischen Perspektive auf das Phänomen der Zeit ist sichtbar geworden, dass deren gemeinsame Mitte im Urphänomen der Gegenwart zu finden ist. Insofern Ewigkeit als Pleroma die Gestalt der allumfassenden Gegenwart ist, ist die Frage nach dem rechten Verhältnis von Zeit und Ewigkeit allein durch den Blick auf dieses Urphänomen möglich, weil die Gegenwart selbst das geheimnisvoll-unergründliche Ineinander von allumfassendem Pleroma, ergehendem Kairos und vergehendem Chronos ist. Auch wenn damit ein erschöpfendes Zeitverständnis grundsätzlich unerreichbar bleibt, ist freilich gerade dies die Voraussetzung dafür, dass Zeit als die auf Gott hin offene Frage geltend gemacht werden kann, so dass sie selbst als theo-logische Struktur befragbar wird.

d) Die theologische Interpretation der Gegenwart aus pleromatischer Perspektive

Die alltägliche Erfahrung von Gegenwart in anthropologischer Perspektive beschränkt sich jeweils auf eine konkrete, dabei immer fragmentarisch-begrenzt bleibende Wahrnehmung der Gesamtwirklichkeit. Auch die philosophische Reflexion vermag aufgrund der rational unüberwindbaren Totalität der thanatologischen Grenze diese endliche Perspektive nicht zu übersteigen. Mit der theologischen Interpretation der Gegenwart aus pleromatischer Perspektive kehrt sich die Blickrichtung vollständig um. Gegenüber dem notwendigen Nunc fragmentierter Gegenwart durchbricht die theologische Sichtweise unter der Voraussetzung einer Glaubensentscheidung für den lebendig-schöpferischen und todesüberwindenden Gott die thanatologische Schranke allen geschöpflichen Daseins und nimmt die numinos-divinatorische Perspektive allumfassender Wirklichkeit ein: Sempernitas. Damit die Deutung der Allgegenwart als Pleroma nicht den bereits benannten Gefahren zwischen metaphysischer Verunendlichung und monadischer Erstarrung verfällt, bedarf es der vertikalen Rückkoppelung dieser Perspektive an die kairologische und die chronologische Seite der Zeit. Die für diese Untersuchung ausgewählten theologischen Konzeptionen verbindet das gemeinsame Interesse, den Dualismus von Zeit und Ewigkeit zu überwinden. Dass dies aus einer Vielzahl von Perspektiven möglich ist, zeigt die Unterschiedlichkeit der Ansätze: Schließt Karl Rahner von Mensch und Schöpfung her auf das in ihnen gegenwärtige Geheimnis als Selbstoffenbarung Gottes, betonen dagegen Karl Barth und Hans Urs von Balthasar streng den Hiatus zwischen Schöpfer und Geschöpf sowie die Unableitbarkeit der Offenbarung aus der Schöpfung selbst, um die absolute Autonomie göttlicher Gegenwart zu wahren, während Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann eine mittlere Position einnehmen, die das geheimnisvolle Ineinander von Gott und Schöpfung als dynamisch-lebendiges Gleichgewicht zu wahren versucht. Alle Ansätze ergänzen sich darin, dass sie sich um die Darstellung einer vertikalen Zeitperichorese von Chronos, Kairos und Pleroma bemühen, ohne dabei die horizontale Zeitperichorese der drei temporalen Ekstasen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vernachlässigen. Dabei entdecken sie im Kreuzungspunkt von vertikaler Zeitperichorese (Gottes Zeit als allumfassende Gegenwart) und horizontaler Zeitperichorese (Schöpfungszeit als endlich-begrenzte Gegenwart) die temporale Gestalt des Christusereignisses als unüberbietbare Konkretion des trinitarischen Geheimnisses aller Wirklichkeit.

(1) K. Rahner: Heranreifende Gegenwart

K. Rahners Ausgangspunkt bei der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit ist die Subjektivität des Menschen, der in seiner individuellen Offenheit auf das Absolute hin Akte der Freiheit (Kairos) inmitten verlaufend-determinierter Zeit (Chronos) setzen kann. Diese schaffen in ihrer unumkehrbaren Definitivität »Ewigkeit aus Zeit«114 und vergegenwärtigen somit im jeweiligen Freiheitsakt Ewigkeit. Mit seinem Tod wird der Mensch definitiv vollendet und erreicht dadurch in Überwindung der geschöpflich bedingten Begrenztheit die Fülle und Vollendung seiner Zeit (Pleroma). Darin ereignet sich ihm die »Ewigkeit als Frucht der Zeit«115. In christologischer Perspektive qualifiziert Rahner diese Dimensionen theologisch und erschließt im Christusereignis selbst deren grundlegende Einheit.

Da Rahner das Ineinander der zeitlichen Perspektiven von einem anthropologisch-existentiellen Ausgangspunkt her denkt, gelingt es ihm, die Frage nach der Ewigkeit als eine unabweisbare Grundfrage menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung freizulegen und sie vom Vorwurf der rein theologischen Spekulation zu befreien, denn er setzt voraus, dass in der Gestalt der von Gott verschiedenen Wirklichkeit »die Grammatik einer möglichen Selbstaussage Gottes«116 erkennbar wird. Demzufolge können die in die Wirklichkeit und den menschlichen Erfahrungsbereich eingeschriebenen temporalen Strukturen durchsichtig gemacht werden auf das perichoretische Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Der weit verstreut in den verschiedensten Vorträgen, Aufsätzen und – dicht zusammengefasst – in seinem »Grundkurs des Glaubens«117 sich findende metaphorisch gefasste Gedanke der »Ewigkeit als Frucht aus Zeit« kennzeichnet vor diesem Hintergrund die jeweilige Gegenwart als zeitliche Erfahrung noch ausstehender Ewigkeit, die wiederum der Ertrag dessen ist, was in der Zeit selbst herangereift ist: die Vollendung eines jeden menschlichen Freiheitsaktes. Die Perichoresität des Denkansatzes Rahners zeigt sich in dieser Metapher besonders deutlich, will sie nicht nach dem temporalen Schema Diesseits–Jenseits dualistisch missverstanden werden.

(2) K. Barth: Umfasste Gegenwart

Die verbindende Mitte der die gesamte »Kirchliche Dogmatik« Karl Barths durchziehenden – zum Teil höchst umfangreichen – Betrachtungen zum Themenfeld Zeit-Ewigkeit findet sich in der Gestalt Jesu Christi selber, dessen Zeit alle andere verlaufenden Zeiten umfasst, verlebendigt und durchdringt, so dass in seiner Person die erfüllte Zeit Gottes (Pleroma) und die leere Zeit des Menschen (Chronos) als unüberbietbar ineinander verwunden sichtbar geworden ist (Kairos). Der Sohn Gottes ist somit der »Herr der Zeit«118, weil in ihm die Fülle der Zeiten zur Vollendung kommt und durch ihn, wie Barth schreibt, Gott gezeigt hat, dass er selber für den Menschen Zeit hat. Nur unter dieser Perspektive wird eine bejahende Deutung der Eigenzeit eines jeden Menschen möglich, indem die befristet-sterbliche Endlichkeit von ihm als von Gott gewährte einmalig gegebene Gelegenheit angenommen werden kann, die es für ihn zu ergreifen gilt, und die in sich die Hoffnung auf Fülle und Vollendung trägt, weil das Jenseits eben nicht eine dem Diesseits hinzugefügte oder angehängte Realität ist, sondern dessen ewige Erfüllung. Dieser »circulum veritatis«119 ist der perichoretische Schlüssel zum Ansatz Barths, die absolute Unableitbarkeit der Offenbarung aus der Schöpfung zu betonen und so aus der Offenbarung selbst die temporale Struktur der Gegenwart als Schöpfungszeit zu bestimmen, die von der Zeit Gottes geheimnisvoll umfasst wird.

(3) H. U. v. Balthasar: Durchbrochene Gegenwart

Ähnlich wie K. Barth verankert Hans Urs von Balthasar in seiner bedeutenden theologischen Trilogie (Herrlichkeit, Theodramatik und Theologik) das untrennbare Ineinander von Zeit und Ewigkeit in Jesus Christus, dessen hypostatische Union für ihn dramatischer Ausdruck dieses Ineinanders ist. Entscheidend ist dabei der absolut theonome »Einschlagtrichter«, den die Ankunft des Gottessohnes in der Weltwirklichkeit erzeugt hat:

»Aber die Wunde, die mit dem Auftreten Christi der Weltgeschichte geschlagen worden ist, schwärt fort. Nicht umsonst hat sein Auftreffen auf ihrer Ebene ihre Zeitrechnung endgültig in zwei Stücke zerspalten: in die Zeit vor ihm und nach ihm. […] dem Menschen ist mit dem Erscheinen Christi etwas angetan worden, das fortwirkt; er wird nie mehr der Gleiche sein können, der er vor Christus war.«120

Dieser unverfügbare vertikale Einbruch göttlicher in irdische Wirklichkeit verwandelt dabei die Zeit selbst, denn auch Balthasar darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass er das temporale Schema von Vorher-Nachher dualistisch in die Weltgeschichte einprägen wolle. Vielmehr kann die geschichtliche Verortung des Christusereignisses nur im trinitarischen Gesamt zusammenhang einer durch die Offenbarung des Gottessohnes zutage tretenden Heilszeit (Pleroma) gesehen werden, die die Schöpfungszeit (Chronos) qualitativ durchbricht (Kairos). Zeit ist abgründiger Zeit-Raum jenes Freiheitsdramas, zu dem Gott den Menschen einlädt, gemeinsam mit ihm in der Gestalt seines Sohnes die thanatologisch begrenzte Gegenwart anzunehmen, diese zu ertragen und sie gänzlich auszutragen. Ewigkeit ist jene Herrlichkeit, die die endliche Gegenwart des Dramas als die in diesem selbst aufleuchtende göttliche Gegenwart durchbricht. Die Vertikalität des Einbruchs der trinitarischen Zeit Gottes in die geschöpfliche Zeit des Menschen offenbart dabei dieses dramatische Geschehen als Perichorese des ungetrennten und unvermischten Ineinander von Gott und seiner Schöpfung.