Verfassungsprozessrecht

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b) Grundrechtsgleiche Rechte

167

Eine Verfassungsbeschwerde kann gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG auch auf eine Verletzung der in Art. 20 Abs. 4, Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte gestützt werden. Wer Träger dieser „grundrechtsgleichen“ Rechte ist, ist durch Auslegung derselben, nicht durch analoge Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG zu ermitteln. Einige der grundrechtsgleichen Rechte gelten nur für natürliche Personen, andere für alle juristischen Personen, auch für grundrechtsverpflichtete juristische Personen[94].

168

Das 1968 ins Grundgesetz eingefügte und 1969 durch Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG verfassungsbeschwerdefähig gemachte Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) ist ein Individualrecht, auf das nur Deutsche iSd Art. 116 GG eine Verfassungsbeschwerde stützen können. Welche Bedeutung Art. 20 Abs. 4 GG als verfassungsbeschwerdefähiges Recht hat, ist noch weithin ungeklärt.[95] „Revolutionsverneinungsverfassungsbeschwerden“[96] jedenfalls können nach der Rechtsprechung des BVerfG auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, ausgebaut zum „Recht auf Demokratie“, gestützt werden (s. dazu ausf. Rn 70 ff u. Rn 1160). Art. 20 Abs. 4 GG tritt insoweit, da andere Abhilfe möglich ist, als „subsidiäres Ausnahmerecht“ zurück (BVerfGE 135, 317, 389 mwN).

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Träger des speziellen Gleichheitsrechts des Art. 33 Abs. 1 GG sind ausschließlich natürliche Personen deutscher Staatsangehörigkeit. Die Vorschrift knüpft an die Landeszugehörigkeit an, die nach Kriterien wie etwa der Geburt in einem Bundesland, der Abstammung von Landesangehörigen oder einem langjährigen Wohnsitz bestimmt werden kann, was gegen eine Einbeziehung juristischer Personen spricht. Ein Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG) haben ebenfalls nur natürliche Personen deutscher Staatsangehörigkeit (s. etwa BVerfGE 108, 282, 295). Ein Recht auf Nicht-Diskriminierung wegen religiös-weltanschaulicher Gründe bietet Art. 33 Abs. 3 S. 1, 2 GG hingegen allen natürlichen Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und wohl auch juristischen Personen, soweit es um den „Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte“ geht[97]. Der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG vermittelt kein verfassungsbeschwerdefähiges grundrechtsgleiches Recht (dies offenlassend BVerfGE 130, 76, 109 mwN). Allerdings können von hoheitlicher Aufgabenwahrnehmung in ihren Grundrechten Betroffene rügen, dass der jeweilige Grundrechtseingriff wegen Verstoßes gegen Art. 33 Abs. 4 GG nicht rechtfertigungsfähig sei (BVerfG aaO). Art. 33 Abs. 5 GG hingegen verleiht Beamten, ohne dass der Wortlaut der Vorschrift diesen Schluss nahe legen würde, bestimmte, mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbare subjektive Rechte (zuletzt: BVerfGE 122, 89, 105 u. 119). Träger des ebenfalls mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbaren aktiven und passiven Wahlrechts für Wahlen zum Deutschen Bundestag gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sind alle Deutschen iSd Art. 116 GG, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben (Art. 38 Abs. 2 GG, s. dazu auch Rn 70 ff)[98].

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Die Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG hingegen zählen nicht zu den verfassungsbeschwerdefähigen grundrechtsgleichen Rechten. Das BVerfG hat dies damit begründet, dass ein Abgeordneter dem Staat nicht wie ein „Jedermann“ gegenüberstehe, wenn er um die ihm als Abgeordneten verfassungsrechtlich zukommenden Rechte mit einem anderen Staatsorgan streite (BVerfGE 43, 142, 148 f). Das GG stattet Bundestagsabgeordnete mit spezifischen Rechten aus. Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG und § 63 BVerfGG eröffnen den Bundestagsabgeordneten das Organstreitverfahren zur Verteidigung dieser Rechte. Nur ein Teil der Abgeordnetenrechte finden sich in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, zahlreiche weitere in anderen Vorschriften des III. Abschnitts des Grundgesetzes, va in Art. 46, 47 und 48. Ein sachlicher Grund dafür, warum Abgeordnete einen Teil dieser Abgeordnetenrechte, nämlich die aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, im Verfassungsbeschwerdeverfahren, die übrigen nur im Organstreitverfahren (vgl Rn 457 ff) verteidigen können sollen, ist nicht ersichtlich.

171

Die umfassende Inbezugnahme des Art. 38 GG – zunächst in § 90 Abs. 1 BVerfGG, später in Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG – dürfte daher ein Redaktionsversehen sein[99]. Auch dann, wenn der Abgeordnete neben seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auch Grundrechte, etwa eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes rügt, ist er nicht verfassungsbeschwerdefähig (BVerfGE 64, 301, 312). Nichts anderes gilt entgegen der neueren Rechtsprechung des BVerfG (E 108, 251, 267), wenn er Gerichtsentscheidungen angreift (die nicht Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein können) und rügt, er sei durch diese in seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. Insoweit – und erst recht dann, wenn Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG wie in der zitierten Entscheidung nur als Vehikel benutzt wird, um die ebenso wenig rügefähigen Abgeordnetenrechte aus Art. 47 GG verfassungsbeschwerdefähig zu machen (s. dazu bereits krit. Rn 65 f) – ist der Beschwerdeführer nicht beschwerdefähig im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist weder ein Ersatz für das Fehlen einer bundesverfassungsgerichtlichen Generalklausel noch ein Auffangtatbestand für unzulässige Organstreitigkeiten[100].

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Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) steht nach der Rechtsprechung des BVerfG allen Prozessbeteiligten zu, dh auch ausländischen juristischen Personen, auch im eigenen Namen handelnden Behörden (BVerfGE 138, 64, 82) und juristischen Personen, auf die die staatsgerichteten Grundrechte ihrem Wesen nach nicht anwendbar sind. Das BVerfG hat dies zutreffend damit begründet, dass die sog. Prozessgrundrechte keine Grundrechte iSd Art. 19 Abs. 3 GG sind und jedem möglichen Verfahrensbeteiligten zukommen müssen, „gleichgültig, ob er eine natürliche oder eine juristische, eine inländische oder eine ausländische Person ist“ (BVerfGE 12, 6, 8 [Société Anonyme, Paris]; ebenso BVerfGE 61, 82, 104 [Gemeinde Sasbach]; prägnant BVerfGE 138, 64, 82 ff [„Akzessorietät zwischen der Beteiligtenfähigkeit im fachgerichtlichen Verfahren und der Beschwerdefähigkeit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde“]). Die Frage, „ob auch der Staat Verfassungsbeschwerde erheben kann“, darf daher nicht pauschal verneint, sondern muss in der Tat „von Fall zu Fall nach der Eigenart des geltend gemachten Rechts beantwortet werden“ (BVerfGE 6, 45, 49).

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Träger des grundrechtsgleichen Rechts auf bestimmte und nicht rückwirkende Strafgesetze (Art. 103 Abs. 2 GG, vgl BVerfGE 85, 69, 72; 109, 133, 168) und des ebenfalls als grundrechtsgleiches Recht anerkannten Verbots der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG, vgl BVerfGE 56, 22, 27 u. 32 [„Prozessgrundrecht“]) sind alle potentiellen Adressaten von Strafen im Sinne dieser Vorschriften, dh auch juristische Personen. Träger der grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 104 GG schließlich – systematisch handelt es sich eigentlich um sog. Schrankenschranken des Grundrechts auf Freiheit der Person und des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit – sind nur natürliche Personen gleich welcher Staatsangehörigkeit[101].

 

c) Nicht rügefähige Rechte

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Auf Rechte, die nicht zu den Grundrechten des I. Abschnitts des Grundgesetzes oder den in § 90 Abs. 1 BVerfGG und Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG genannten grundrechtsgleichen Rechten gehören, kann eine Verfassungsbeschwerde nicht gestützt werden. Ungeachtet der Tatsache, dass das Grundgesetz „[n]ach den Grundsätzen der Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, wie sie sich aus der Präambel sowie aus Art. 1 Abs. 2, Art. 23 Abs. 1, Art. 24, Art. 25, Art. 26, Art. 59 Abs. 2 GG ergeben, […] die Auslegung der Grundrechte und die Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes in die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes und insbesondere in die europäische Grundrechtstradition“ stellt (BVerfG, 1 BvR 16/13 vom 6.11.2019, Abs.-Nr 61), gilt dies auch und insbesondere für die Gewährleistungen der EMRK und die Grundrechte der Grundrechtecharta der EU (aA neuerdings BVerfG aaO, Abs.-Nr 63 ff und BVerfG, 1 BvR 276/17 vom 6.11.2019, Abs.-Nr 50 ff – ausnahmsweise unmittelbare Prüfung innerstaatlichen Rechts bzw. fachgerichtlicher Rechtsanwendung auch an den Grundrechten der Charta, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch eine alleinige Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts ausnahmsweise nicht gewährleistet ist; zur Krititk ausf. Rn 1171 ff).

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Beispiele:

Unionsrechtliche Gewährleistungen können nicht mit der Verfassungsbeschwerde verteidigt werden (BVerfGE 110, 141, 154 f; 115, 276, 299; teilweise aufgegeben in BVerfG, 1 BvR 276/17 vom 6.11.2019, Abs.-Nr 67). Dasselbe gilt für die Gewährleistungen der EMRK (BVerfGE 111, 307, 317; 128, 326, 367; s. aber auch Rn 1231 ff). Die aus allgemeinen Regeln des Völkerrechts folgenden Rechte (Art. 25 S. 2 GG) sind nicht verfassungsbeschwerdefähig (BVerfGE 6, 389, 440). Die Schweizer Bundesverfassung ist nicht rügefähig (BVerfGE 6, 290, 296). Nicht verfassungsbeschwerdefähig sind auch die durch Art. 140 GG in das GG inkorporierten Vorschriften der WRV, soweit sie subjektive Rechte verkörpern (BVerfGE 102, 370, 383; BVerfG NVwZ 2010, 570, 573)[102]; allerdings sind Teilaspekte des durch die Vorschriften der WRV geregelten Grundverhältnisses zwischen Staat und Kirche auch von Art. 4 Abs. 1 GG erfasst (BVerfG NVwZ 2010, 570, 573 unter Hinweis auf BVerfGE 42, 312, 322; s. dazu auch Rn 65). Grundrechte der Landesverfassungen können nicht mit der (Bundes-)Verfassungsbeschwerde verteidigt werden (BVerfGE 2, 237, 244). Kein Grundrecht ist die in Art. 97 GG garantierte richterliche Unabhängigkeit (BVerfGE 27, 211, 217). Auch Art. 20 Abs. 3 GG ist im Rahmen der Verfassungsbeschwerde nicht selbstständig rügefähig (BVerfGE 114, 371, 383). Gleiches gilt für Art. 19 Abs. 1 und 2 GG (BVerfGE 112, 93, 96; 117, 302, 310).

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen › 3. Verfahrensfähigkeit

3. Verfahrensfähigkeit

a) Grundsätze

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Weder im GG noch im BVerfGG ist geregelt, wer rechtswirksam Verfassungsbeschwerde erheben und das Verfahren selbstständig führen kann (Verfahrensfähigkeit). In § 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG ist lediglich bestimmt, dass sich „die Beteiligten“ – also auch Verfassungsbeschwerdeführer – in jeder Lage des Verfahrens durch einen bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt oder durch einen Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule vertreten lassen können (zu den Anforderungen an die Verfahrensvollmacht jüngst BVerfG, 2 BvR 309/15 vom 17.9.2019, Abs.-Nr 19 mwN) und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG in dieser Weise vertreten lassen müssen (Postulationsfähigkeit).

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Das BVerfG hat schon früh betont, dass es die „besondere Eigenart“ der verfassungsgerichtlichen Verfahren verbiete, die diesbezüglichen Vorschriften anderer Verfahrensordnungen „ohne weiteres“ entsprechend anzuwenden oder die ihnen zugrunde liegenden Rechtsgedanken „allgemein“ auf das Verfahren vor dem BVerfG zu übertragen (BVerfGE 1, 87, 89). Die Antwort auf die gesetzlich nicht geregelte Frage der Verfahrensfähigkeit muss also der „besonderen Eigenart“ des Verfassungsbeschwerdeverfahrens gerecht werden[103].

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Das Verfassungsbeschwerdeverfahren soll dem Beschwerdeführer zur effektiven Durchsetzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte dienen (s.o. Rn 106). Es ist – abgesehen von der Missbrauchsgebühr, die in der Praxis nur selten verhängt wird und höchstens 2600 € betragen kann – kostenfrei (§ 34 Abs. 1, 2 BVerfGG) und daher mit vergleichsweise überschaubaren Risiken verbunden. Diese Aspekte sprechen dafür, die Verfahrensfähigkeit großzügig zu bejahen und grundsätzlich jeden beschwerdefähigen Beschwerdeführer auch als verfahrensfähig anzusehen. Andererseits droht dem Beschwerdeführer, der eine unzulässige Verfassungsbeschwerde erhoben hat, wegen der strengen Fristbindung der endgültige Verlust seines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts. Das spricht dafür, die Verfahrensfähigkeit von Beschwerdeführern, die nicht in der Lage sind, Bedeutung, Zweck und Voraussetzungen des Verfahrens zu erkennen und die zur Erfolg versprechenden Durchsetzung ihrer Rechte geeigneten und erforderlichen Entscheidungen zu treffen, in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse zu verneinen.

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Wollte man die individuelle Einsichtsfähigkeit des Beschwerdeführers nun aber von Fall zu Fall prüfen[104], würde dies nicht nur zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen, da kein Beschwerdeführer sich seiner Prozessfähigkeit sicher sein könnte[105]. Auch die Kapazitäten des BVerfG, das jedem Indiz für eine fehlende Einsichtsfähigkeit eines Beschwerdeführers nachzugehen hätte, um zu verhindern, dass er an Zulässigkeitsvoraussetzungen scheitert, die er schlechterdings nicht erfüllen kann, würden überfordert. An typisierenden Vorgaben und der Delegation ggf erforderlicher Einzelfallprüfungen führt also kein Weg vorbei.

b) Minderjährige

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Das BVerfG geht davon aus, dass die Verfahrensfähigkeit „von der Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte mitbeeinflusst“ wird. Bei einer Verletzung der Religionsfreiheit etwa seien die gesetzlich geregelten Altersstufen für die freie Wahl des Bekenntnisses zu „berücksichtigen“ (BVerfGE 1, 87, 88 f). Die ganz hM im Schrifttum schließt daraus, dass ein 14-Jähriger bezüglich Art. 4 Abs. 1, 2 GG prozessfähig ist[106] und dass es generell darauf ankommt, ob die Rechtsordnung den Beschwerdeführer als reif genug ansieht, im Bereich des jeweiligen Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts Entscheidungen zu treffen[107]. In der Literatur wird aber auch mit Recht darauf hingewiesen, dass die für eine eigenverantwortliche Ausübung der Grundrechte erforderliche Reife ein sehr viel geringeres Maß an Einsichtsfähigkeit und Wissen voraussetzt als die für eine sinnvolle prozessuale Verteidigung von Grundrechten erforderliche Reife[108].

181

Beispiele:

Ein Kind mag mit Vollendung des 14. Lebensjahres so weit sein zu entscheiden, zu welchem Bekenntnis es sich halten will (vgl § 5 S. 1 RelKEG), deutlich jüngere Schüler mögen bereits fähig sein, in einer Schülerzeitung ihre Meinung zu äußern und zu verbreiten (vgl etwa Art. 63 Abs. 1 S. 2 BayEUG), und schon mit Vollendung des 7. Lebensjahres mag ein Kind in der Lage sein, die Konsequenzen gewisser Geschäfte des täglichen Lebens zu übersehen und wirksam Verträge abzuschließen (§§ 106 ff BGB). Unmittelbar aus diesen und anderen gesetzlich fixierten Altersgrenzen wird man aber nicht schließen dürfen, dass der Minderjährige dann typischerweise auch fähig ist, die betreffenden Grundrechte selbst effektiv gegen Beeinträchtigungen zu verteidigen. Dass andere Verfahrensordnungen (vgl etwa § 62 Abs. 1 Nr 2 VwGO) auch beschränkt Geschäftsfähige insoweit als prozessfähig ansehen, bedeutet nicht, dass diese Regelungen sinngemäß auch für das (anschließende) Verfassungsbeschwerdeverfahren gelten müssen, zumal gar nicht klar ist, ob dem Minderjährigen durch diese vermeintlich „großzügigen“ Regelungen überhaupt gedient ist[109].

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Vorzuziehen ist im wohlverstandenen Eigeninteresse der Minderjährigen eine genuin familienrechtliche Lösung, die die Prozessfähigkeit nicht an den ohnehin nur punktuell vorhandenen[110] gesetzlich geregelten Teilmündigkeiten festmacht und im Übrigen verneint, sondern die Durchsetzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte von Minderjährigen im Verfassungsbeschwerdeverfahren grundsätzlich in die Hände der Eltern legt[111]. Volljährige (§ 2 BGB), die zum Deutschen Bundestag wählbar sind (Art. 38 Abs. 2 GG), nicht mehr unter der elterlichen Sorge stehen (§ 1626 Abs. 1 BGB) und unbeschränkt geschäftsfähig sind (§§ 104 ff BGB), sind auch als reif genug anzusehen, Sinn, Zweck und Bedeutung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu erkennen und die zu seiner erfolgreichen Betreibung erforderlichen Entscheidungen zu treffen.

183

Die Durchsetzung der Grundrechte Minderjähriger gegenüber dem Staat oder Dritten gehört gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich in den Verantwortungsbereich der Eltern (BVerfGE 107, 104, 121), weil „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“ (BVerfGE 59, 360, 376). Die im Elternrecht wurzelnde Vertretungsbefugnis beginnt nicht erst mit der Geburt, sondern schon mit der Zeugung[112] und erlischt mit der Volljährigkeit des Kindes (BVerfGE 59, 360, 382). Grundsätzlich entscheiden also die Eltern, ob sie eine dem Kind drohende oder widerfahrene Grundrechtsverletzung als seine gesetzlichen Vertreter (§ 1629 Abs. 1 BGB) durch Erhebung einer Verfassungsbeschwerde abwehren wollen oder nicht. Da der Staat über die Betätigung des elterlichen Erziehungsrechts zu „wachen“ und die Grundrechte des Kindes ggf auch gegen den Willen seiner Eltern durchzusetzen hat (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG), darf das BVerfG aber weder jede Erklärung der Eltern unbesehen gelten lassen noch Verfassungsbeschwerden von Kindern oder Dritten, die angesichts der Untätigkeit der Eltern für das Kind Verfassungsbeschwerde erheben, stets als unzulässig abweisen.

 

184

Beispiele:

Eine 15-jährige Schülerin, die gegen den Willen ihrer katholischen Eltern zum Islam übergetreten ist, erhebt Verfassungsbeschwerde und rügt eine Verletzung ihrer Religionsfreiheit durch ein vom Schulleiter ausgesprochenes Kopftuchverbot, gegen das die Eltern nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde vorgehen möchten[113]. Eine Pflegekraft, die erfährt, dass in einem (staatlichen) Krankenhaus lagernde „überzählige“ Embryonen für ein Forschungsprojekt verwendet werden sollen, erhebt Verfassungsbeschwerde und rügt eine Verletzung der Würde und des Rechts auf Leben dieser Embryonen.

185

Gibt es Anzeichen dafür, dass die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde durch die Eltern dem Kindeswohl widerspricht, weil diese vornehmlich ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen, muss Kindern, wie das BVerfG bezogen auf das familiengerichtliche Verfahren zutreffend formuliert hat, „die Möglichkeit eingeräumt werden, ihr eigenes Interesse, das möglicherweise weder von den Eltern noch von dem Gericht zutreffend erkannt oder formuliert wird, in einer den Anforderungen des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs.1 GG) entsprechenden Eigenständigkeit im Verfahren geltend zu machen. Dieses geschieht bei Kindern, deren Alter und Reife eine eigene Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte nicht erlaubt, durch einen Vertreter, den § 50 FGG als Verfahrenspfleger vorsieht“ (BVerfGE 99, 145, 163). Im Verfassungsbeschwerdeverfahren hat das BVerfG zunächst eine Entscheidung des zuständigen Familiengerichts anzuregen und abzuwarten, das den Sachverhalt von Amts wegen aufklärt (§ 26 FamFG) und nach § 1666 Abs. 1 BGB die erforderlichen Maßnahmen treffen, also auch den Eltern aufgeben kann, die Verfassungsbeschwerde wieder zurückzunehmen. Erhebt ein Minderjähriger selbst bzw erhebt ein Dritter für das Kind Verfassungsbeschwerde, hat das BVerfG zunächst den Eltern Gelegenheit zu geben, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern, sie ggf zu genehmigen und den Vortrag des Kindes (ggf unter Anwendung des § 93 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) in sachlicher und rechtlicher Hinsicht zu ergänzen. Weigern sich die Eltern, die Verfassungsbeschwerde des Kindes zu genehmigen, hat das BVerfG ebenfalls eine Entscheidung des zuständigen Familiengerichts nach § 1666 Abs. 1 BGB anzuregen. Dieses hat zu untersuchen, ob die Entscheidung der Eltern, die Verfassungsbeschwerde ihres Kindes nicht zu unterstützen, von egoistischen Motiven wie Bequemlichkeit, Desinteresse etc geleitet ist oder ob sie sich als Resultat einer am Kindeswohl orientierten pflichtgemäßen Abwägung aller Vor- und Nachteile sowie aller Chancen und Risiken eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens für das Kind darstellt[114].

186

Hinweis:

Hier erst dürfte die gesetzliche Ausgestaltung der Handlungsmöglichkeiten des Kindes, die das BVerfG bei seiner Entscheidung über die Prozessfähigkeit „berücksichtigen“ will (BVerfGE 1, 87, 88 f), eine Rolle spielen: Hat der Gesetzgeber den Minderjährigen als handlungsfähig anerkannt und wird der Minderjährige in den betreffenden Grundrechten verletzt, dürfen die Eltern nur dann von der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zugunsten ihres Kindes absehen, wenn schwerwiegende Gründe (etwa die zu erwartende psychische Belastung durch das Verfahren) dagegen sprechen. Je gewichtiger das betroffene Grundrecht, je gravierender dessen Beeinträchtigung, je älter bzw reifer das Kind ist, desto eher sind die mit einem Verfahren verbundenen Risiken und Nachteile für das Kind hinzunehmen.

187

Das Familiengericht hat, wenn es zum Ergebnis kommt, dass es zum Wohl des Minderjährigen angezeigt ist, das Verfassungsbeschwerdeverfahren weiter zu betreiben, die geeigneten Maßnahmen zu treffen. Es wird also – ggf im Wege vorläufiger Anordnung – entweder den Eltern aufgeben, die Verfassungsbeschwerde zu genehmigen oder den Eltern gem. § 1629 Abs. 2 S. 3 iVm § 1796 Abs. 1 BGB für diese Angelegenheit die gesetzliche Vertretung entziehen und dem Kind nach § 1909 BGB einen Pfleger bestellen, der dann die Verfassungsbeschwerde genehmigen kann. Vollendet das bei Einreichung der Verfassungsbeschwerde noch nicht volljährige Kind das 18. Lebensjahr, kann es die Verfassungsbeschwerde auch selbst genehmigen und weiterführen[115]. Bleibt die Genehmigung aus, wird die Verfassungsbeschwerde des nicht prozessfähigen Minderjährigen als unzulässig verworfen.

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Für die Durchsetzung der Grundrechte Ungeborener dürften nach dem Rechtsgedanken des § 1912 Abs. 2 BGB ebenfalls grundsätzlich die Eltern, ausnahmsweise gem. § 1912 Abs. 1 BGB ein vom zuständigen Vormundschaftsgericht zu bestellender Pfleger zuständig sein[116].