Verfassungsprozessrecht

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c) Volljährige

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Bei Volljährigen können sich Einschränkungen der Verfahrensfähigkeit ergeben, wenn sie geschäftsunfähig sind (§ 104 Nr 2 BGB) oder soweit sie nach §§ 1896 ff BGB unter Betreuung stehen. Für geschäftsunfähige Volljährige kann nur der gesetzliche Vertreter handeln; grundsätzlich dürfte auch nur dieser verfahrensfähig im Verfassungsbeschwerdeverfahren sein. Das BVerfG wollte zwar in einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde eines nach § 104 Nr 2 BGB geschäftsunfähigen Beschwerdeführers nicht allgemein entscheiden, „welche Wirkung die Beschränkung oder der Wegfall der Geschäftsfähigkeit im Rahmen der Verfassungsbeschwerde ausübt“. Es kam jedoch zu dem Ergebnis, dass der „Mangel der geistigen Kräfte, bestimmte eigene Angelegenheiten zu besorgen“, den Beschwerdeführer auch „an der Einsicht in die Voraussetzungen und den Zweck einer Verfassungsbeschwerde und an der ordnungsgemäßen und selbstständigen Durchführung eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens hindern“ müsse, das die Regelung dieser Angelegenheiten zum Gegenstand habe (BVerfGE 19, 93, 100).

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Wichtig ist die Einschränkung, dass die Verfahrensfähigkeit für solche Verfahren zu bejahen sei, „in denen über die Maßnahmen zu entscheiden ist, die wegen ihres Geisteszustandes zu treffen sind“ (BVerfGE 19, 39, 100 f unter Hinweis auf BVerfGE 10, 302, 306). Dies rechtfertige sich „aus dem Bedürfnis nach Grundrechtsschutz gegen solch tief in die persönliche Rechtssphäre eingreifende gerichtliche Entscheidungen“ (BVerfG aaO).

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Betreute sind – sofern sie nicht geschäftsunfähig sind – grundsätzlich verfahrensfähig[117]: Gem. § 1902 BGB vertritt der Betreuer den Betreuten „in seinem Aufgabenkreis“ gerichtlich und außergerichtlich. Entscheidend ist also zunächst, in welchem Umfang die Betreuung gerichtlich angeordnet wurde. Zu überprüfen ist weiter, ob und inwieweit der Betreute unter Einwilligungsvorbehalt steht. Nur insoweit kann er selbst keine wirksamen Willenserklärungen abgeben (§ 1903 BGB). Soweit der Betreute nicht unter Einwilligungsvorbehalt steht, tritt die Vertretungsbefugnis des Betreuers neben seine eigene Handlungsfähigkeit. Um widersprüchliche Prozesshandlungen auszuschließen, wird der Betreute allerdings gem. § 53 ZPO (gem. § 62 Abs. 4 VwGO auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar) einer prozessunfähigen Person gleichgestellt, sobald der Betreuer das Verfahren an sich zieht. Eine entsprechende Anwendung dieser Regelungen erscheint auch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sachgerecht.

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Ergeben sich in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer „auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann (vgl § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB), dürfte das BVerfG im Interesse einer effektiven Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers und zur eigenen Entlastung gehalten sein, beim zuständigen Betreuungsgericht die Bestellung eines Betreuers anzuregen, die auch von Amts wegen erfolgen kann.

d) Verstorbene

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Zur Durchsetzung der Grundrechte eines Verstorbenen sind nicht zwingend dessen Erben zuständig. Diese können, soweit eine Grundrechtsverletzung einen gem. § 1922 Abs. 1 BGB der Vererbung unterliegenden Vermögensgegenstand betrifft, diese ggf als eigene im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügen[118].

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Hinweis:

Aus prozessökonomischen Gründen und ohne entsprechende gesetzliche Regelung erlaubt es das BVerfG den Erben mit Recht, eine Verfassungsbeschwerde des nach Einreichung derselben verstorbenen Erblassers im eigenen Namen weiterzuführen, soweit es um Rügen geht, die der Rechtsnachfolger im eigenen Interesse geltend machen kann (s. dazu BVerfGE 109, 279, 304; 114, 371, 383; 117, 302, 310; alle mwN).

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Nur gewohnheitsrechtlich bzw partiell in Bestattungsgesetzen geregelt ist, dass die nächsten Angehörigen bzw engsten Vertrauten des Verstorbenen berechtigt sind, die zur Durchsetzung bestimmter höchstpersönlicher, nicht vererbungsfähiger Rechte des Verstorbenen erforderlichen Schritte zu unternehmen. Da sie typischerweise am ehesten in der Lage sind, eine dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entsprechende Durchsetzung seiner Rechte sicherzustellen, sind sie auch berechtigt, für ihn Verfassungsbeschwerde zu erheben bzw ein von ihm begonnenes Verfassungsbeschwerdeverfahren zu Ende zu bringen. Die vom BVerfG vertretene Gegenauffassung (BVerfGE 109, 279, 304; BVerfGK 14, 379, 381) überzeugt weder im Ergebnis noch in der Begründung: So richtig es ist, dass das Verfassungsbeschwerdeverfahren „regelmäßig“ der Durchsetzung höchstpersönlicher Rechte dient, so fragwürdig ist doch die Annahme, dass Dritte daher ein Verfahren zur Feststellung der lebzeitigen Verletzung höchstpersönlicher Grundrechte nach dem Tod des oder der Betreffenden nicht fortführen bzw. anstoßen dürften. Denn dann müssten gerade besonders gravierende Grundrechtsverletzungen – etwa die zum Tod führende Folter eines Menschen – ungerügt bleiben.

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Sollten keine Angehörigen vorhanden sein, darf daran die Durchsetzung der Grundrechte des Verstorbenen nicht scheitern. Es muss daher in diesem Fall auch ein Dritter, der sich der Sache des Verstorbenen annimmt, als vertretungsbefugt angesehen werden, wenn die Erhebung der Verfassungsbeschwerde dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspricht.

e) Sonderfälle

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In Eilfällen muss das BVerfG, will es den Grundrechtsschutz nicht vereiteln, selbst entscheiden, ob die für einen Dritten eingelegte Verfassungsbeschwerde im wohlverstandenen Eigeninteresse des Beschwerdeführers liegt oder ob es sich um eine unzulässige Popularklage handelt (vgl etwa BVerfGE 46, 160). Wo Eile geboten ist und die endgültige Vereitelung des Grundrechtsschutzes droht, darf auf die Einschaltung der sachnäheren Familien- bzw Vormundschaftsgerichte und die Bestellung von Pflegern (hier theoretisch denkbar: analoge Anwendung der Regelung des § 1911 Abs. 1 S. 1 BGB) verzichtet werden und die von einem Dritten eingelegte Verfassungsbeschwerde im Zweifel als zulässig angesehen werden.

f) Juristische Personen

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Für juristische Personen, die als solche nicht handlungsfähig sind, handelt ihr gesetzlicher Vertreter oder ein von der juristischen Person für das Verfassungsbeschwerdeverfahren Beauftragter. Ein verbotener Verein wird im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das Vereinsverbot weiterhin durch seinen Vorstand vertreten (vgl BVerfGE 149, 160, 189). Sollte es sich um eine nach einfachem Recht nicht rechtsfähige Personenmehrheit oder Organisation handeln oder sollte das Prozessführungsrecht unklar sein, kann das BVerfG der Durchsetzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte gem. § 21 BVerfGG durch die Bestellung eines Beauftragten, der nicht unbedingt aus dem Kreis der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen stammen, aber Gewähr für eine den Interessen der juristischen Person dienende Prozessführung bieten muss, zum Erfolg verhelfen.

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen › 4. Angriffsgegenstand

4. Angriffsgegenstand

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Das Verfassungsbeschwerdeverfahren dient dem Grundrechtsträger zur effektiven Durchsetzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte (s.o. Rn 106). Trotzdem kann nicht jede Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden. Der Beschwerdeführer muss gem. Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG behaupten können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte „verletzt“ zu sein.

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„Verletzt“ werden können Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte nur durch die Adressaten der Grundrechtsbindung. Diese sind in Art. 1 Abs. 3 GG abschließend genannt und werden in Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG mit dem Begriff „Öffentliche Gewalt“ umschrieben: „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“. Aus der amtlichen Überschrift des Grundgesetzes, die es als „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ ausweist (deutlich auch die ursprüngliche Fassung der Präambel: „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“), ergibt sich, dass die Bindung der „nachfolgenden Grundrechte“ nur die deutsche Staatsgewalt nach dem 23. Mai 1949 erfasst[119]. Mögen die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte auch Grundlage „jeder“ menschlichen Gemeinschaft sein (Art. 1 Abs. 2 GG) – die „nachfolgenden Grundrechte“ (Art. 1 Abs. 3 GG), auf die allein eine Verfassungsbeschwerde gestützt werden kann, binden nur die deutsche, durch das Deutsche Volk demokratisch legitimierte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung.

 

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Tauglicher Angriffsgegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist daher jedes potentiell grundrechtsverletzende Tun oder Unterlassen der grundrechtsgebundenen Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung: „Sinn des Instituts der Verfassungsbeschwerde ist es, dass alle Akte der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt auf ihre ‚Grundrechtsmäßigkeit‘ nachprüfbar sein sollen.“ (BVerfGE 7, 198, 207).

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Aus § 92 BVerfGG ergibt sich, dass nicht nur ein Handeln, sondern auch eine „Unterlassung“ eines „Organs“ oder einer „Behörde“ zulässiger Angriffsgegenstand sein kann. Die Vorschriften über die Anhörung Dritter (§ 94 BVerfGG) zeigen, dass es sich um ein Handeln oder Unterlassen von Verfassungsorganen des Bundes und der Länder (Abs. 1), eines Ministers oder einer Behörde des Bundes oder eines Landes (Abs. 2) oder eines Gerichts (Abs. 3) handeln kann. Dass auch Bundes- und Landesgesetze angegriffen werden können, zeigt § 94 Abs. 4 iVm § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG. Auch diese Normen bestätigen: „Öffentliche Gewalt“ meint die deutsche, an die Grundrechte des Grundgesetzes gebundene Staatsgewalt in all ihren Erscheinungsformen (so auch BVerfGE 58, 1, 26 ff, vgl aber Rn 224 ff u. 1191 ff).

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Keine Grundrechtsverletzung, die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann, ist demnach die Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter durch Naturgewalten, andere Grundrechtsträger, fremde Staaten oder internationale Organisationen. Behauptet der Beschwerdeführer, durch ein Naturereignis, einen anderen Grundrechtsträger, einen fremden Staat oder eine supra- bzw. internationale Organisation (s. dazu, auch zur teilw. abw. Rspr. des BVerfG näher Rn 224 ff u. 1191 ff) in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein, ist seine Verfassungsbeschwerde mangels eines tauglichen Angriffsgegenstands insoweit unzulässig. Eine Auslegung des Antrags kann aber ergeben, dass der Beschwerdeführer der Sache nach ein Tun oder Unterlassen der grundrechtsgebundenen deutschen Staatsgewalt rügt.

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Beispiele:

Nicht zulässig ist eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Tarifvertrag – die Tarifparteien sind nicht grundrechtsgebunden (offen gelassen in BVerfGE 90, 46, 58), üben keine öffentliche, sondern privatautonome, dh grundrechtlich legitimierte Gewalt aus –, wohl aber gegen dessen Allgemeinverbindlicherklärung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach § 5 Abs. 1 TVG[120]. Nicht zulässig ist eine Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsakte der nicht an die Grundrechte des Grundgesetzes gebundenen EU (s. dazu Rn 224 ff u. 1191 ff), wohl aber gegen Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht in deutsches Recht umsetzen, soweit das Unionsrecht den Mitgliedsstaaten dabei Umsetzungsspielräume einräumt (BVerfG, 1 BvR 16/13 vom 6.11.2019, Abs.-Nr 39 mwN). Sieht sich die deutsche öffentliche Gewalt zu Unrecht durch Unionsrecht gebunden, kann auch dies – die Verkennung grundrechtskonform auszufüllender Umsetzungsspielräume – mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden (BVerfGE 129, 78, 90 f). Nach der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG ist eine Verfassungsbeschwerde gegen die fachgerichtliche Anwendung vollvereinheitlichten, keinen Spielraum für eine Umsetzung in nationales Recht lassenden, Unionsrechts zulässig, da dann die Grundrechte der Charta zum bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab werden (BVerfG, 1 BvR 276/17 vom 6.11.2019, Abs.-Nr 77 ff).

205

Allgemein anerkannt ist, dass der Beschwerdeführer in einem Antrag mehrere Akte öffentlicher Gewalt (etwa: einen Verwaltungsakt, die Rechtsverordnung, auf der er beruht, das verordnungsermächtigende Gesetz und die den Verwaltungsakt bestätigenden Urteile des Verwaltungs-, Oberverwaltungs- und Bundesverwaltungsgerichts) angreifen kann (s. dazu bereits Rn 125 f).

a) Gesetzgebung

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Die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung, dh des parlamentarischen Gesetzgebers des Bundes und der Länder, ist nahezu umfassend. Das „Endprodukt“ ihrer Tätigkeit, das Parlamentsgesetz, ist nur verfassungsgemäß, wenn es mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten in Einklang steht. Dies gilt für Bundes- und Landesgesetze – das Landesverfassungsrecht eingeschlossen (BVerfGE 41, 65, 76 f) – gleichermaßen. Auf den Inhalt der Norm kommt es nicht an; der Erlass eines Gesetzes ist stets Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG (BVerfGE 12, 354, 361, LS II).

207

Grundsätzlich gilt, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz nicht vor dessen Verkündung erhoben werden kann (BVerfGE 131, 47, 52 unter Hinweis auf BVerfGE 11, 339, 342). Etwas anderes gilt, wenn effektiver Grundrechtsschutz in der Zeitspanne zwischen Verkündung und Inkrafttreten realistischerweise nicht erlangt werden kann, der Inhalt des Gesetzes bereits feststeht, das Gesetzgebungsverfahren in Bundestag und Bundesrat abgeschlossen ist, die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten respektiert wird und die Verkündung unmittelbar bevorsteht (BVerfGE 131, 47, 52 f). Verkündete, aber noch nicht in Kraft getretene Gesetze können ebenfalls angegriffen werden, wenn deren Rechtswirkungen bereits gegenwärtig klar abzusehen und für die Beschwerdeführer gewiss sind (vgl BVerfGE 108, 370, 385). Selbst Gesetzentwürfe können ausnahmsweise als Angriffsgegenstände einer Verfassungsbeschwerde in Betracht kommen (aA BVerfGE 68, 143, 150), sofern sie möglicherweise grundrechtsverletzend sind und den Beschwerdeführer bereits beschweren[121].

208

Auch Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen können mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden (BVerfGE 89, 155, 171; vgl auch BVerfGE 123, 148, 170 – Zustimmungsgesetz zu einem Vertrag zwischen Land und Religionsgemeinschaft als tauglicher Angriffsgegenstand). Ob der Vertrag bereits völkerrechtlich wirksam ist oder nicht, spielt keine Rolle (BVerfGE 6, 290, 295). Um das völkerrechtliche Wirksamwerden des betreffenden Vertrages zu verhindern, dürfen Zustimmungsgesetze aber jedenfalls schon vor ihrer Verkündung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden (BVerfGE 123, 267, 329 unter Hinweis auf BVerfGE 108, 370, 385).

209

Wegen der umfassenden Grundrechtsbindung der „Gesetzgebung“ sind auch sog. schlichte Parlamentsbeschlüsse angreifbar. Auch die Tätigkeit der Ausschüsse der Parlamente (etwa: Untersuchungsausschüsse, vgl BVerfGE 77, 1, 46) ist tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG entzieht nur die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse, dh nur die aus dem Ermittlungsergebnis gezogenen politischen Schlussfolgerungen der richterlichen Erörterung[122].

210

Grundrechtswidriges Gewohnheitsrecht ist denkbar[123] und als nicht gesetztes, aber gewachsenes Recht ebenfalls im Verfassungsbeschwerdeverfahren angreifbar. Der grundrechtsgebundene Staat darf solches Recht nur gelten lassen, wenn es den Grundrechten nicht widerspricht (s. dazu am Beispiel der Anwendung des Rechtsinstituts der unvordenklichen Verjährung im Straßenrecht BVerfG-K NVwZ 2009, 1158, 1159 ff). Es dürfte allerdings selten sein, dass ein Beschwerdeführer durch gewohnheitsrechtliche Regelungen unmittelbar betroffen und beschwerdebefugt ist (vgl BVerfG-K NVwZ 2009, 1158, 1160: Aufnahme der nach altem badischen Recht geltenden Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Rechtsinstituts der unvordenklichen Verjährung in den Willen des Landesgesetzgebers durch § 57 BadWürttStrG aF). In solchen Fällen bleibt ihm stets die Verfassungsbeschwerde gegen die Anwendung grundrechtswidrigen Gewohnheitsrechts durch Gerichte und Behörden.

211

Auch ein Unterlassen des Gesetzgebers ist tauglicher Angriffsgegenstand, „wenn sich der Beschwerdeführer auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen umgrenzt hat“ (BVerfGE 139, 321, 346 mwN; anders noch BVerfGE 1, 97, 100)[124]. Die Unterscheidung zwischen „echtem“ Unterlassen, dh völliger Untätigkeit des Gesetzgebers, und „unechtem“ Unterlassen, der im Erlass eines unzureichenden Gesetzes bzw in der Versäumung von Nachbesserungen liegt, spielt für die Frage, ob ein zulässiger Beschwerdegegenstand vorliegt, keine Rolle. Grundrechtsverletzend kann sowohl das „echte“ als auch das „unechte“ Unterlassen sein. Beides kann daher gerügt werden.

212

Auch außer Kraft getretene, aufgehobene oder inzwischen geänderte Vorschriften können grundsätzlich im Verfassungsbeschwerdeverfahren angegriffen werden, da diese Ereignisse eine Grundrechtsverletzung durch das Gesetz nicht immer beseitigen (so bereits BVerfGE 3, 58, 75). Werden angegriffene Vorschriften im Laufe des Verfahrens durch inhaltlich unveränderte Nachfolgeregelungen ersetzt, bleiben die ursprünglichen Vorschriften Gegenstand des Verfahrens (BVerfG, 1 BvR 142/15 vom 18.12.2018, Abs.-Nr 33).

213

Nicht grundrechtsgebunden ist der verfassungsändernde Gesetzgeber. Seine materiell-rechtlichen Bindungen ergeben sich abschließend aus dem spezielleren Art. 79 Abs. 3 GG[125]. Die Rüge, ein verfassungsänderndes Gesetz sei grundrechtswidrig, ist also wenig erfolgversprechend, es sei denn, das verfassungsändernde Gesetz berührt (auch) die gem. Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungsfesten Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG, den das BVerfG als verfassungsbeschwerdefähiges Grundrecht ansieht (s. dazu Rn 150 f).

214

Die Verfassungsmäßigkeit verfassungsändernder Gesetze kann auch als Vorfrage eine Rolle spielen. Die Verfassungsbeschwerden gegen den sog. Großen Lauschangriff beispielsweise waren unmittelbar gegen das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4. Mai 1998 (BGBl I, 845), mittelbar gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 13) vom 26. März 1998 gerichtet. Die grundrechtseingreifenden gesetzlichen Regelungen konnten nur verfassungsgemäß sein, wenn die Änderung des Grundgesetzes, die sie ermöglichte, ebenfalls verfassungsgemäß war (BVerfGE 109, 279, 325). Wäre das BVerfG zum Ergebnis gekommen, das verfassungsändernde Gesetz entspreche den Anforderungen des Art. 79 GG nicht, hätte es dieses Gesetz indes wohl nicht anlässlich dieser Verfassungsbeschwerde für nichtig erklären dürfen. Der Begriff „Gesetz“ iSd § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG beschreibt den Angriffsgegenstand; § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG, der die Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes anlässlich einer Verfassungsbeschwerde gegen eine darauf beruhende Gerichts- oder Behördenentscheidung gestattet, ist nicht analog anwendbar.

 

215

Vorkonstitutionelle Parlamentsgesetze, dh: Bundes- und Landesgesetze, die vor dem 24. Mai 1949 (vgl Art. 145 Abs. 2 GG) in Kraft getreten sind, Recht der Besatzungsmächte, Gesetze des Saarlandes und der DDR bis zu ihrem Beitritt zur BRD am 1.1.1957 bzw 3.10.1990 können wegen der fehlenden Grundrechtsbindung des jeweiligen Normgebers nicht unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Aus der heute bedeutungslosen Sonderregelung des § 93 Abs. 4 BVerfGG ergibt sich nichts anderes (aA BVerfGE 2, 237, 241 f).