Verfassungsprozessrecht

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bb) Grundsatz: Umfassende Grundrechtsprüfung

241

Nicht beschwerdebefugt ist der Beschwerdeführer auch dann, wenn eine Verletzung seiner Grundrechte zwar nicht auszuschließen ist, er aber nur aus solchen Gründen in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt sein kann, die das BVerfG im Rahmen seiner Zuständigkeit nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers bzw des Gesetzgebers des BVerfGG nicht überprüfen soll.

242

Diese Einschränkung mag überraschen, da sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG und dem gleichlautenden § 90 Abs. 1 BVerfGG auf den ersten Blick keinerlei Beschränkungen des Prüfungsumfangs ergeben. Der Beschwerdeführer hat ein Recht darauf, dass das BVerfG seine Behauptung, er sei durch einen bestimmten Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt worden, grundsätzlich umfassend nachprüft[141]: Grundrechtliche Freiheit darf nach der Rechtsprechung des BVerfG nur durch oder aufgrund verfassungsgemäßer Gesetze eingeschränkt werden (grundlegend BVerfG 6, 32, 41 – Elfes). Der Grundrechtsträger hat also einen Anspruch darauf, „nur aufgrund solcher Normen mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“ (BVerfGE 29, 402, 408). Die behauptete Grundrechtsverletzung ist also schon dann nicht von vornherein auszuschließen, wenn das Land zum Erlass des grundrechtseinschränkenden Gesetzes möglicherweise gar nicht zuständig war oder der Bundestag beim Erlass des Bundesgesetzes, auf das die Behörde den grundrechtseingreifenden Verwaltungsakt gestützt hatte, möglicherweise nicht beschlussfähig war oder die erforderliche Zustimmung des Bundesrates fehlte (s. dazu – kritisch – schon Rn 67 ff)[142].

cc) Ausnahmen: Keine Prüfung nicht rügefähiger Rechte, keine Prüfung von Rechten Dritter

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Zwei Ausnahmen von dem Grundsatz, dass das BVerfG den Angriffsgegenstand umfassend auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft, lassen sich bereits durch Auslegung des Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG bzw des § 90 Abs. 1 BVerfGG rechtfertigen. Erstens ist der Kreis der rügefähigen Rechte begrenzt (vgl Rn 149). Bringt der Beschwerdeführer vor, er sei in einem rügefähigen Recht „in Verbindung mit“ einem nicht rügefähigen Recht oder einer Vorschrift des objektiven Verfassungsrechts verletzt, genügt es nicht, dass dieses Recht oder diese Vorschrift möglicherweise verletzt ist. Zu prüfen ist weiter, ob dadurch auch das rügefähige Recht möglicherweise verletzt ist (s. dazu bereits Rn 64 ff).

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Beispiele:

Die Beauftragte und Unterzeichnerin eines Volksbegehrens hatte „im eigenen Namen und im Namen der Unterzeichner des Volksbegehrens“ Verfassungsbeschwerde eingelegt und ua eine Verletzung des Rechts aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Demokratieprinzip wegen verfassungswidriger Abstimmungsbeeinflussung gerügt. Das BVerfG erklärte diese Rüge für unzulässig, da das Gesetzesinitiativrecht des Volksbegehrens von den (rügefähigen) Individualrechten der Unterzeichner zu unterscheiden sei. Es beruhe auf einer Kompetenz, die dem Bereich der Staatsorganisation angehöre (BVerfGE 96, 231, 240 f), womit eine Grundrechtsverletzung ausgeschlossen war[143]. – Eine Verfassungsbeschwerde der Zeugen Jehovas gegen die Versagung des Körperschaftsstatus durch ein Urteil des BVerwG erklärte das BVerfG wegen einer möglichen Verletzung ihrer Religionsfreiheit für zulässig, da nicht von vornherein auszuschließen sei, dass das BVerwG „nicht allein Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 5 WRV unrichtig ausgelegt und angewendet, sondern zugleich zum Nachteil der Beschwerdeführerin die Grenzen überschritten hat, die dem Staat bei der Bewertung religiöser Lebensäußerungen durch das Gebot der Neutralität gezogen sind“ (BVerfGE 102, 370, 383)[144]. – Die Berliner Kirchen trugen vor, dass ihre durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewährleistete Religionsfreiheit in ihren tatsächlichen Rahmenbedingungen durch Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV entfaltet und ausgeformt werde. Sie seien daher durch das gegen Art. 139 WRV verstoßende Berliner Ladenöffnungsgesetz in ihrer Religionsfreiheit verletzt. Das BVerfG erklärte die Verfassungsbeschwerden mit Recht für zulässig, da das Verhältnis dieser Vorschriften zueinander noch ungeklärt sei und somit nicht ausgeschlossen werden könne, dass nicht nur Art. 139 WRV, sondern auch die Religionsfreiheit der Kirchen verletzt sei (BVerfG NVwZ 2010, 570, 571)[145]. – Kritisch zu sehen ist die Entscheidung BVerfGE 108, 251, 266 ff, in der das BVerfG der Sache nach die Verletzung eines Abgeordneten in seinen (nach hiesiger Auffassung, vgl Rn 170, ohnehin nicht im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügefähigen!) Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG deshalb bejahte, weil nicht von vornherein auszuschließen sei, dass die angegriffenen Urteile den Abgeordneten in seinen Rechten aus Art. 47 GG verletzten (vgl Rn 65 ff).

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Bei der Auslegung der rügefähigen Rechte ist zudem die Ausschlusswirkung zu bedenken, die sich aus der Enumeration der rügefähigen Rechte ergibt.

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Beispiel:

Das GG gewährt ein verfassungsbeschwerdefähiges Recht auf allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nur hinsichtlich der Wahlen zum Deutschen Bundestag, nicht hingegen für Wahlen der Volksvertretungen der Länder. Werden die genannten Wahlrechtsgrundsätze – die gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auch in den Ländern gelten – dort verletzt, können die Wähler nicht Verfassungsbeschwerde erheben mit der Behauptung, dadurch werde zugleich ihre allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder ihr Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt (BVerfGE 99, 1, 7 ff; anders noch BVerfGE 58, 177, 190).

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Eine weitere Beschränkung dürfte sich daraus ergeben, dass der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG nur eine Verletzung seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte rügen kann. Das spricht dagegen, die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung schon deshalb zu bejahen, weil nicht von vornherein auszuschließen ist, dass der Angriffsgegenstand oder das Gesetz, auf dem er beruht, Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte eines Dritten verletzt. Die Rechtsprechung des BVerfG in dieser Frage ist allerdings nicht ganz einheitlich[146].

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Beispiel:

Die Beschwerdebefugnis eines Arztes, der eine Sterilisation fehlerhaft durchgeführt hatte, zum Schadensersatz für den Unterhaltsaufwand für das Kind verurteilt worden war und dieses Urteil mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen hatte, durfte nicht allein deshalb bejaht werden, weil die Zuerkennung des Schadensersatzanspruchs und die damit (möglicherweise) verbundene Qualifikation des „Kindes als Schaden“ möglicherweise die Würde des Kindes antastete (undeutlich und entscheidend auf die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG als „tragendes Konstitutionsprinzip“ abstellend BVerfGE 96, 375, 398).

dd) Gerichtsurteile: Beschränkung auf die Prüfung „spezifischer Verfassungsrechtsverletzungen“

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Die bedeutsamste Ausnahme von dem Grundsatz, dass das BVerfG die behauptete Grundrechtsverletzung umfassend nachprüft und daher den Angriffsgegenstand umfassend auf seine Verfassungsmäßigkeit hin untersucht, betrifft die sog. Urteilsverfassungsbeschwerden, also Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile und -beschlüsse. Sie machen wegen des Gebots der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG, dazu Rn 285 ff) einen Großteil der beim Gericht eingehenden Verfassungsbeschwerden aus.

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Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die rechtsprechende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Das bedeutet, dass der Richter verfassungsrechtlich verpflichtet ist, das geltende (Gesetzes-)Recht zu beachten. Tut er dies nicht, verletzt er nicht nur das geltende (Gesetzes-)Recht, sondern auch das Grundgesetz. Jedes falsche Gerichtsurteil ist daher verfassungswidrig. Beeinträchtigt das fehlerhafte Gerichtsurteil den Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte – sei es, dass es seine grundrechtlich geschützte Freiheit einschränkt, etwa durch Auferlegung einer Zahlungspflicht, sei es, dass es ihm eine beantragte Entscheidung, etwa ein Unterlassungsurteil gegen den ruhestörenden Nachbarn vorenthält[147] –, verletzt es dieses Grundrecht. Zumindest verletzt das falsche Gerichtsurteil den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG). Da das BVerfG im Verfassungsbeschwerdeverfahren Grundrechtsverletzungen grundsätzlich umfassend zu überprüfen hat, müsste daher jede Urteilsverfassungsbeschwerde zulässig sein, es sei denn, es könnte von vornherein ausgeschlossen werden, dass das grundrechtsbeeinträchtigende Urteil unrichtig ist, was nur selten der Fall sein dürfte.

 

251

Aus einer systematischen Interpretation des Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG und des § 90 Abs. 1 BVerfGG ergibt sich aber, dass das BVerfG gar nicht dafür zuständig sein kann, Urteile umfassend auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu überprüfen[148]. Die rechtsprechende Gewalt ist gem. Art. 92 GG den Richtern „anvertraut“. „Ausgeübt“ wird sie durch das BVerfG, durch die im GG vorgesehenen Bundesgerichte und die Gerichte der Länder. Die Bundesgerichte hat der Bund gem. Art. 95 Abs. 1 GG als „oberste Gerichtshöfe“, dh als höchstinstanzliche Rechtsmittelgerichte für die Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit zu errichten. Aus dieser Aufgaben- und Kompetenzverteilung folgt, dass das BVerfG ungeachtet der Bindung des Richters aus Art. 20 Abs. 3 GG grundsätzlich nicht dafür zuständig ist, Urteile auf ihre Richtigkeit hinsichtlich des einfachen Rechts zu überprüfen. Zweifelsfragen der Anwendung des einfachen Rechts haben nach dem Willen der Väter und Mütter des GG die Fachgerichte abschließend zu beantworten. Eine vollständige Rechtmäßigkeitskontrolle am Maßstab des einfachen Rechts durch das BVerfG ist also bereits durch die grundgesetzliche Kompetenzverteilung ausgeschlossen[149].

252

In ständiger Rechtsprechung und im Ergebnis mit Recht beschränkt sich das BVerfG daher bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen darauf, zu überprüfen, ob das Gericht „spezifisches Verfassungsrecht“ bzw – präziser[150] – in spezifischer Weise Verfassungsrecht verletzt hat. In der viel zitierten Leitentscheidung des Gerichts, das seither immer wieder betont hat, „keine Superrevisionsinstanz“ zu sein, heißt es (BVerfGE 18, 85, 92)[151]:

„Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das BVerfG auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen.“

253

Die Frage, wann möglicherweise ein spezifischer Verfassungsverstoß vorliegt und das BVerfG daher für die Überprüfung des angegriffenen Urteils zuständig ist, wird in der (nicht mehr zu übersehenden) Literatur unterschiedlich beantwortet[152], und auch die Rechtsprechung des BVerfG zu dieser zugegebenermaßen nicht einfachen Frage ist keineswegs einheitlich[153]. In der Leitentscheidung heißt es (aaO, 92 f):

„Spezifisches Verfassungsrecht ist nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“

254

Schon in einer zuvor ergangenen Entscheidung hatte das BVerfG ausgeführt, dass ein vom BVerfG im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu kontrollierender Grundrechtsverstoß nur dann gegeben sei (BVerfGE 11, 343, 349),

„wenn das Gericht durch verfahrensrechtliche Maßnahmen verfassungsmäßige Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt oder bei seiner Entscheidung willkürlich gehandelt oder bei der Auslegung der Gesetze gegen Grundrechte verstoßen oder grundrechtswidrige Gesetze angewandt hätte und die Entscheidung darauf beruhen würde.“

255

Vieles spricht daher für die Annahme, dass „spezifisch verfassungsrechtlich“ nichts anderes bedeuten soll als „nicht einfachrechtlich“. Es gibt „nur einen im ‚nicht spezifischen‘ Verfassungsrecht enthaltenen Rechtssatz, und er lautet: ,Gerichte haben das einfache Recht zu beachten.‘ Alle anderen Verfassungsrechtssätze gehören zum ‚spezifischen Verfassungsrecht‘.“[154]

256

Außer Frage steht daher zunächst, dass das BVerfG fachgerichtliche Entscheidungen in vollem Umfang darauf zu überprüfen hat, ob sie im Ergebnis – so, wie sie sich als Resultat der Auslegung und Anwendung der einfachgesetzlichen Rechtsnormen durch das Fachgericht darstellen – das gerügte Grundrecht des Beschwerdeführers verletzen[155]. Noch in der Soraya-Entscheidung beispielsweise betonte das BVerfG mit Recht, dass es zu prüfen habe (BVerfGE 34, 269, 280),

„ob die Entscheidungen der Zivilgerichte auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Reichweite und Wirkkraft eines Grundrechts beruhen oder ob das Entscheidungsergebnis selbst Grundrechte eines Beteiligten verletzt.“

257

Das Entscheidungsergebnis kann Grundrechte eines Beteiligten nur dann verletzen, wenn das Gericht seine Entscheidung durch Anwendung einer verfassungswidrigen Rechtsnorm gewonnen hat (die es nicht hätte anwenden dürfen bzw dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung hätte vorlegen müssen) oder bei der Anwendung einer verfassungsgemäßen Norm verkannt hat, dass es die ihm verbleibenden Spielräume grundrechtskonform hätte ausfüllen müssen. Es geht also, was die Kontrolle des Entscheidungsergebnisses angeht, nicht um Zweifelsfragen des einfachen Rechts, die von den Fachgerichten abschließend zu klären sind, sondern stets um „spezifisches Verfassungsrecht“. Ist nicht von vornherein auszuschließen, dass das Ergebnis einer grundrechtsbeeinträchtigenden gerichtlichen Entscheidung Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt, ist er beschwerdebefugt.

258

Auch bei der Entscheidungsfindung kann das Gericht in spezifischer Weise Verfassungsrecht, dh nicht nur das einfache Gesetzesrecht, verletzen. Das gilt selbst dann, wenn das Entscheidungsergebnis – isoliert betrachtet – nicht verfassungswidrig ist. Nicht nur das Gesetzesrecht, sondern in spezifischer Weise Verfassungsrecht verletzt ein Gericht nach der stRspr des BVerfG dann, wenn sich die Rechtsanwendung als willkürlich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG darstellt[156]. Das ist der Fall, wenn der Richterspruch (BVerfGE 87, 273, 278 f)

„… unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich […]. Fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird […]. Von willkürlicher Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt.“

259

In solchen Fällen entfällt der kompetentielle Einwand gegen eine umfassende Überprüfung von Gerichtsurteilen durch das BVerfG. Sache der Fachgerichte ist es nach dem Willen der Verfassung, Zweifelsfragen des einfachen Rechts in methodisch vertretbarem Rahmen zu lösen. Verlassen die Fachgerichte diesen Rahmen, indem sie sachlich unhaltbare Entscheidungen treffen, verspielen sie das Vertrauen, von dem in Art. 92 GG die Rede ist („anvertraut“). Sie handeln nicht mehr kompetenzgemäß, womit der Grund für die Zurückhaltung des BVerfG bei der Überprüfung von Gerichtsurteilen entfällt[157]. Das bedeutet, dass der Verfassungsbeschwerdeführer auch dann beschwerdebefugt ist, wenn er geltend machen kann, dass die ihn beschwerende Gerichtsentscheidung die Vorgaben des einfachen Rechts in unhaltbarer Weise missachtet. Das BVerfG prüft in solchen Fällen nicht die Richtigkeit, sondern die Vertretbarkeit der Entscheidung[158].

260

Gleiches muss gelten, wenn nicht von vornherein auszuschließen ist, dass das Gericht seiner Entscheidung offenkundig fehlerhafte Tatsachenfeststellungen zugrunde gelegt oder eine mehrdeutige Äußerung zum Nachteil des Beschwerdeführers gedeutet hat, ohne andere Deutungsmöglichkeiten unter Angabe überzeugender Gründe auszuschließen. Überschreiten die hierfür eigentlich zuständigen Fachgerichte den ihnen auch insoweit zustehenden Spielraum, handeln sie nicht mehr kompetenzgemäß, und der Grund für die Zurückhaltung des – grundsätzlich umfassend prüfungsbefugten BVerfG – entfällt auch hier[159].

261

Beispiel:

Im (umstrittenen) Soldaten-sind-Mörder-Beschluss hielt das BVerfG fest (E 93, 266, 295 f), dass Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit verstoßen. Dasselbe gelte, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrundelege, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben. Darin liege keine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung zum Umfang der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts, da das BVerfG auch bei der Verurteilung wegen Äußerungsdelikten nur prüfe, ob die Gerichte Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit verkannt hätten. Im Übrigen – etwa hinsichtlich der Fragen, ob die umstrittene Äußerung tatsächlich gefallen sei, welchen Wortlaut sie gehabt habe und unter welchen Umständen sie gefallen sei – bleibe es bei der alleinigen Zuständigkeit der Fachgerichte.

262

In spezifischer Weise verletzt ein Gericht bei seiner Entscheidungsfindung Verfassungsrecht auch dann, wenn es die (freilich umstrittenen) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten[160] oder seine Entscheidung ohne (verfassungsgemäße) gesetzliche Grundlage getroffen hat. Auch dies sind Fragen, die nicht nur die richtige Anwendung des vom Gesetzgeber gesetzten Rechts betreffen und daher vom BVerfG umfassend zu überprüfen sind (zur umfassenden Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der angewendeten Rechtsnormen etwa BVerfGE 65, 297, 303)[161].

263

Ein spezifischer Verfassungsverstoß liegt schließlich auch dann vor, wenn ein Fachgericht bei seiner Entscheidung nicht erkennt und angemessen berücksichtigt, dass sich aus dem Grundgesetz Maßstäbe für seine Entscheidung ergeben (etwa bei der Interpretation einer zivilrechtlichen Generalklausel oder bei der Anwendung einer öffentlich-rechtlichen Ermessensnorm) oder wenn es seiner Entscheidung verfassungsrechtliche Maßstäbe zugrundelegt, die fehlerhaft sind. Welche Auslegung des Grundgesetzes richtig ist und welche Anforderungen sich aus dem GG für das Handeln aller Staatsgewalt ergeben, soll nach dem Willen der Väter und Mütter des GG letztverbindlich das BVerfG und nicht die Fachgerichte entscheiden.

264

Mit Recht heißt es daher im Kopftuch-Urteil des BVerfG (E 108, 282, 294 f): „Soweit […] das Gericht, dessen Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, Grundrechtsbestimmungen unmittelbar selbst ausgelegt und angewandt hat, obliegt es dem BVerfG, Reichweite und Grenzen der Grundrechte zu bestimmen und festzustellen, ob Grundrechte nach ihrem Umfang und Gewicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt worden sind. […] Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden und insbesondere die verschiedenen Funktionen einer Grundrechtsnorm zu erschließen […], ist das BVerfG insoweit im Verhältnis zu den Fachgerichten nicht auf die Prüfung beschränkt, ob diese das Verfassungsrecht willkürfrei zugrunde gelegt haben, sondern hat selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden.“

 

265

Ein Fachgericht kann Bedeutung und Tragweite der Grundrechte des Grundgesetzes auch dadurch verkennen, dass es irrig annimmt, das Recht der Europäischen Union lasse dem nationalen Gesetzgeber keinen grundrechtskonform zu füllenden Umsetzungsspielraum. Diese Annahme unterliegt – vorbehaltlich einer verbindlichen Auslegungsentscheidung des EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV – der uneingeschränkten, dh nicht auf eine bloße Willkürprüfung beschränkten Überprüfung durch das BVerfG (BVerfGE 129, 78, 102 f; bekräftigt in BVerfG, 1 BvR 276/17 vom 6.11.2019, Abs.-Nr 82).

266

In spezifischer Weise Verfassungsrecht und nicht nur einfaches Recht hat das Fachgericht schließlich auch dann verletzt, wenn es Vorgaben missachtet hat, die sich aus dem GG für sein Verfahren ergeben. Insbesondere im Hinblick auf die grundrechtsgleichen Verfahrensgarantien (Art. 101 Abs. 1 S. 1 und 2 GG, Art. 103 Abs. 1 GG) ergeben sich aus der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zwischen BVerfG und Fachgerichten keinerlei Einschränkungen für die Überprüfungsbefugnis des BVerfG[162].

267

Gleiches gilt für mögliche Verletzungen des einfachen Rechts bei Beschränkungen der Freiheit der Person, da das GG für diesen sensiblen Bereich die Beachtung des einfachen Rechts in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich (und zusätzlich zu der ohnehin geltenden Gesetzesbindung des Richters aus Art. 20 Abs. 3 GG) zur Verfassungspflicht macht.