Verfassungsprozessrecht

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§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze



Inhaltsverzeichnis





I.



Das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt







II.



Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen







III.



Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick





§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › I. Das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt






I. Das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt



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Die

Rechtsprechung

, dh die Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung von Streitigkeiten allein am Maßstab des Rechts durch einen am Streitverhältnis nicht beteiligten Dritten (vgl BVerfGE 103, 111, 137 f), ist im Staat des Grundgesetzes den Richtern anvertraut (

Art. 92 GG

). Ein Teil davon wird vom BVerfG ausgeübt. Ihm kommt die Kompetenz zur Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative am Maßstab des Grundgesetzes zu. Seine Entscheidungen binden auch die am jeweiligen Verfahren nicht beteiligten Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (

§ 31 Abs. 1 BVerfGG

). In bestimmten Fällen haben sie Gesetzeskraft (

§ 31 Abs. 2 BVerfGG

) und genießen damit Allgemeinverbindlichkeit.



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Seinem Status als Gericht entsprechend ist das BVerfG heute (vgl noch BVerfGE 1, 76 ff; 2, 79 ff; 3, 407 ff) nicht mehr dafür zuständig,

Rechtsgutachten

 über verfassungsrechtliche Fragen zu erstatten. Die entsprechende Kompetenz, die das BVerfG als „grundsätzlich der richterlichen Funktion wesensfremd“ erkannte (BVerfGE 2, 79, 86), wurde schon 1956 wieder gestrichen.



§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen





II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen



§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen › 1. Grundsätze






1. Grundsätze



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Die Zuständigkeiten des BVerfG ergeben sich aus

Art. 93 GG

. Die Vorschrift enthält keine dem

§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO

 vergleichbare (bundes-)verfassungsgerichtliche Generalklausel (BVerfGE 1, 396, 408; 3, 368, 376), sondern regelt die Zuständigkeiten des BVerfG enumerativ. Bestimmte Zuständigkeiten sind dem Gericht in

Art. 93 Abs. 1 Nr 1 bis Nr 4c GG

 und

Art. 93 Abs. 2 GG

 ausdrücklich zugewiesen. Gem.

Art. 93 Abs. 1 Nr 5 GG

 entscheidet das BVerfG außerdem „in den übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fällen“, so zum Beispiel über die Frage der Verfassungswidrigkeit politischer Parteien (Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG) oder die Verfassungsmäßigkeit entscheidungserheblicher Normen auf Vorlage eines Gerichts (

Art. 100 Abs. 1 GG

). In

Art. 93 Abs. 3 GG

 schließlich wird der Bundesgesetzgeber ermächtigt, dem BVerfG weitere Zuständigkeiten zuzuweisen, was ua in § 36 Abs. 2 S. 1 PUAG geschehen ist. Diese Regelung ist

abschließend

 (BVerfGE 1, 396, 408 f; 13, 174, 176 f; 63, 73, 76). Es ist Sache des Gesetzgebers, nicht des Gerichts, die Zuständigkeiten des BVerfG zu erweitern, wenn sich dies als erforderlich erweisen sollte.



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Art. 93 GG

 erfüllt eine dreifache Funktion: Er benennt die dem BVerfG zugeordneten

Verfahrensarten

, begründet für diese die

Zuständigkeit

 des Gerichts und eröffnet damit jeweils auch den verfassungsgerichtlichen

Rechtsweg

. Es ist daher nicht sinnvoll, die Prüfung der Zulässigkeit eines Antrags mit der Frage der Eröffnetheit des „Rechtswegs zum BVerfG“ zu beginnen, wie es das BVerfG 2015 und 2016 wieder getan hat (BVerfGE 140, 115, 138; 143, 101, 122; ausf. zu dieser Frage

Rn 487

 u.

Rn 551

).



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Wo dem BVerfG weder durch das GG noch durch verfassungsgemäßes Bundesgesetz die Entscheidungszuständigkeit zugewiesen ist, darf es nicht tätig werden: „Nicht jeder im objektiven Verfassungsrecht begründeten Pflicht muss also ein vor dem BVerfG verfolgbarer Anspruch eines anderen Beteiligten gegenüberstehen“ (BVerfGE 13, 54, 96). Das BVerfG darf nur in der Sache entscheiden, wenn es zuständig ist und die Voraussetzungen für eine Entscheidung in der Sache – die

Zulässigkeitsvoraussetzungen

 – vorliegen (so bereits BVerfGE 1, 184, 196). Sie ergeben sich teils aus dem GG selbst, teils aus dem BVerfGG.



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Wo das GG dem BVerfG – ob in

Art. 93 GG

 selbst oder an anderer Stelle – Zuständigkeiten ausdrücklich zuweist, finden sich zT auch mehr oder weniger detaillierte Regelungen über die Grundstrukturen des jeweiligen

Verfahrens

, zB über den Kreis der Beteiligten, den Angriffsgegenstand, den Prüfungsmaßstab oder die Antragsbefugnis. Dem Bundesgesetzgeber, der gemäß

Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG

 das Verfahren des Gerichts regelt und dies im BVerfGG getan hat, bleibt die verfassungsgemäße

Konkretisierung

 dieser Vorgaben. Er darf dem Gericht weder Zuständigkeiten entziehen, die ihm nach dem GG zukommen sollen, noch den Zugang zum Gericht ohne rechtfertigenden Grund erschweren oder gar unmöglich machen.



§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen › 2. Bindung des BVerfG an verfassungswidrige Verfahrensregelungen?






2. Bindung des BVerfG an verfassungswidrige Verfahrensregelungen?



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Tut der Gesetzgeber dies gleichwohl, befindet sich das BVerfG in einer misslichen Lage: Durch eine

verfassungswidrige Verfahrensregelung

 im BVerfGG, etwa: durch den verfassungswidrigen Ausschluss bestimmter Beteiligter von einem bestimmten Verfahren (vgl

Rn 421 ff

 zu

§ 63 BVerfGG

) oder unverhältnismäßig strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen, kann das Gericht nicht gebunden sein. Andererseits ist es an sich nicht berechtigt, verfassungswidrige Normen, die sein Verfahren regeln, anlässlich der Entscheidung in einem konkreten Rechtsstreit ohne Antrag eines hierzu berechtigten Antragstellers für nichtig zu erklären. Das Gericht behilft sich damit, solche Normen schlicht außer Anwendung zu lassen und sein Verfahren an den Vorgaben des Grundgesetzes auszurichten. Weil niemand außer dem BVerfG das BVerfGG anwendet, kommt die Wirkung der Nichtanwendung der förmlichen Nichtigerklärung dieser Vorschriften gleich.



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Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob das BVerfG nicht solche Vorschriften der Klarheit halber dem jeweils anderen Senat nach

Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG

 vorlegen sollte. Der Wortlaut der Vorschrift stünde einer solchen Vorgehensweise nicht entgegen. Auch der Einwand des

nemo iudex in causa sua

 griffe nicht durch, weil es zu einer Entscheidung des BVerfG nur auf verfahrenseinleitenden Antrag hin kommen kann (

§ 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG

).



§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen › 3. Problematische Zuständigkeitserweiterungen






3. Problematische Zuständigkeitserweiterungen



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Verboten ist es dem BVerfG nicht nur, seine Zuständigkeiten durch

Selbstermächtigung

 zu erweitern, sondern auch, sich über zuständigkeitsbegrenzende Zulässigkeitsvoraussetzungen hinwegzusetzen, die sich aus dem GG und verfassungsgemäßen Bestimmungen des BVerfGG ergeben. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1966 führt das Gericht zutreffend aus (BVerfGE 21, 52, 53 f):



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„Die Bestimmung des Kreises der Antragsberechtigten hat nicht nur technische Bedeutung; sie hängt eng mit dem verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gehalt der Rechtsstreitigkeiten zusammen, die dem BVerfG zur Entscheidung zugewiesen sind. Die Antragsberechtigung kann daher nicht im Wege der Analogie aus Gründen eines vermeintlichen Sachbedürfnisses erweitert werden. Das Gericht würde damit die der Verfassungsgerichtsbarkeit vom GG gezogenen Grenzen durch Zulassung neuer Verfassungsstreitigkeiten überschreiten und so von einer wichtigen Grundentscheidung des Verfassungsgebers abweichen. Dazu ist es nicht befugt.“

 






a) „In-Verbindung-mit“-Judikatur



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Heikel ist in dieser Hinsicht vor allem die Rechtsprechung des BVerfG zum

Verfassungsbeschwerdeverfahren

. Aus

Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG

 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer behaupten können muss, in einem seiner Grundrechte (dh in subjektiven Rechten, die sich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes unter der Überschrift „I. Die Grundrechte“ finden) oder in einem seiner in

Art. 20 Abs. 4

,

33

,

38

,

101

,

103

 und

104 GG

 enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Die Aufzählung weiterer Vorschriften des Grundgesetzes, aus denen verfassungsbeschwerdefähige Rechte folgen können, macht nur dann Sinn, wenn sie als Ausschluss

nicht

 genannter Vorschriften des Grundgesetzes in den Abschnitten II. bis XI. verstanden wird, aus denen ebenfalls subjektive Rechte folgen können.



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Trotzdem hat das BVerfG immer wieder Verfassungsbeschwerden gegen fachgerichtliche Entscheidungen für zulässig erachtet, die der Beschwerdeführer auf eines der enumerierten Rechte

in Verbindung mit

 einem thematisch nahe stehenden, aber nicht in

Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG

 als rügefähig genannten subjektiven Recht oder einer Vorschrift des objektiven Verfassungsrechts gestützt hatte. Das ist unproblematisch (und im Grunde auch unnötig), soweit die Verletzung dieses nicht genannten Rechts zu einer Verletzung des rügefähigen Rechts führt, was aber eher die Ausnahme sein dürfte. Wo es sich nicht um solche Ausnahmen handelt, besetzt das BVerfG durch seine „In-Verbindung-mit“-Judikatur Zuständigkeiten, die ihm nach geltendem Recht nicht zukommen.



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Kritisch zu sehen sind daher beispielsweise die Ausführungen des Gerichts zur

Verfassungsbeschwerde

 eines

Bundestagsabgeordneten

, der eine Verletzung seiner Rechte „aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 47 Satz 2 GG“ gerügt hatte (BVerfGE 108, 251, 267): „Der Beschwerdeführer kann nicht auf das Organstreitverfahren als vorrangige Rechtsschutzmöglichkeit verwiesen werden . Hier macht der Beschwerdeführer nicht seine organschaftliche Stellung gegenüber einem im Organstreitverfahren parteifähigen Verfassungsorgan geltend. Vielmehr rügt er die Verletzung eines im fachgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigenden subjektiven öffentlichen Rechts durch die öffentliche Gewalt. In diesem Fall muss dem Abgeordneten die verfassungsrechtliche Klärung der Frage, ob seine Rechte aus

Art. 47 S. 2 GG

 verletzt sind, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde möglich sein.“ – Vergleichbares hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG in ihrem

Nichtannahmebeschluss im Fall Edathy

 für den ebensowenig rügefähigen

Art. 46 GG

 angenommen, obwohl die Gewährleistung der parlamentarischen Immunität in erster Linie der Funktionsfähigkeit des Parlaments diene. Der Abgeordnete könne gegenüber dem Parlament beanspruchen, dass dieses willkürfrei über eine beantragte Aufhebung der Immunität entscheide, und

Art. 46 Abs. 2 GG

 enthalte zudem ein Verfahrenshindernis, das die öffentliche Gewalt bei allen gegen Bundestagsabgeordnete gerichteten Maßnahmen streng zu beachten habe; auch darauf könne sich der einzelne Abgeordnete berufen. Mache der Beschwerdeführer nicht seine organschaftliche Stellung, sondern die Verletzung seiner Immunität als eines subjektiven öffentlichen Rechts geltend, sei die Verfassungsbeschwerde statthaft (BVerfG-K NJW 2014, 3085, 3086; vgl auch

Rn 462

).






b) Verfassungsprozessuale Bedeutung der Elfes-Logik



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Das BVerfG hat nicht nur den Kreis der rügefähigen Rechte im Verfassungsbeschwerdeverfahren über den Wortlaut des

Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG

 hinaus erweitert, sondern auch den Prüfungsumfang in diesem Verfahren außerordentlich umfassend angelegt. In der

Elfes-Entscheidung

 formuliert das Gericht bezogen auf

Art. 2 Abs. 1 GG

, was es später – konsequenterweise – auf alle übrigen Grundrechte erstreckt hat (BVerfGE 6, 32, 41):





„Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus

Art. 2 Abs. 1 GG

 verletzt.“



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Art. 2 Abs. 1 GG

 wird – so verstanden – zum „Grundrecht des Bürgers, nur aufgrund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind“ (BVerfGE 29, 402, 408). Das weitet die Verfassungsbeschwerde „tendenziell zur allgemeinen Normenkontrolle aus“ (BVerfGE 80, 137, 168 – SV

Grimm

). Zwar rügt der Beschwerdeführer auch in solchen Fällen – genau besehen – eine Verletzung seines Grundrechts und nicht einen Anspruch auf verfassungsmäßige Gesetzgebung, der ihm keinesfalls zukommt. Dennoch stellt sich die Frage, ob dem Grundrechtsberechtigten durch

Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG

,

§ 90 BVerfGG

 die Möglichkeit eröffnet werden sollte, eine derart umfassende Überprüfung eines grundrechtsbeeinträchtigenden Gesetzes zu initiieren.



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Die materiellrechtliche Überlegung, dass grundrechtliche Freiheit nach dem Willen der Verfassung die Regel sein solle und Einschränkungen dieser Freiheit nur dann verfassungsgemäß sind, wenn und soweit sie durch Gesetz, das heißt: durch ein in jeder Hinsicht verfassungsgemäßes Gesetz vermittelt werden, hilft hier nur bedingt weiter. Die Frage ist vielmehr, wie weit die Kognitionskompetenz des BVerfG im Verfassungsbeschwerdeverfahren reichen soll (s. dazu näher

Rn 241 ff

): „Die Rundumkontrolle ist Sache anderer Verfahren, der abstrakten Normenkontrolle nämlich und der Richtervorlage. Gegenstand und Maßstab der Verfassungsbeschwerde hingegen sind allein die Grundrechte. Und wenn diese Begrenzung Sinn machen soll, muss es eine Grundrechtsprüfung geben, die nicht auch das rein objektive Verfassungsrecht (hier: die Kompetenzvorschriften) einbezieht.“






c) „Ausbau“ des Art. 38 GG zum „Anspruch auf Demokratie“



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Zu hinterfragen ist auch der in den letzten Jahren konsequent betriebene

Ausbau des

Art. 38 GG

 zum „Anspruch des Bürgers auf Demokratie“

 (BVerfGE 129, 124, 169; seit BVerfGE 135, 317, 386 nur noch in Anführungszeichen), der in der Maastricht-Entscheidung bereits angedeutet (BVerfGE 89, 155, 171 f), in der Lissabon-Entscheidung expliziert (BVerfGE 123, 267, 330 u. 331), im EFS-Urteil gegen Kritik verteidigt (BVerfGE 129, 124, 168 f) und in der Einstweiligen Anordnung zum ESM-Vertrag (BVerfGE 132, 195, 238), im OMT-Beschluss (BVerfGE 134, 366, 396 f), im ESM-Urteil (BVerfGE 135, 317, 386), im OMT-Urteil (142, 123, 219) und im Urteil zur Europäischen Bankenunion (BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nrn 92 u. 205 f) bekräftigt wurde.



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Die gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon erhobenen Verfassungsbeschwerden erachtete das BVerfG für zulässig, „soweit mit ihnen auf der Grundlage von

Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG

 eine Verletzung des Demokratieprinzips, ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips gerügt wird“ (BVerfGE 123, 267, 328): Die Wahlberechtigten besäßen nach dem Grundgesetz das Recht, „über die Ablösung des Grundgesetzes ‚in freier Entscheidung‘ zu befinden“.

Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG

 gewährleiste „das Recht, an der Legitimation der verfassten Gewalt mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt“ (BVerfGE 123, 267, 331 f).



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Mit gewisser Konsequenz wird nun geltend gemacht, dass das so verstandene Recht jedes wahlberechtigten Bürgers auf

Teilhabe an der verfassungsgebenden Gewalt

 aus

Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG

 iVm

Art. 146 GG

 bei

jeder

 Verletzung des

Art. 79 Abs. 3 GG

 verletzt sein müsse, da der verfassungsändernde Gesetzgeber damit in verfassungswidriger Weise in die verfassungsgebende Gewalt eingreife: „Führt man den systematischen Ansatz des BVerfG zu Ende, dann kann daher unter Berufung auf

Art. 38 Abs. 1 GG

 jede Verletzung der Schutzgüter des

Art. 79 Abs. 3 GG

 mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden – nicht nur die Verletzung des Demokratieprinzips, sondern auch die Verletzung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien.“ Wortlaut und Gewährleistungsgehalt des

Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG

 werden auch dann gründlich überdehnt, wenn das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nur zum „Anspruch auf Demokratie“ im Sinne eines Schutzes vor Berührung der nach

Art. 79 Abs. 3 GG

 verfassungsänderungsfesten demokratischen Grundsätze und gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die Europäischen Organe (so zuletzt BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nr 92) ausgebaut wird. Auch die normative Verankerung dieses bürgerexklusiven Anspruchs in der Würde des Menschen (BVerfGE 123, 267, 341; 129, 124, 169) wirft Fragen auf.



§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick





III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick



§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze

 › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 1. Organstreitverfahren






1. Organstreitverfahren



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Gemäß

Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG

 entscheidet das BVerfG „über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses GG oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.“ Der Gesetzgeber hat diese Zuständigkeit zur Entscheidung anlässlich solcher „Streitigkeiten“ als kontradiktorisches

Organstreitverfahren

 ausgestaltet (

§§ 13 Nr 5

,

63–67 BVerfGG

): Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung und die im GG oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten „Teile“ wie bspw Fraktionen (

§ 63 BVerfGG

) können sich in diesem Verfahren, dessen Gegenstand regelmäßig hochpolitische Fragen sind, gegen eine Verletzung ihrer Rechte durch eine Maßnahme oder pflichtwidrige Unterlassung des Antragsgegners zur Wehr setzen (<a href="#ulink_adaf5a8b-6a29-5da7-ae4b-04139