Verfassungsprozessrecht

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3. Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren

75

In Art. 93 Abs. 1 Nr 2a und in Art. 93 Abs. 2 GG sind zwei prozessrechtliche Sonderfälle der abstrakten Normenkontrolle geregelt, die materiellrechtlich als Spezialformen des Bund-Länder-Streitverfahrens verstanden werden können[14]. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG entscheidet das BVerfG bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes (Kompetenzkontrollverfahren). Der Prüfungsmaßstab dieses Verfahrens ist enger, der Kreis der Antragsberechtigten weiter als bei der abstrakten Normenkontrolle. Dadurch wird die Stellung der Landesparlamente, um deren Gesetzgebungskompetenzen es ja geht, gegenüber der jeweiligen Exekutive gestärkt[15]. Die Entscheidungswirkungen sind identisch: Ein nicht (mehr) im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird vom BVerfG gem. § 78 BVerfG für nichtig erklärt.

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Nach Art. 93 Abs. 2 GG entscheidet das BVerfG auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 GG die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden könnte (Kompetenzfreigabeverfahren). Durch dieses Verfahren wird den Ländern die Möglichkeit eröffnet, das BVerfG anzurufen, wenn entsprechende Bundesgesetze nicht zustandekommen: Die Entscheidung des BVerfG ersetzt entsprechende Bundesgesetze gem. Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG.[16]

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Da Rechtsprechung (vgl zB BVerfGE 107, 133, 142 ff) und Literatur[17] davon ausgehen, dass Rechtsnormen nachträglich unwirksam werden können, ergeben sich Überschneidungen dieses Verfahrens mit dem Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG: Ein nicht mehr im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird verfassungswidrig und kann in diesem Verfahren für nichtig erklärt werden, so dass der Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG die Anwendung des Art. 93 Abs. 2 GG in der Praxis vielfach verdrängen wird. Der eigentliche Anwendungsbereich des Kompetenzfreigabeverfahrens sind die Bundesgesetze, die auf Grund des Art. 72 Abs. 2 GG in der bis zum 15. November 1994 geltenden Fassung erlassen wurden und der damaligen Bedürfnisklausel entsprachen: Sie wurden gem. Art. 125a Abs. 2 S. 1, 2 GG durch die „Verschärfung“ des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahr 1994[18] nicht verfassungswidrig, sondern gelten bis zu einer bundesgesetzlichen „Freigabe“ weiter[19]. Erfolgt diese nicht, kann sie nur durch eine Entscheidung des BVerfG nach Art. 93 Abs. 2 GG ersetzt werden.

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 4. Bund-Länder-Streitverfahren

4. Bund-Länder-Streitverfahren

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Zuständig ist das BVerfG gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG auch für die Entscheidung über die Rechte und Pflichten von Bund und Ländern. Der Gesetzgeber hat als Antragsteller und Antragsgegner im Bund-Länder-Streitverfahren nur Bundes- und Landesregierungen, jeweils „für den Bund“ oder „für ein Land“ zugelassen (§ 13 Nr 7 BVerfGG, § 68 BVerfGG). Im Übrigen verweist er auf die Regelungen für das Organstreitverfahren (§ 69 iVm §§ 64–67 BVerfGG). Daraus ergibt sich, dass auch hier „Meinungsverschiedenheiten“ nicht ausreichen, sondern dass der Antragsteller die Möglichkeit der Verletzung oder unmittelbaren Gefährdung seiner Rechte, die zugleich Pflichten sind, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners dartun muss.

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 5. Weitere föderative Streitigkeiten

5. Weitere föderative Streitigkeiten

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Gleich mehrere Zuständigkeiten werden dem BVerfG in Art. 93 Abs. 1 Nr 4 GG zugewiesen. Es soll entscheiden über „andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten“ zwischen Bund und Ländern (1. Variante, nichtverfassungsrechtliches Bund-Länder-Streitverfahren), zwischen verschiedenen Ländern (2. Variante, Länder-Streitverfahren) oder innerhalb eines Landes (3. Variante, Landesstreitigkeit) – dies aber nur, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist. Die Subsidiaritätsklausel (die sich auf alle drei Varianten bezieht) hat eine doppelte Stoßrichtung: Eine Entscheidung des BVerfG in einer der genannten Verfahrensarten kommt nicht in Betracht, wenn die Zuständigkeit des BVerfG anderweitig begründet ist. Sie kommt auch nicht in Betracht, wenn die Streitigkeit durch Gesetz einem anderen Gericht – in erster Linie die Landesverfassungsgerichte, aber auch die Verwaltungsgerichte – zugewiesen ist.

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Die praktische Bedeutung der in Art. 93 Abs. 1 Nr 4 GG geregelten Entscheidungszuständigkeiten des BVerfG ist darum gering (vgl etwa BVerfGE 109, 275, 279; 111, 286, 288). Es handelt sich um eine ruhende Kompetenz, die ua die Landesverfassungsgerichtsbarkeit aktivieren soll. Der Gesetzgeber hat die Zuständigkeiten weiter ausgestaltet (§ 13 Nr 8, 71–72 BVerfGG). Dort finden sich Regelungen über die Parteifähigkeit in den drei genannten kontradiktorischen Streitverfahren. Antragsteller und Antragsgegner können im nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streitverfahren Bundesregierung und die Landesregierungen (§ 71 Abs. 1 Nr 1 BVerfGG), im Länderstreit die Landesregierungen (§ 71 Abs. 1 Nr 2 BVerfGG), im Landesstreit die obersten Organe des Landes oder die in der Landesverfassung oder in der Geschäftsordnung eines obersten Organs des Landes mit eigenen Rechten ausgestatteten Organteile sein (§ 71 Abs. 1 Nr 3 BVerfGG). Ein wichtiger Anwendungsfall für das nichtverfassungsrechtliche Bund-Länder-Streitverfahren sind Streitigkeiten um Rechte aus dem Einigungsvertrag (vgl BVerfGE 95, 250, 266).

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 6. Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde

6. Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde

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In Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG findet sich das „Flaggschiff“ des BVerfG, die Zuständigkeit zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden. Antragsberechtigt ist „jedermann“, der behaupten kann, durch die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebundene öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte, die sich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes finden (Art. 1–19 GG), oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Der Gesetzgeber hat das Individualverfassungsbeschwerdeverfahren näher ausgestaltet (§§ 13 Nr 8a, 90, 92–95 BVerfGG). Er hat dabei von der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG Gebrauch gemacht und ein besonderes Annahmeverfahren vorgesehen (§§ 93a–93d BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist fristgebunden (§ 93 BVerfGG); zulässig ist sie nur dann, wenn nicht von vornherein auszuschließen ist, dass der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte oder der sonst rügefähigen Rechte verletzt ist (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Grundsätzlich muss der Beschwerdeführer, bevor er das BVerfG anruft, vor den Fachgerichten ordnungsgemäß, aber erfolglos um Grundrechtsschutz nachgesucht haben (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).

 

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Eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde endet mit einem Feststellungstenor (§ 95 Abs. 1 BVerfGG); Entscheidungen von Gerichten und Behörden, die den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzen, werden aufgehoben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Da zur öffentlichen Gewalt auch der Gesetzgeber zählt und eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung auch deshalb Grundrechte verletzen kann, weil sie auf einem grundrechtswidrigen Gesetz beruht, besteht auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Möglichkeit, ein Gesetz für nichtig zu erklären (§ 95 Abs. 3 BVerfGG).

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Die Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtssatzverfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen der Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts (Art. 28 Abs. 2 GG) durch ein Bundes- oder Landesgesetz ist dem BVerfG in Art. 93 Abs. 1 Nr 4b GG zugewiesen. Für Kommunalverfassungsbeschwerden gegen Landesgesetze ist das BVerfG nur zuständig, soweit nicht Beschwerde zum Landesverfassungsgericht erhoben werden kann. Regelungen über das Verfahren finden sich in den §§ 13 Nr 8a, 90 Abs. 2, 91–95 BVerfGG.

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 7. Nichtanerkennungsbeschwerde

7. Nichtanerkennungsbeschwerde

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Seit 2012 begründet Art. 93 Abs. 1 GG in Nr 4c auch die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über „Beschwerden von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag“. Im 17. Abschnitt des BVerfGG finden sich ergänzende Regelungen (§§ 96a–96d BVerfGG).[20] Sie zeigen, dass es sich bei der Nichtanerkennungsbeschwerde um ein „besonders beschleunigt zu betreibendes Hauptsacheverfahren“[21] handelt: Vereinigungen und Parteien, denen die Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei nach § 18 Abs. 4 BWG versagt wurde, haben nach der mündlichen Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung in der Sitzung des Bundeswahlausschusses vier Tage Zeit, dagegen Beschwerde zu erheben und diese bestmöglich[22] zu begründen. Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, dem Bundesverfassungsgericht eine Frist für seine Entscheidung vorzugeben, da er davon ausging, dass das Gericht auch ohne eine solche „innerhalb des Zeitraums, den das Wahlverfahren für die Korrektur der Entscheidung des Bundeswahlausschusses zur Parteieigenschaft lässt, effektiven Rechtsschutz gewähren“ werde[23], wozu es nach Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet ist.

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Das Zeitfenster, das für das Verfahren zur Verfügung steht, ist aus wahlorganisatorischen Gründen ausgesprochen kurz: Nach § 18 Abs. 4 S. 1 BWG muss der Bundeswahlausschuss die den Beschwerdegegenstand bildende Entscheidung spätestens am 79. Tage vor der Wahl getroffen haben, und die beschwerdeführende Partei oder Vereinigung ist nach § 18 Abs. 4a S. 2 BWG längstens bis zum Ablauf des 59. Tages vor der Wahl wie eine wahlvorschlagsberechtigte Partei zu behandeln. Somit stehen für das gesamte Verfahren nur 20 Tage zur Verfügung, dem Bundesverfassungsgericht wegen der sehr kurz bemessenen Antragsfrist mindestens 16[24]. Es kann im Interesse der Verfahrensbeschleunigung ohne mündliche Verhandlung entscheiden und seine Entscheidung auch zunächst ohne Begründung bekannt geben („bloße Tenorverkündung“), was sonst nur im Verfahren der einstweiligen Anordnung möglich ist, deren Erlass hier ausgeschlossen ist, da für sie vor dem zeitlichen Hintergrund dieses besonders beschleunigten Verfahrens „weder Raum noch Bedürfnis“ besteht.[25]

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Als unzulässig „verworfen“ wird eine Nichtzulassungsbeschwerde u.a. dann, wenn die Beschwerdeführerin die Teilnahme an der Wahl (auch) aus anderen Gründen nicht mehr erreichen kann (BVerfGE 134, 122, 123). Nicht gesetzlich geregelt ist, wie der Tenor im Falle einer begründeten Beschwerde lautet. Der Gesetzgeber, der das Verfahren als Möglichkeit beschreibt, das Bundesverfassungsgericht zur „Klärung [d]es Parteienstatus“ anzurufen[26], ging wohl davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht im Erfolgsfalle nicht nur die Entscheidung des Bundeswahlausschusses aufhebt, sondern die begehrte Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei gleich selbst ausspricht, wie es das Bundesverfassungsgericht bereits getan hat (BVerfGE 134, 124) und was die Literatur mehrheitlich für richtig hält.[27]

87

Eingeführt wurde das Verfahren zur Schließung einer schon seit längerer Zeit beklagten[28] und auch von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in ihrem Bericht zur Bundestagswahl 2009 beanstandeten[29] Rechtsschutzlücke: Nach bisherigem Recht und der bisherigen Rechtsprechung[30] konnten Entscheidungen des Bundeswahlausschusses nach § 18 Abs. 4 BWG – anders als andere Entscheidungen der Wahlbehörden – erst nach der Wahl mit der Wahlprüfungsbeschwerde (und daher nur eingeschränkt, siehe Rn 934 ff), aber nicht im Vorfeld derselben gerichtlich überprüft werden.

88

Soweit Kritik an dem Verfahren geübt wird (vgl dazu auch Rn 981 ff), betrifft sie hauptsächlich die Frage, ob das Verfahren, in dem das Bundesverfassungsgericht in erster Linie als Tatsacheninstanz tätig wird, wie schon die zwölf Beschlüsse vom 23. Juli 2013 in aller Deutlichkeit belegen[31], „nicht doch besser bei den Verwaltungsgerichten aufgehoben gewesen wäre“[32], vorzugsweise – wie schon früher vorgeschlagen[33] – beim BVerwG. Am 25. Juli 2017 hat das BVerfG weitere sieben Nichtanerkennungsbeschwerden verworfen, sechs davon als unzulässig, eine als jedenfalls unbegründet.[34]

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 8. Weitere im Grundgesetz geregelte Zuständigkeiten

8. Weitere im Grundgesetz geregelte Zuständigkeiten

89

Art. 93 Abs. 1 Nr 5 GG verweist auf „die übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fälle“. Einen guten Überblick darüber, um welche Fälle es sich hier handelt, gibt der Katalog des § 13 BVerfGG[35]. Zu nennen sind beispielsweise das Parteiverbotsverfahren (Art. 21 Abs. 2 GG, § 13 Nr 2 BVerfGG) und das Verfahren über den Ausschluss von Parteien von staatlicher Finanzierung (Art. 21 Abs. 3 GG, § 13 Nr 2a BVerfGG)[36], die Präsidentenanklage (Art. 61 GG, § 13 Nr 4 BVerfGG), vor allem aber die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Bundes- oder Landesgesetzes mit dem GG auf Vorlage eines Gerichts (Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr 11 BVerfGG). Der Gesetzgeber hat das in der Praxis sehr bedeutsame konkrete Normenkontrollverfahren in den §§ 80–82 BVerfGG näher ausgestaltet, wobei in § 82 Abs. 1 BVerfGG die entsprechende Anwendung der für das abstrakte Normenkontrollverfahren geltenden §§ 77–79 BVerfGG angeordnet wird.

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 9. Einfachgesetzlich geregelte Zuständigkeiten

9. Einfachgesetzlich geregelte Zuständigkeiten

90

Aus Art. 93 Abs. 3 GG ergibt sich, dass der Bundesgesetzgeber dem BVerfG weitere Zuständigkeiten zuweisen kann. Das ist beispielsweise geschehen durch § 36 Abs. 2 PUAG (§ 13 Nr 11a BVerfGG, Verfahrensregelungen finden sich in 82a BVerfGG). Bedeutsam ist auch die Zuständigkeit des BVerfG zur Entscheidung über das Verbot der Ersatzorganisation einer verbotenen Partei (§ 33 Abs. 2 PartG). Eher exotisch, aber bereits einmal relevant geworden ist die in § 24 des Gesetzes über das Verfahren bei Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung nach Art. 29 Abs. 6 des Grundgesetzes vom 30. Juli 1979 (BGBl I, 1317) geregelte Zuständigkeit des Zweiten Senats des BVerfG zur Entscheidung über Beschwerden gegen die Ablehnung oder die Zulassung von Anträgen auf Durchführung eines Volksbegehrens (vgl BVerfGE 96, 139 ff).

91

Neu hinzugekommmen sind in den letzten Jahren ua die Verzögerungsrüge, mittels derer Verfahrensbeteiligte nun auch eine etwaige überlange Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht rügen können, und die anschließend zu erhebende Verzögerungsbeschwerde, über die die aus zwei Richtern des Bundesverfassungsgerichts bestehende Beschwerdekammer entscheidet und die, soweit sie zulässig und begründet ist, Entschädigung und Wiedergutmachung zuspricht (§§ 97a–97e BVerfGG).[37] Ferner wurde 2013[38] der Rechtsschutz in Wahlsachen bei der Europawahl dahingehend angeglichen, dass auch gegen die Zurückweisung von Wahlvorschlägen zur Europawahl wegen fehlenden Vorschlagsrechts gem. § 14 Abs. 4a S. 1 EuWG die Nichtanerkennungsbeschwerde zum BVerfG eröffnet ist.[39] Der 2017 neu eingeführte § 17a Abs. 4 BVerfGG schließlich eröffnet Betroffenen die Möglichkeit, gegen die in § 17a BVerfGG vorgesehenen Anordnungen des Vorsitzenden den Senat anzurufen. In der Literatur wird mit Recht vorgeschlagen, die Anrufung des Senats auch zur Überprüfung sitzungspolizeilicher Maßnahmen und der Entscheidung von Akteneinsichtsgesuchen zuzulassen.[40]

92

Die Ermächtigung des Art. 93 Abs. 3 GG ist zwar nicht auf die Zuweisung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten beschränkt (offen BVerfGE 31, 371, 377). Man wird jedoch aus den Art. 92, 95 und 99 GG schließen können, dass der Bundesgesetzgesetzgeber dem BVerfG weder die letztinstanzliche Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten am Maßstab des einfachen Rechts noch Landesverfassungsstreitigkeiten zuweisen darf[41].

 

93

Auch der Landesgesetzgeber kann dem BVerfG Zuständigkeiten zuweisen. Grundlage hierfür ist Art. 99 GG (1. Alt.). Die Vorschrift ermöglicht es den Ländern, auf die Einrichtung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit zu verzichten und dem BVerfG die Entscheidung landesrechtlicher Verfassungsstreitigkeiten zuzuweisen. Von dieser Möglichkeit hatte Schleswig-Holstein bis 2008 Gebrauch gemacht (s. dazu Rn 1101 und zuletzt BVerfGE 120, 82 ff). Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht „als Landesverfassungsgericht“ (BVerfGE 102, 82, 101) ist in §§ 73–75 BVerfGG näher geregelt[42]. Gegenwärtig ist es praktisch bedeutungslos.

94

Literatur:

H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 13 Vorb; ders., Verfahrenskonkurrenzen beim Bundesverfassungsgericht. Überschneidungen und Verbindungen von Verfahrensarten, Jura 1997, 591; S. Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 93; A. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93; W. Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III (32005), § 70; C. Möllers, Funktionen des Verfassungsprozessrechts. Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Verfahrensrecht und materiellem Recht, in: GS Heun, 149 ff; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 93; C. Walter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93.

Anmerkungen

[1]

Zum Begriff der „rechtsprechenden Gewalt“ umfassend C. Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 92 Rn 8 ff.

[2]

Zu den Entscheidungswirkungen Rn 12 ff; H.P. Aust/F. Meinel, JuS 2014, 25–27 und umfassend K. Schlaich/S. Korioth, Das BVerfG, Rn 475 ff.

[3]

§ 97 BVerfGG aF, s. dazu die Erläuterungen bei W. Geiger, BVerfGG, § 97.

[4]

Näher dazu W. Heyde, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 97 Rn 1 ff.

[5]

S. Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 93 Rn 31.

[6]

AA H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG, Vor § 63 Rn 6 m. Fn 11.

[7]

S. zum Verhältnis von Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 140 GG iVm Art. 139 WRV am Beispiel der Ladenschlussentscheidung (BVerfGE 125, 39–103) näher C. Goos, StudZR 2010, 477 ff.

[8]

Zutr. H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Vorb Rn 145.

[9]

C. Pestalozza, Die echte Verfassungsbeschwerde (2007), 22.

[10]

Ähnliche Begriffsprägungen bereits bei K.F. Gärditz/C. Hillgruber, JZ 2009, 872; Isensee, ZRP 2010, 33, 34; C. Calliess, Staatsrecht III, Rn 73.

[11]

Nach M. Jestaedt, Der Staat 48 (2009), 497, 503 m. Fn 32 wagt sich der Senat in den Zulässigkeitserwägungen der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267 ff) „bis zur Grenze der Selbstpersiflage“ vor.

[12]

D. Murswiek, JZ 2010, 702, 708.

[13]

Krit. auch H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rn 112; krit. zur Preisgabe von Prozessrechtsgrundsätzen zur Sicherung des eigenen Einflusses O. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn 565; auf der Linie des BVerfG dagegen bspw H. Grefrath, AöR 135 (2010), 221 ff; K.F. Gärditz/C. Hillgruber, JZ 2009, 872 f; A. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn 483.

[14]

Vgl dazu A. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn 331.

[15]

A. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn 332; vgl auch L. Renck, JuS 2004, 770 ff.

[16]

Kritisch dazu A. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn 345 mwN.

[17]

H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn 153 mwN.

[18]

42. Gesetz zur Änderung des GG vom 27.10.1994, BGBl. I, 3156; s. dazu und zu der erneuten Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG durch die Föderalismusreform 2006 A. Uhle, in: Kluth, Föderalismusreformgesetz, Art. 72 GG Rn 1 ff mwN.

[19]

S. dazu A. Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 125a Rn 19 ff.

[20]

Siehe dazu ausf. L. Bechler, in: Barczak, BVerfGG, §§ 96a–d.

[21]

C. Lenz/R. Hansel, BVerfGG, § 96a Rn 10.

[22]

Dass das BVerfG die Substanziierungsanforderungen angesichts der sehr knappen Beschwerdefrist nicht „überspannen“ darf, betonen mit Recht L. Bechler/S. Neidhardt, NvWZ 2012, 1438, 1439.

[23]

BT-Drs. 17/9391, 11.

[24]

C. Lenz/R. Hansel, BVerfGG, § 96a Rn 10.

[25]

BT-Drs. 17/9391, 11.

[26]

BT-Drs. 17/9392, 4 sub II.

[27]

L. Bechler/S. Neidhardt, NVwZ 2012, 1438, 1442; H. A. Wolff, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 93 Rn 34; aA S. Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 93 Rn 104d.

[28]

Statt aller: F. Shirvani, Parteienrecht, 173–175 mwN.

[29]

Vgl BT-Drs. 17/9392, 4.

[30]

Vgl aber BVerfG NVwZ 2012, 161, 162, die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Nichtzulassungsentscheidung im Vorfeld der Wahl offen lassend; s. dazu C. Lenz/R. Hansel, BVerfGG, § 96a Rn 3.

[31]

Vollständige Auflistung derselben bei L. Bechler/S. Neidhardt, NvWZ 2012, 1438 m. Fn 1.

[32]

J. Krüper, JuWissBlog vom 1.8.2013, http://www.juwiss.de/2013-7/.

[33]

F. Shirvani, Parteienrecht, 175 m. Fn 213 u. 214.

[34]

BVerfG, 2 BvC 1 bis 7 vom 27.7.2019.

[35]

Durch § 13 BVerfGG sollen dem BVerfG keine Zuständigkeiten übertragen werden; mit ihm ist „nur eine Zusammenstellung der auf anderen Vorschriften beruhenden Zuständigkeiten bezweckt“ (BVerfGE 1, 184, 191).

[36]

Zu diesem Verfahren ausf. T. Barczak, in: Barczak, BVerfGG, § 46a.

[37]

Vgl etwa BVerfG-Beschwerdekammer, 2 BvR 289/10 – Vz 10/16 vom 22.3.2018, Abs.-Nr 7 ff – Zurückstellung einer Verfassungsbeschwerde mit Blick auf die vorrangige Behandlung von Pilotverfahren gerechtfertigt; Dauer der Pilotverfahren von ca. sechs Jahren und vier Monaten mit Blick auf die hohe Belastung des Berichterstatterdezernats mit umfangreichen und arbeitsaufwendigen steuerrechtlichen Verfahren im Ergebnis nicht zu beanstanden. Zur Verfahrensart näher O. Klein, in: Benda/Klein, Rn 1288–1312; C. Lenz/R. Hansel, BVerfGG, § 97a–97d; C. Schmalz, in: Barczak, BVerfGG, §§ 97a–e; T. Barczak, AöR 138 (2013), 536–583. Einen guten Überblick über die Änderungshistorie des BVerfGG bietet T. Barczak, in: Barczak, BVerfGG, Einl Rn 98–131.

[38]

BT-Drs. 17/13705.

[39]

Siehe dazu L. Bechler/S. Neidhardt, NVwZ 2012, 1438, 1442. Die ersten drei Beschlüsse (2 BvC 1, 2 und 3/14, sämtlich unzulässig) datieren vom 1. April 2014; am 27. März und am 26. April 2019 wurden zwei weitere Nichtanerkennungsbeschwerden als unzulässig verworfen (2 BvC 23/19 und 26/19).

[40]

T. Barczak, in: Barczak, BVerfGG, Einl Rn 45.

[41]

Enger A. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn 575: nur verfassungsrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinne.

[42]

S. dazu näher F. Schorkopf, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 73 ff u. 73–75.