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Christian Klinger ~ Das Pfand an meiner Hand

Christian Klinger

Das Pfand an meiner Hand

Oder: Die üblichen Verdächtigen

» W as machst du da? Ich hab glaubt, du kannst heute nicht?«

»Psst, nicht dass dich wer hört. Merk dir, du hast mich heute nicht gesehen, egal, wer danach fragt. Ich war nicht hier. Ist das klar?«

Es gibt Tage, die sind flaumig und locker wie frisch geschlagener Eischnee, die Luft schmeckt nach pudrigem Staubzucker und das Vertrauen in die Welt ist größer als notwendig, Leichtsinn sei dein Name.

Franz Kautela fühlte sich unbeschwert und heiter, als er seinen Sohn abholte. Die beiden hatten sich fast drei Monate nicht mehr gesehen, weswegen zugleich eine schwache Spannung an Kautelas Gefühlswelt zog. Anfänglich wirkte der Junge scheu, doch das Eis war schnell gebrochen, kaum dass sie auf dem Sportplatz waren. Für Buben in seinem Alter war Fußball einfach das Größte, und Stefan war da keine Ausnahme.

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Nach dem Match, das der Sportklub leider wieder einmal verloren hatte, wanderte der Vater mit seinem Sohn ein paar Schritte weiter und kehrte in seinem Stammlokal ein. Eine einfache Hütte in der ehemaligen Vorstadt, nun inmitten einer zugewachsenen Wohnallee. Ebenso schnörkellos die Küche: Hausmannskost, erweitert durch ein Heurigenbuffet.

Beide tafelten ordentlich, die Frühlingsluft, die jetzt mit dem Einsetzen der Dämmerung wieder schneidend kalt geworden war und Wangen und Ohren zum Leuchten brachte, förderte den Appetit. Der Bub schnabulierte mit großen, wachen Augen die flaumigen Palatschinken, der Vater sprach diesmal auch dem Wein etwas stärker zu als sonst, denn das Auto stand mit einem Wasserpumpendefekt in der Werkstatt. Die einbrechende Dunkelheit schwemmte weitere Gäste in die Schenke, dunkle Gestalten, unrasiert, mit zerfurchten Gesichtern, die wirkten, als würde ihr Tagwerk erst nachts beginnen.

»Trink aus!«, ermahnte Kautela seinen Sohn und winkte nach der Bedienung.

Der Bursche kam mit dem Rechnungsblock und begann die Positionen zu addieren.

»Die Gerti ist heut gar nicht da?«

Der Bursche setzte den Stift ab, verzog den Mund, weil er von der Frage in seiner Rechnung gestört worden war, und begann von neuem, Ziffern vor sich hin zu murmeln, bis er ein Ergebnis notieren konnte. Er steckte den Stift in die aufgenähte Tasche an seiner Kellnerschürze und sagte: »Nein, die Chefin hat heut keine Zeit. Ich muss aushelfen. Macht vierundvierzig zwanzig der Herr.«

Kautela holte seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Er klappte sie auf, blickte lange in das Innere, bis er leise sagte: »Komisch, ich war mir sicher, dass ich noch einen Hunderteuroschein eingesteckt hatte.«

Der Kellner rollte die Augen zur Decke, während einer von den Neuankömmlingen nach ihm winkte. Er klopfte mit dem Fuß auf den Boden und seufzte. Dass immer ihm das passieren musste.

Kautela lächelte und meinte, dass er nur schnell Geld holen wolle, um die Zeche zu bezahlen.

»Lassen Sie mir den Autoschlüssel da«, sagte der Kellner, während die Männer am Tisch neben der Eingangstüre, die nun zu viert waren, bereits lautstark nach der Bedienung riefen.

»Ich bin heute nicht mit dem Wagen gekommen, aber ich bin ein Stammgast, ich komme öfter her. Es dauert nicht lange.«

Der Kellner rechnete schnell nach. Wenn der Typ abhaute und er auf der Rechnung sitzenblieb, kostete ihn das ungefähr seine Tagesgage. Darauf hatte er keine Lust. Er deutete den ungeduldigen Gästen beim Eingang, dass er gleich komme, dann blieb sein Blick auf Stefan ruhen. »Dann soll er hier mit mir warten.«

Kautela legte die Hand auf die Schulter des Knaben, dieser zuckte zusammen, und der Vater flüsterte ihm zu: »Mach dir keine Sorgen, ich bin gleich zurück.«

Dantlinger hatte einen Knödel im Hals, als dieses widerliche, eklige Plastikding in seinem Schlund verschwand. Die Sonde war auf der Reise. Doc an Eingeweide: Bitte kommen. Der Würgereiz ließ sich kaum unterdrücken. Es reckte ihn, während das Kameraauge tiefer in sein Inneres vordrang. Zum Glück hatte er sich diesmal an die Vorgaben seines Arztes gehalten, auch wenn absolute Nüchternheit für ihn sonst eher eine andere Bedeutung hatte. Dr. Reithmayr hatte ihn am Vorabend aufgenommen, damit er auch ja nicht sündigen konnte. Das machte sich nun bezahlt, denn die Krankenpfleger waren alles andere als begeistert, wenn ihnen ein Patient den Untersuchungsraum vollkotzte. Dantlinger versuchte sich abzulenken, indem er an angenehme Dinge dachte, doch etwas anderes als ein frisch gezapftes Bier kam ihm nicht in den Sinn.

Wie lange dauerte diese Folter denn noch? Die Minuten zogen sich wie die Monate der Polarexpedition ins damals noch unbekannte Franz-Josef-Land. Wollte der Internist mit diesem Röhrl eine neue Spezies in seinem Darm entdecken?

Irgendwann war die Qual ausgestanden und Dantlinger begab sich mit weichen Knien wieder auf sein Zimmer. Er ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Sein Handy war auf lautlos gestellt und zeigte zwei entgangene Anrufe.

Am späten Nachmittag kam der Arzt zu Dantlinger, dem die Schwester zuvor etwas Schonkost serviert hatte. »Wenn Sie wollen, können Sie sich jetzt anziehen und wieder nach Hause gehen«, sagte der schlanke Mittvierziger im weißen Mantel.

»Und, was ist?«, wollte Dantlinger wissen.

»Dazu ist es jetzt noch zu früh.« Der Mediziner lächelte verkrampft.

»Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst«, sagte Dantlinger. Er richtete seinen Oberkörper auf. »Jetzt, wo Sie mich eh schon gefoltert ham, wollen S’ mich noch einmal auf die Folter spannen?«

Die Gesichtszüge des Arztes entspannten sich und er schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht, aber für eine genaue Diagnose ist es noch zu früh. Aber mit einem Polizisten will ich mich natürlich nicht anlegen.«

Dantlinger wehrte mit den Händen ab. »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, aber ungefähr würd ich schon gern wissen, was …« Ihm war klar, dass man es sich auch mit Ärzten nicht verscherzen durfte, letztlich saßen die nicht nur am längeren Hebel, sie durften auch von Berufs wegen die Körper der durch Drogen in den Zustand der Wehrlosigkeit versetzten Menschen mit scharfen Messern zerschnipseln.

»Schon gut«, sagte Dr. Reithmayr. »Also, so wie es aussieht, ist es bei dem Magengeschwür, das Sie sich aufgerissen haben, kein Wunder, wenn Sie ständig Schmerzen und Übelkeit plagen. Sie sollten unbedingt Kaffee, Zigaretten und Alkohol meiden. Vor allem kaltes Bier.«

Dantlinger ließ sich auf das Bett zurückfallen. Sein Belohnungsszenario für die Strapaz der Untersuchung hier war eben zusammengefallen wie frischer Bierschaum.

Wenig später stand er auf der Hernalser Hauptstraße und schloss seine Jacke. Die späten Nachmittage waren noch kalt, zudem blies ihm eine steife Brise zweifach entgegen: der zwischen Heuberg und Schafberg einfallende Westwind und der Gegenwind des Lebens. Nach dem Verkehrspsychologen hatte ihm nun auch der Arzt dringlich empfohlen, die Finger vom Alkohol zu lassen. Dantlinger suchte die nächste Straßenbahnstation. Gute dreihundert Meter vom Krankenhaus entfernt war das Schild mit dem Häuschen zu erkennen und Dantlinger blickte dem silbernen Niederflurwagen mit dem roten Streifen nach, der in Richtung Innenstadt davonfuhr. Er holte sein Handy hervor und wollte Gubitzer anrufen, um sich von einer Funkstreife abholen zu lassen. Auf dem Display sah er, dass dieser ihm schon zuvorgekommen war.

»Was wolltest du«, fragte er, als Besagter sich meldete, »Taxi spielen?«

»Nein, Major«, erwiderte der Revierinspektor. »Du bist doch beim Göttlichen Heiland in Dornbach?«

»Gott sei Dank schon wieder draußen, warum?«

»Weil da ganz in der Nähe was passiert sein dürfte. Ein Kind ist gestern Abend verschwunden, bei so einem Heurigen auf der Alszeile.«

Dantlinger nickte, was Gubitzer aber nicht sehen konnte. Er fragte nach: »Kennst du das Lokal?«

Dantlinger kannte es, so wie er die meisten Schenken dieser Stadt kannte, davon konnte sein rebellischer Magen ein Klagelied singen. »Ja, schon, aber was geht das uns an? Das ist doch Sache des hiesigen Wachzimmers.«

»Da hast du natürlich recht, aber der Sparstift der Innenministerin … Eigentlich gibt’s des gar nimmer, die Kollegen dort machen nur mehr so was wie einen Journaldienst, außerdem fürchten sie, dass dem Kind was passiert sein könnte. Und ich hab mir gedacht, wenn du eh in der Gegend bist, kannst du ja …«

»Hast du dir gedacht?« Dantlingers Ärger klang in seiner Stimme mit, dabei war er schon in die Güpferlingstraße eingebogen. Arbeit schien ihm die beste Therapie, um ihn von seinen gesundheitlichen Problemen abzulenken. An der nächsten Ecke sah er schon das grüne Schild über dem Eingang, der in den geschotterten Gastgarten führte. Dahinter der bungalowartige, leicht verwinkelte Bau. Daneben Einfamilienhäuser, zwischen die sich in den 1970ern Genossenschaftsbauten und ein Altenheim gezwängt hatten. »Heuriger auf der Als« stand inmitten des am linken und rechten Rand angebrachten Logos einer Mineralwassermarke geschrieben. Ein vereinsamter Gartenzwerg wartete in einem Beet auf Schneewittchen und Dantlinger fiel das Wagengeschirr an der Wand unterhalb eines Vogelhäuschens auf.

Wie Gubitzer es angekündigt hatte, sah er einen uniformierten Beamten, der auf ihn vor dem Eingang wartete. Dieser salutierte, als der Major sich zu erkennen gab, und schilderte ihm die Vorkommnisse des Vorabends, soweit sie der Polizei bekannt waren: »Also ein Vater ist da gestern mit seinem Sohn eingekehrt. Als es ans Zahlen ging, hat der Vater festgestellt, dass er kein Geld mithat, will eines holen, und wie er vom Bankomat zurückkommt, ist der Bub weg.«

 

»Was, er hat ihn einfach im Lokal zurückgelassen?«

»Offenbar hat es vorher einen Disput wegen der Bezahlung gegeben, und das ist auch der Punkt, in dem die Aussagen auseinandergehen.«

»Welche Aussagen? Wen haben Sie denn leicht schon einvernommen?«

Der Uniformierte blätterte in seinem Notizbuch. »Den Vater, einen gewissen Franz Kautela, die Chefin, die aber gestern nicht da war, und den Aushilfskellner, der gestern den Laden geschupft hat. Der sagt, der Bub ist einfach so abgehaut, dem Vater nach.«

»Wer hat die Anzeige gemacht?«

»Der Vater.«

»Sehen S’«, sagte Dantlinger, »wenn die einen Zechbetrug hätten machen wollen, warum ist der Vater dann zurück?«

Der Wachebeamte zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, deshalb haben wir ja Sie …«

»Schon gut, also gehen wir rein.« Sie schritten unter dem Eingangsschild hindurch. Im Garten waren erste Tische und Sitzbänke eng aneinandergerückt aufgestellt, offenbar auf jenem Fleck, der von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen beschienen wurde. Dantlingers Blick blieb oberhalb des rotbraunen Nachbarhauses hängen. Er hielt den uniformierten Kollegen am Arm zurück.

»Haben S’ des gsehn? Eine Riesenindoorplantage. Der müssen wir auch einen Besuch abstatten.« Er schüttelte den Kopf vor so viel Dreistigkeit, doch der andere Beamte lachte nur auf.

»Nein, das ist nicht so, wie Sie denken. Daneben ist eine Gärtnerei, die haben nur ein Gewächshaus auf dem Dach.«

»Wenn Sie meinen«, antwortete Dantlinger, während sich Falten auf seiner Stirn bildeten.

Sie betraten den Raum. Das letzte Mal, als Dantlinger hier abgesackt war, das war aber schon Jahre her, hingen die Rauchschwaden an der Holzdecke. Jetzt war es ein Nichtraucherlokal, zu riechen war bestenfalls der Küchenduft, eine Mischung aus geschwenkter Butter, angeschwitzten Zwiebeln, gebratenem Speck oder geröstetem Knoblauch.

Der Blick der Frau hinter der Schank verfinsterte sich, als sie den Polizisten im Eingang sah. Dantlinger zwängte sich an dem breitschultrigen Kollegen vorbei, denn es war nun seine Ermittlung geworden. Bevor er etwas sagen konnte, sprach ihn die Frau an. Sie trug halblanges, gewelltes Haar, ockerfarben und wahrscheinlich getönt, ihre Ringe unter den Augen erzählten von kurzen Nächten und die tiefe Stimme verriet, dass es auch einmal eine Zeit mit Rauch und Nikotin in dem Lokal gegeben haben musste.

»Sie kommen wegen der Gschicht mit dem Buben?«

Dantlinger nickte.

»Ich hab den andern Polizisten schon gsagt, dass ich nix sagen kann, ich war gestern ned da, da müssen S’ den ­Samo fragen.«

»Und wer ist dieser Samo und wo finden wir ihn?«, fragte Dantlinger.

»Sascha Molterer. Den finden S’ vorn am Sportklubplatz, dort ist er Platzwart. Bei mir hat er gestern erst zum zweiten Mal ausgeholfen. Wollts was trinken?«

»Gern, schöne Frau.« Dantlinger erntete für das plumpe Kompliment ein Lächeln, und wenig später standen zwei Achtel Rotwein vor den Beamten. »Und wo waren Sie gestern?«

»Ich hatte auswärts zu tun.«

»Geht’s genauer?«, fragte Dantlinger, während er einen großen Schluck vom Wein nahm. Das Bukett war blumig und rund. Dieser milde Rebensaft würde seinem Magen sicher guttun, dachte er.

»Ich war eine Tante besuchen, in Sankt Pölten, reicht das?«

»Und wenn ich das Zugticket sehen möchte?«

Die Chefin griff in ihr Portemonnaie, doch Dantlinger winkte ab.

»Schon gut, schon gut«, sagte er und stürzte den Rest des Glases hinunter.

Der andere Polizist hatte das seine noch gar nicht angerührt. Dantlingers fragendem Blick entgegnete er, dass er im Dienst sei. Also leerte Dantlinger auch noch dieses Achtel.

Er fühlte sich beschwingt, als sie Sascha Molterer aufsuchten. Der junge Mann war geschäftig und sich offenbar der Tragweite nicht bewusst, die der gestrige Vorfall hatte.

»Hören Sie, ich weiß nichts und ich hab nichts gesehen. Der Knabe war auf einmal weg und ich hab befürchtet, dass ich auf der Zeche sitzen bleib, dann ist auf einmal der Alte, also der Vater, wieder auftaucht. Ich war beschäftigt, da war so eine Partie, die waren alle sehr durstig und haben mich ständig im Kreis geschickt. Was zum Trinken, dann was zum Essen, dann wieder eine Runde Schnaps.«

»Das haben Sie aber gestern nicht zu Protokoll gegeben«, mischte sich der Polizist vom Wachzimmer ein. »Ist Ihnen vielleicht sonst noch was eingefallen?«, ätzte er.

»Na, irgendwie verschreckt war der Bub, und ich möcht meinen, ich hätte ein paar blaue Flecken an seinen Armen gesehen, aber der Vater hat ihm immer schnell die Ärmel drübergeschoben. Aber ich war zu beschäftigt, um genauer darauf zu achten.«

»Diese Partie«, übernahm Dantlinger einen anderen Gedanken, »was waren das für Leute?«

»Was weiß ich, ich war erst zum zweiten Mal dorten, aber ich glaub, das waren Fremde, also nicht von da, nicht einmal Tschu …, also Gastarbeiter.«

Dantlinger und sein Kollege zogen mit einer vagen Beschreibung der vier Männer, die auf fünfundneunzig Prozent aller Migranten in Wien zutraf, ab. Dunkler Teint, unrasiert, die Haare dunkel, die Haut auch. Naja, immerhin suchten sie nicht nach einem blonden Siegfried, von denen es in Wien aber eh so gut wie keine gab.

Dantlinger verabschiedete sich von dem uniformierten Kollegen, nachdem er sich die Adressen von Vater und Mutter des verschwundenen Buben hatte geben lassen.

Die Eltern lebten getrennt, der Vater wohnte in Währing, in der Nähe der Sternwartestraße, in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Auf dessen Gesicht legten Furchen und Falten um Augen und Wangen Zeugnis einer durchwachten Nacht voll Sorge ab.

»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich schon Ihren Kollegen erzählt habe.«

Dantlinger hatte die Personalien gelesen. Franz Kautela war nicht amtsbekannt. Sein Sohn Stefan entstammte einer außerehelichen Beziehung und der Vater hatte vergeblich um das Sorgerecht gekämpft, zuletzt aber immerhin ein Besuchsrecht erwirken können. Solche Geschichten gab es leider öfter, doch manche Väter kämpften mit allen Mitteln.

»Gab es schon eine Lösegeldforderung?« Seltsam, dass er jetzt erst danach fragte.

»Nein, bisher nicht.«

»Manchmal lassen sich Entführer auch einige Tage Zeit«, erläuterte Dantlinger, der wusste, dass die Gauner das taten, weil die späte Forderung den Opfern dann wie eine Erlösung vorkam. Er überlegte, ob der Vater hinter der Sache stecken könnte. Dagegen sprach aber massiv, dass er es war, der die Polizei eingeschaltet hatte. Aber auf Nummer sicher wollte er gehen. Er fragte: »Stört es Sie, wenn ich mich ein wenig umsehe?«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber Sie werden genau so viel finden wie Ihre Kollegen. Haben Sie das von ihr?«

»Was?«

»Hat Sie Marion aufgehetzt?«

Marion Peranek war die Kindesmutter, die im Gegensatz zu Kautela durchaus kein unbeschriebenes Blatt war. Geheimprostitution vor einigen Jahren, zuletzt leichtere Drogendelikte.

Dantlinger steckte seinen Kopf in das zweite Zimmer, wo nur ein einsamer Teddybär einen Hinweis auf ein Kind lieferte, das aber nicht da war.

»Was anderes«, wechselte der Polizist das Thema, »haben Sie die anderen Gäste beobachtet?«

»Nein, tut mir leid, aber viele Leute waren an dem Tag nicht da. Erst kurz bevor ich das Geld holen gegangen bin, sind so Typen reingekommen, die haben so gewirkt, als gehörten sie nicht hierher.« Er schloss die Augen für einen Moment, als wollte er sich die Szene in Erinnerung rufen. Dann fragte er: »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

Während Kautela den Kaffee aufsetzte, der Dantlinger dann beinah so gut schmeckte wie in seiner Lieblingsbar in Punta Sabbione, beschrieb er die Männer in etwa so wie zuvor schon »Samo« es getan hatte.

Dantlinger wurde das Gefühl nicht los, dass diese Fremden etwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun hatten. Er schlug das Angebot Kautelas zu einem Grappa aus, der Magen schmerzte bereits, es war Zeit, sich endlich in Enthaltsamkeit zu üben.

Als er auf die Straße trat, machte sich ein schaler Geschmack in seinem Mund breit. Es war die Bitterkeit eines alten Mannes, gepaart mit der Einsamkeit dessen, der eben den letzten Freund verloren hatte. Der Rollsplitt des letzten Winters war noch nicht entsorgt, der zerriebene Staub überzog die Blätter der Büsche und hatte sich auf die Autos gelegt. Er hatte den Vater noch nicht ganz vom Verdacht ausgeschlossen, aber wo, fragte er sich, war dann der Junge?

Er wählte Gubitzers Nummer und wies ihn an – Sparpläne hin oder her –, für verstärkte Observation der Gegend um die Alszeile Vorkehrungen zu treffen, vielleicht hätten ja die Unbekannten was mit der Sache zu tun. Es war bereits dunkel und er musste noch zur Mutter. Er hielt ein Taxi an, das gerade auf der Hasenauerstraße Richtung Innenstadt fuhr, und ließ sich von diesem zum Rennweg bringen.

Marion Peranek wohnte an der Grenze zu Simmering in einem der kommunalen Siloblöcke, in die man die steckte, die wenig Hoffnung auf sozialen Aufstieg hatten.

Als sie die Türe nach längerem Läuten öffnete, sah sich Dantlinger einer Frau gegenüber, die ihm bis zur Schulter reichte. Ihm fiel das verfilzte, blondierte Haar auf und die leeren, glasigen Augen. Und auch die rot gefleckte Haut, die von einem Leben Richtung Endstation kündete. Erst bei näherer Betrachtung erkannte Dantlinger hinter dieser Maske vorzeitigen Verfalls ein hübsches Gesicht, weit jünger, als es der erste Eindruck vermuten ließ.

»Wird ja auch Zeit, dass wer von euch daherkommt«, wurde er wenig freundlich empfangen. Die Frau steckte in einem kurzen Seidenhemdchen und Dantlinger ertappte sich dabei, wie er ihrem Hintern nachblickte. Sie stöckelte in das Wohnzimmer, in dem die Glotze lief. Auf dem Couchtisch standen neben einem überquellenden Aschenbecher einige Flaschen mit Alkohol. Die Luft war stickig und der kalte Rauch klebte an den geblümten Tapeten, dennoch spürte Dantlinger in dem Mief eine angenehme Erinnerung aufsteigen.

Die Frau goss sich Schnaps in ein Glas. Sie sagte: »A Kieberer derf ja ned, gelt, der is ja im Dienst.«

Dantlinger räusperte sich, zog einen Stuhl heran und setzte sich gegenüber der Frau, die aufs Sofa gefallen war, hin. Er fragte nach dem Ablauf des vergangenen Tages.

»Das is doch wurscht, des ist doch klar, dass da der Francesco dahintersteckt.«

»Sie meinen den Vater, Franz Kautela?«

»Ja, Franz heißt die Kanaille!« Langsam wanderte ihr Kopf mit halbgeschlossenen Augen abwärts.

Dann erzählte sie, unterbrochen von ständigen Zügen an einer Zigarette, von ihrem Sorgerechtsstreit.

»Versprochen hat er mir die Ehe, dann hat er mich sitzen lassen, und dann wollt er mir des Kind wegnehmen.«

»Sie hängen an dem Kind«, sagte Dantlinger und bemühte sich um ein wenig Empathie, um eine Brücke zu der Person zu schlagen. Er konnte sich vorstellen, dass die Frau sich erst nach der Trennung so hatte verkommen lassen.

»Der Gschrapp is mir scheißegal, aber er soll ihn ned haben. Ich hab ja nie a Kind haben wollen.«

»Aber warum haben Sie ihn dann nicht dem Vater gelassen? Offenbar sind sie eh überfordert, mit …, also ich mein …«

»Schleichen S’ Ihnen!«, mit funkelnden Augen hob sie eine der Schnapsflaschen bedrohlich an und Dantlinger dachte: »Besser, wenn ich jetzt gehe«.

Ein Bier, schön angewärmt, damit der Magen nicht beleidigt wird, das wäre jetzt was, sagte er sich, als er an dem Tschecherl im Erdgeschoß vorbeiging. Sein Handy läutete. Gubitzer war dran, fragte, wo er denn stecke. Seine Stimme überschlug sich wie bei einem Kind, das die Bescherung nicht erwarten konnte. »Komm schnell her, Major, du wirst es nicht glauben, aber wir haben sie. Ich schick dir einen Wagen.«

Am Kommissariat erzählte Gubitzer mit leuchtenden Augen, dass man die vier Verdächtigen gefasst hätte.

»Dein Riecher war wieder einmal goldrichtig. Wir haben verstärkt Kollegen in der Gegend patrouillieren lassen, und denen ist ein suspekter Lieferwagen mit lettischem Kennzeichen aufgefallen. Außerdem hat eine Frau aus einem der dortigen Kleingärten angerufen und gemeldet, dass sie Männer beobachtet hätte, die in einem der Gartenhäuser Unterschlupf gesucht hätten. Und jetzt das Beste …«

 

Dantlinger sagte, er solle auf den Punkt kommen. Er spitzte seine Ohren:

»Erzähl endlich!«

»Der Lieferwagen war voll mit geklauter Unterhaltungselektronik.«

»Bravo!« Der Major klopfte seinem Untergebenen auf die Schulter. Er resümierte. »Wahrscheinlich hat sie der Knabe, wie er alleine war, beobachtet, oder er hat was gehört oder die Ganoven wollten die billige Chance auf Lösegeld ergreifen. Wo sind die Vögel?«

»Im Verhörzimmer«, antwortete Gubitzer und machte eine Geste, so, als wollte er seinen Chef zum eben eröffneten Buffet bitten.

Nach einer Stunde knochenharter Befragung, die Dantlinger mithilfe von drei Tassen schwarzem Kaffee durchgehalten hatte, leugneten die Kerle immer noch, mit dem Verschwinden des Kindes etwas zu tun zu haben.

»Du Tachinierer, es reicht mir«, brüllte Dantlinger einen der Männer an. Er riss ihn am Kragen hoch und drohte ihm: »Entweder du packst aus oder ich zerquetsch dir die Eier!« Der Polizist holte zum Schlag aus, als er von hinten herumgerissen wurde.

»Es reicht jetzt wirklich, Major, das gibt eine Disziplinarbeschwerde.«

Die genagelten Schuhe des Anwalts bewegten sich schnell auf seinen Mandanten zu, gleichzeitig wurde Dantlingers Blick starr und etwas Magenflüssigkeit stieß ihm auf. Ein aufbrechendes Magengeschwür vermag Schmerzen zu bereiten, dass man meint, ein Wolf zerrisse einem die Eingeweide. Dantlinger entging dieser Qual, indem er in eine Ohnmacht flüchtete. Gubitzer wählte die Notarztnummer. Das in der Dienststelle einlangende Fax beachtete in dem Trubel niemand. Es besagte, dass Franz Kautela aus Italien stammte und tatsächlich Francesco Cautela hieß, wie cautela, das italienische Wort für Vorsicht.

Der Vater wachte über die ruhigen Atemzüge seines Sohnes, die sanft über die Decke strichen. Stefanos Gesichtszüge waren noch weich und unbehelligt von den Ecken und Kanten kommender Adoleszenz. Cautela umschloss die Kinderhand, der Bub erwiderte den Druck des Erwachsenen mit seinen Fingern. In dem ultravioletten Licht, das von dem nahen Gewächshaus am Dach durch die Luke des Schuppens fiel, besah er sich die blauen Flecken an den dünnen Oberarmen und die Male, die die Zigaretten auf der zarten Haut hinterlassen hatten. »Es ist bald ausgestanden«, flüsterte er, als er seinem Kind durch das Haar fuhr. Er wusste, dass es gerecht war, denn Richter können auch irren oder auf Frauen hereinfallen. Er wusste davon ein Lied zu singen.

Er schlich aus dem Raum und eilte mit bedächtigen Schritten flott zum Hintereingang des niedrigen Baus, wo er von einer rauchigen, weiblichen Stimme gefragt wurde: »Schläft er?«

Francesco nickte.

»Und du bist dir sicher, dass du unten mit ihm ein neues Leben anfangen willst?«

Wieder ein Nicken.

Es gibt Tage, die sind zäh und schwarz wie Pech und drücken auf die Seele wie Blei. Wer diesen mit Umsicht begegnet und vorbereitet ist, dem wird sich bald ein Silberstreif am Horizont als Bote eines neuen Tages zeigen.

HEURIGER AUF DER ALS 1170 Wien, Alszeile 34

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