Die Königin der Tulpen

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Samstag, 11. Juli, 10.04 Uhr

Richard Borowka lehnte gelangweilt an der Küchenzeile und telefonierte mit seinem Handy. Er sah abwechselnd aus dem Fenster und auf seine nackten Füße, die in blau-weißen Adiletten steckten. Sein Gesprächsanteil beschränkte sich auf einige „Ahs“ und „Ohs“, die er einwarf, ab und zu auch mal ein „Echt?“. Am anderen Ende des Telefons überschlug sich ein aufgekratzter Fredi Jaspers, der von dem Überfall auf den Tante-Emma-Laden berichtete. Mittlerweile waren immer mehr Einzelheiten an die Öffentlichkeit gedrungen. Als der Laden überfallen worden war, hatten sich Inhaber Hans-Peter Eidams und eine Kundin im Laden befunden. Ein maskierter Mann war in den Laden gestürmt und hatte die Kasse leer geräumt. Als Hans-Peter sich zur Wehr setzte, hatte der Maskenmann auf ihn geschossen und ihn verletzt. Wie schwer, hatte Fredi noch nicht herausbekommen. Borowka, wie ihn der Einfachheit halber alle nannten, war offenbar nur mäßig interessiert an den Neuigkeiten. Er hatte zurzeit ganz andere Probleme, über die er mit Fredi aber nicht sprechen wollte. Dabei waren Fredi und Borowka seit der gemeinsamen Schulzeit die engsten Freunde. Aber selbst wenn Borowka mit ihm darüber hätte sprechen wollen, in diesem Telefonat wäre er ohnehin nicht mehr zu Wort gekommen. Denn mittlerweile war Fredi zu seinem Lieblingsthema gewechselt: Martina. In epischer Breite folgte ein Bericht über die gescheiterte Fahrt ins Phantasialand und seinen neuen Plan, am morgigen Sonntag essen zu gehen. Ob er und Rita Lust hätten, mitzukommen. Oh Gott, dachte Borowka. Auf nichts hatte er im Moment weniger Lust. Deshalb fiel er Fredi schroff ins Wort: „Oh, Fredi. Da kommt gerade ein wichtiger Anruf rein. Lass uns später noch mal quat schen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er das Gespräch weg und atmete erleichtert durch. Dann wählte er eine Nummer mit holländischer Vorwahl. Als nach längerem Klingeln am anderen Ende abgehoben wurde, wechselte Borowkas Stimmlage in ein Flüstern: „Hör zu. Da ist leider was schiefgelaufen. Ich muss ein bisschen aufpassen. Wir müssen ein neuer Treffpunkt ausmachen. Ich ruf dich wieder an.“

Als er das Gespräch gerade weggedrückt hatte, hörte er ein Räuspern, schaute auf und sah seine Frau Rita in der Tür stehen. Borowka hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort gestanden hatte.

Rita hob eine Augenbraue. „Wer war denn dran?“ Sie trug einen bequemen Jogginganzug in Pink und Flip-Flops mit leichten Absätzen, die ihre rot lackierten Fußnägel mit den aufgeklebten Strasssteinchen optimal zur Geltung brachten. Ihre wasserstoffblonden Locken hatte sie zu einem Dutt zusammengesteckt.

„Wie? Wer war dran? Darf ich nicht mehr telefonieren, oder was? Noch nie was von Privatfähre gehört?“, schnauzte Borowka und ließ das Handy in der Gesäßtasche seiner kurzen Sporthose verschwinden.

Rita sah ihn prüfend an. „Ich hab doch nur gefragt, wer dran war. Oder darf ich das nicht wissen?“

„Wie? Nicht wissen. Klar ...“, Borowka geriet ins Stocken, „das war ... das war der Fredi. Der hat erzählt, dass es ein Überfall gegeben hat auf der Laden von Hansi und dass gerade überall Polizei ist und so.“

Sofort war Ritas Interesse geweckt: „Was denn für ein Überfall? Hier, der Hansi, der mit dir Fußball spielt?“

„Ja. Oder kennst du noch ein anderer Hansi, der ein Laden in Saffelen hat?“, blaffte Borowka seine Freundin an und wollte die Küche verlassen.

Aber Rita stellte sich ihm in den Weg und funkelte ihn mit durchdringendem Blick an. „Was ist los mit dir, Richard? Du bist schon seit Tagen so gereizt. Bei jede Kleinigkeit bist du dich am aufregen. Und immer diese Heimlichtuerei. Geht es sich um eine andere Frau?“

Borowka sah sie entgeistert an. „Sag mal, geht’s noch?“ Ihm wurde plötzlich klar, dass er sich auf ganz dünnem Eis bewegte. Wenn er jetzt nicht einlenkte, würde es wieder einen tagelangen Streit geben, der damit enden würde, dass sie gemeinsam bei Ikea neues Geschirr kaufen mussten. Und es gab nichts Schlimmeres für ihn, als zu Ikea zu fahren. Außerdem stand im Moment zu viel auf dem Spiel, als dass er sich einen Nebenkriegsschauplatz mit Rita leisten konnte. Also änderte er seine Taktik. Er sah Rita treuherzig an. „Wie kannst du so was denken, Rita? Du bist die Einzigste für mich. Ganz im Gegenteil. Ich wollte dich eigentlich überraschen. Ich habe eben mit der Fredi ausgemacht, dass wir vier, Martina, Fredi, du und ich, morgen zusammen essen gehen.“

Rita lächelte schwach. „Hast du deshalb eben geflüstert am Telefon?“

„Ja klar, was denkst du denn?“

Rita musterte ihn einige Sekunden, dann fiel sie ihm so stürmisch um den Hals, dass er mit dem Rücken gegen den Kühlschrank knallte. „Danke, mein Schatz. Wir waren schon so lange nicht mehr zusammen weg.“ Während sie sich an seine Schulter schmiegte, starrte Borowka mit leerem Blick gegen die Wand.

3

Samstag, 11. Juli, 11.38 Uhr

Die Erinnerung war sofort wiedergekommen, als Kommissar Kleinheinz die Küche der Hastenraths betreten hatte. Der einzigartige Möbelmischmasch, das Fliegenklebeband über dem Tisch, das monotone Brummen der Milchkühlanlage aus dem Nebenraum und ein Geruchswirrwarr aus rustikaler Eiche, Duftbäumchen und Kuhstall, diesmal durchsetzt mit der kräftigen Note eines dunkelschwarzen Filterkaffees, den Marlene Hastenrath an den Tisch brachte.

Will wartete voller Spannung auf den Bericht des Beamten, doch seine Frau schien von einer gewissen Unruhe getrieben. Während sie die Tassen randvoll goss, lieferte sie gleich die Erklärung für ihre Nervosität: „Ich hab leider nicht viel Zeit, Herr Kleinheinz. Billa und ich haben bei ein Preisausschreiben in der Prisma ein Kurzaufenthalt in ein Wellnesshotel in der Eifel gewonnen. Und gleich geht’s schon los. Da musste man rauskriegen: eine babylonische Gottheit mit sechs Buchstaben, die mit M anfängt. Das war vielleicht schwierig. Alle katholischen Strickfrauen haben über eine Woche mit dadran rumgeknobelt.“

Will sah sie grimmig an. „Marlene, ich glaube nicht, dass der Herr Kommissar sich für deine Kreuzworträtsel interessiert. Der ist hier, für mit mir über der Überfall zu reden und was das für Saffelen bedeutet.“

„Moloch“, sagte Kleinheinz.

„Wie bitte?“ Will war verwirrt.

„Moloch. Babylonische Gottheit mit sechs Buchstaben.“

„Stimmt!“, strahlte Marlene. Jetzt wusste sie, dass Kommissar Kleinheinz mit seinem durchtrainierten Körper und seinen angegrauten Schläfen nicht nur aussah wie George Clooney, sondern auch mindestens so schlau war wie Albert Einstein.

Will entging die Verzückung in ihrem Blick nicht. „Musst du nicht packen?“

„Doch, doch. Aber erst muss ich natürlich noch wissen, was passiert ist. Möchten Sie ein Stück Kiwi-Jägermeister-Torte zum Kaffee?“

„Nein danke.“ Kleinheinz kramte seinen Notizblock hervor und schlug die erste Seite um. „Also, Herr Hastenrath. Wie versprochen, einige Infos zum Überfall. Ich muss Sie aber noch mal daran erinnern, Stillschweigen zu bewahren. Es handelt sich um eine laufende Ermittlung.“

„Aber natürlich. Sie kennen mich doch.“

„Eben drum“, sagte Kleinheinz, ohne aufzusehen. Er nahm einen Schluck Kaffee und begann: „Nachdem ich den Laden betreten hatte, schilderte mir mein Kollege, Oberkommissar Dohmen, die Lage. Gegen 8.20 Uhr am Morgen befanden sich in dem kleinen Gemischtwarenladen, der gleichzeitig offensichtlich auch als Postannahmestelle dient, zwei Personen. Der 38-jährige Inhaber Hans-Peter Eidams, der sich im Kassenbereich aufhielt, sowie eine Kundin, die 70-jährige Katharina Thönnissen.“

„Oh Gott, Käthchen!“ Marlene schlug die Hände vor den Mund.

Kleinheinz fuhr unbeirrt fort: „Ein mit einer schwarzen Motorradsturmhaube maskierter Mann stürmte das Geschäft und forderte Herrn Eidams auf, den Inhalt der Kasse herauszugeben. Herr Eidams weigerte sich und es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf er dem Täter die Maske vom Kopf riss. Daraufhin zog der Mann eine Waffe und schoss auf Herrn Eidams, der mit einer Schussverletzung am Oberarm zusammenbrach. Der Täter leerte die Kasse und verschwand mit einem schwarzen Motorrad mit holländischem Kennzeichen. Herr Eidams hat großes Glück gehabt. Die Kugel hat ihn nur am Arm gestreift und ist dann in die Wand eingeschlagen. Er wurde vor Ort notärztlich versorgt und dann ins Krankenhaus gebracht. Sein Zustand war aber so stabil, dass Dohmen und ich ihn kurz befragen konnten. Das Nummernschild hat er nicht erkannt, dafür konnte er eine relativ genaue Täterbeschreibung abgeben. Es wird jetzt ein Phantombild erstellt und nach dem schwarzen Motorrad wird gefahndet. Leider gibt es ansonsten keine Zeugen, die irgendwas gesehen oder gehört haben.“

Will rieb sich das Kinn. „Und was hat Käthchen gesehen? Also, ich meine, Frau Thönnissen.“

„Frau Thönnissen stand unter Schock. Wir konnten sie noch nicht befragen. Sie bekam ein Beruhigungsmittel und wurde ins Saffelener Seniorenheim gebracht. Wo sie offensichtlich lebt.“

Marlene nickte. „Ja. Frau Thönnissen hat vor zwei Jahren ihr Haus verkauft. Die hat ja keine Familie mehr. Deshalb ist die ins Altenheim gezogen. In so ein Einzimmerapartment. Obwohl die eigentlich noch ganz rüstig ist.“

„Na ja, da läuft sie uns ja nicht weg“, konstatierte Kleinheinz. „Ich werde morgen noch mal hinfahren und sie befragen. Ansonsten ist das erst mal alles. Der Laden bleibt bis auf Weiteres versiegelt, die Spuren werden in Ruhe ausge wertet. Die Kugel haben wir zur kriminaltechnischen Untersuchung nach Düsseldorf geschickt, um die Tatwaffe zu ermitteln.“

Will wirkte nachdenklich. „Eins versteh ich nicht, Herr Kommissar. Sie sagten, der Mann hätte auf Hansi geschossen. Warum gibt es denn keine Zeugen, die einen Schuss gehört haben?“

 

„Tja. Wie es aussieht, hat der Täter einen Schalldämpfer benutzt. Sagen Sie mal, Herr Hastenrath. Was muss man denn über Hans-Peter Eidams wissen? Gibt es keine Frau Eidams?“

„Doch. Dem seine Mutter.“

„Nein, ich meine, hat Hans-Peter Eidams keine Ehefrau?“

Nun schaltete sich Marlene ein: „Vor ein paar Jahren war der mal verlobt gewesen. Mit eine Frau aus Thailand. Kim Su Peng hieß die. Die hat der damals im Urlaub kennengelernt. Und da hat der sich auf der erste Blick in die drin verliebt, wie der die im Katalog gesehen hat. Die hat ein paar Monate hier gewohnt und überall in der Nachbarschaft geputzt. Die war sehr fleißig, aber das Proplem war, dass die weder Deutsch noch Saffelener Platt verstand. Und dann hat der Hansi Krach bekommen mit seine Eltern wegen weil der das Geschäft vernachlässigt hat. Der wollte sogar mit die Kim Su Peng ein Restaurant in Uetterath aufmachen. Ein ägyptisches Steakhaus oder so. Und irgendwann war plötzlich der ihre Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen. Der alte Eidams kennt da wohl ein paar Leute bei der Stadtverwaltung.“

„Da dürfte das Verhältnis zu seinem Vater ja nicht das beste sein, oder?“

Marlene zuckte die Schultern. „Der Hansi hatte ja keine Wahl, weil der Vater dem immer finanziell unterstützt hat. Der verdient mit sein kleiner Laden ja nicht so viel.“

„Und seit damals ist Hans-Peter Eidams alleinstehend?“

„Ja, ja. Seitdem ist der ein eingeschweißter Junggeselle. Der ist sogar der Vorsitzende vom Saffelener Junggesellenverein „Heiß wie Frittenfett e.V.“ Marlene sah auf die Uhr. „Um Gottes willen. Ich muss los. Um zwölf Uhr muss ich bei Billa sein.“

Auch Kommissar Kleinheinz sah auf die Uhr. „Ich muss dringend zurück aufs Revier. Den Bericht schreiben. Hier ist eine Karte mit meiner Handynummer, Herr Hastenrath. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie irgendwas Neues hören. Und ich warne Sie – fangen Sie nicht wieder hinter meinem Rücken an, auf eigene Faust zu ermitteln. Wir haben es hier ganz offen sichtlich mit einem gefährlichen Täter zu tun.“ Während er sich erhob, schob er die Visitenkarte über den Tisch. Will nahm sie und steckte sie in seine Hosentasche. „Und Ihnen, Frau Hastenrath, gute Erholung bei Ihrem Wellnesstrip.“ Er nickte ihr galant zu.

Marlene errötete leicht und fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar. Wie Kleinheinz so dastand, wirkte er im matten Schein der Deckenlampe wie Sky Dumont in ihrer Lieblings-Rosamunde-Pilcher-Verfilmung „Blüte des Lebens“, nur jünger und sportlicher. Der Gedanke wurde aber schnell von Wills rasselndem Husten vertrieben, mit dem er den Kommissar zur Tür geleitete. Auf dem Treppenabsatz drehte dieser sich noch einmal um und sah den Landwirt besorgt an. „Eins versteh ich einfach nicht. Warum um alles in der Welt überfällt jemand so früh am Morgen einen Tante-Emma-Laden in Saffelen?“

„Vielleicht, weil der danach noch andere Termine hatte?“

Kleinheinz ignorierte die Antwort. „Irgendetwas stimmt hier nicht. Wenn jemand einen Raubüberfall auf ein Geschäft begeht, dann macht er das abends, wenn die Kasse voll ist und nicht morgens. Das macht einfach keinen Sinn.“ Grübelnd ging der Hauptkommissar zu seinem Wagen und ließ Hastenraths Will grußlos im Hauseingang zurück.

4

Samstag, 11. Juli, 11.58 Uhr

„Auf jede Tupperdose habe ich mit ein Eddingstift der Wochentag draufgeschrieben. Hier auf der Zettel kannst du dann nachlesen, was da drin ist. Zum Beispiel Montag ist Rinderbraten mit Kartoffelklöße und Blumenkohl. Daneben steht, wie lange du der Teller in die Mikrowelle stellst. Das ist ganz einfach. Genauso wie damals, als ich die Woche in Kur war.“ Billa Jackels ging bereits zum zweiten Mal den Ablauf der nächsten fünf Tage durch.

Josef Jackels saß zusammengekauert am Esszimmertisch und hörte angestrengt zu. Auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Seine schwitzigen Hände wischte er zwischendurch immer wieder an seiner Strickjacke ab. Kraftlos sah er zu seiner Frau auf. „Müsst ihr denn ausgerechnet diese Woche im Wellnessurlaub fahren? Nächsten Samstag ist die große Hundertjahrfeier der Freiwilligen Feuerwehr Saffelen. Die sind jetzt schon das Festzelt am legen. Was ich da noch alles organisieren muss. Wir haben noch kein Toilettenwagen, weil gleichzeitig in Honsdorf und Brüggelchen Sommerfest ist, die Bier- und Schnapsbestellung muss noch mit der Zeltwirt abgestimmt werden, der Diskjockey hat noch nicht zugesagt, weil der an dem Tag eine wichtige Einführungsveranstaltung hat – ich glaub’, bei sein Urologe. Außerdem muss ich durch der Abend moderieren. Wie soll ich mich denn da noch um der Haushalt kümmern?“

„Josef!“ Billa stemmte energisch die Hände in die Hüften. „Jetzt übertreib doch nicht so. Die Anni kommt jeden zweiten Tag und erledigt das Putzen und der Abwasch. Deine Uniform ist gebügelt und die anderen Anziehsachen habe ich dir rausgelegt. Das Einzigste, was du machen musst, ist, einmal am Tag die Mikrowelle anstellen. Ansonsten hast du jede Menge Zeit, dich auf das Feuerwehrfest vorzubereiten. Außerdem konnten wir uns der Zeitpunkt für die Reise nicht aussuchen, weil es sich um ein Gewinn handelt.“

Josef seufzte laut. Es klingelte an der Haustür. Josef seufzte noch lauter.

Vor der Haustür stand eine aufgekratzte Marlene Hastenrath mit einer großen Reisetasche. Billa fiel ihr um den Hals. „Marlene. Ich freu mich so. Weißt du eigentlich, wann wir das letzte Mal zusammen weg waren?“

„1998. Da waren wir mit die Kegelfrauen in Bad Hönningen. Aber das war ja in dem Sinne kein Wellness urlaub.“ Sie kniff ein Auge. Beide lachten laut.

Im gleichen Moment schob sich Josef Jackels mit Leidensmiene und hängenden Schultern vorbei an den beiden Frauen aus dem Haus. Er sah gequält auf. „Grüß dich, Marlene. Ich hol eben der Auto.“ Dann schlurfte er über die Einfahrt zur Garage, schob lethargisch das Tor hoch und ging hinein.

Marlene zog eine Augenbraue hoch. „Was ist denn mit der Josef los?“

„Ach, der“, Billa machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der jammert schon der ganze Tag rum. Der ist so aufgeregt wegen das Feuerwehrfest nächsten Samstag, weil der da die Eröffnungsrede halten muss. Der hat letzte Nacht nur zwei Stunden geschlafen. Erst als der zwei Valium genommen hatte, ging es.“

„Der Arme“, sagte Marlene. „Ich glaube, der Will ist ganz froh, dass ich fahr. Ich habe gestern durchs Küchenfenster gehört, wie der für der Schlömer Karl-Heinz sagte, dass das für ihn auch Wellness ist, wenn ich mal ein paar Tage weg bin.“

„Ach, Männer. Wir machen uns jetzt fünf schöne Tage mit Prozecco und Massagen von muskulöse Psychiotherapeuten.“ Marlene kicherte wie ein Teenager.

„Ich hol schnell meine Tasche.“ Als Billa ins Haus lief, sah Marlene, wie Josef fast wie in Zeitlupe seinen dunkelroten Opel Ascona rückwärts aus der Garage bugsierte. Dabei schaute er hektisch immer wieder abwechselnd in den Seiten- und in den Rückspiegel. Dann bog er in die Straße ein und brachte den Wagen haarscharf neben dem Bürgersteig mit einem abrupten Bremsen zum Stehen, woraufhin der Motor ruckelnd erstarb. Der Feuerwehrmann sah hinüber zum Haus, kurbelte das Fenster runter und drückte auf die Hupe, die so verrostet krächzte wie die Hupe der Waltons, die Vater John immer betätigte, wenn er von der harten Arbeit im Sägewerk nach Hause kam und sich auf seine Frau Olivia und die Kinder John-Boy, Jason, Jim-Bob, Ben, Mary-Ellen, Erin und natürlich die kleine Elizabeth freute.

Josef hatte sich angeboten, die beiden Frauen zum Bahnhof zu bringen. Überdreht kam Billa mit einem großen Trolley und einer Umhängetasche aus dem Haus gesprungen und rief lachend: „Kutscher, zum Bahnhof! Und geben Sie die Pferde die Peitsche.“ Marlene stieg gackernd in das Gelächter ein, während Josef sich den Schweiß von der Stirn wischte und niedergeschlagen den Wagen startete.

5

Sonntag, 12. Juli, 15.42 Uhr

Das Saffelener Altenheim war, anders als der ungewöhnliche Name „Haus Gnadenbrot“ vermuten ließ, ein sehr mondän anmutendes Gebäude mit moderner Einrichtung. Untergebracht in einem aufwendig sanierten, ehemaligen Kreuzherrenkloster, gab es dort 42 Pflegeplätze, darunter 30 Einzel- und sechs Doppelzimmer. Das Angebot umfasste neben der stationären Pflege noch einen betreuten Wohnbereich und kleine Ein- und Zweizimmerapartments. Haus Gnadenbrot verfügte über eine hauseigene Küche und einen großen Aufenthaltsraum, der gleichzeitig als Essenssaal diente und sogar mit einer kleinen Bühne ausgestattet war, auf der immer wieder kleine Konzerte, Lesungen und die bei Alt und sehr Alt beliebten Bingonachmittage stattfanden. Eine Zeitlang hatte der Saffelener Pastor, Rodrigo Gonzales, hier auch ökumenische Messen abgehalten. Das wurde jedoch eingestellt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die meisten Bewohner ihn nicht verstanden. Darüber hinaus kamen regelmäßig eine Frisörin und eine Fußpflegerin ins Haus, um die alten Leute zu verwöhnen. Ein kleiner, eingezäunter Park lud zum Spazieren ein und führte am neu gestalteten Saffelener Friedhofsgelände vorbei.

Das alles hatte Kommissar Kleinheinz eigentlich gar nicht wissen wollen, als er an diesem Sonntag das Altenheim aufsuchte. Er wollte lediglich die Aussage von Frau Thönnissen aufnehmen, falls sie denn so weit wiederhergestellt war. Doch als er die breite, einladende Steintreppe hinaufgestiegen war, war er im Eingangsportal bereits von Dieter Brettschneider abgefangen worden und hatte von ihm unaufgefordert eine ausgiebige Begehung des Gebäudes verpasst bekommen. Dieter Brettschneider, der Leiter des Seniorenheims, war Mitte fünfzig, sah aber bedeutend jünger aus. Lediglich seine große Nase verhinderte, dass man ihn als gutaussehend bezeichnen konnte. Sein dichtes, schwarzes Haar trug er sorgfältig in der Mitte gescheitelt und sein dunkelblauer Anzug saß wie angegossen. Er schien sportlich zu sein, wenngleich sich ein kleines Bäuchlein über dem Gürtel wölbte. Der schwere Siegel ring, den er trug, war Kleinheinz als Erstes aufgefallen. Und auch sonst schien Brettschneider nicht mit seinem Wohlstand hinter dem Berg zu halten. Am Handgelenk prangte eine Rolex Daytona und auch das goldene Panzerarmband schien nicht billig gewesen zu sein. Bei seinem Rundgang hatte er in einem unaufhörlichen Redefluss stolz den wirtschaftlichen Aufstieg und die erfolgreiche Expansionspolitik seines 1990 gegrün deten Hauses hervorgehoben. Überhaupt lief er immer dann zur Hochform auf, wenn es um die unternehmerische Seite des Seniorenheims ging, sodass Kleinheinz leise Zweifel beschlichen, ob der Geschäftsführer auch in irgendeiner Form durch besonderes soziales Engagement motiviert war. Von den Bewohnern sprach er nicht selten als Insassen, natürlich nicht, ohne die Ironie seiner Worte durch schallendes Gelächter zu unterstreichen. Gleiches galt wohl auch für den ungewöhnlichen Namen „Haus Gnadenbrot“, für den Brettschneider eine erstaunliche Erklärung parat hatte. Kurz nach der Einweihung hätten einige jugendliche Vandalen in der Mainacht die überdimensionalen Buchstaben auf dem Dachfirst einfach vertauscht. Ursprünglich hätte das Heim nämlich „Haus Abendrot“ geheißen. Dass die Jugendlichen, sollte an dieser Version etwas dran sein, bei jenem Maischerz noch ein in gleicher Form und Größe gestaltetes „G“ und „N“ hätten mit sich führen müssen, wollte Kleinheinz nicht ansprechen. Zum einen interessierte es ihn nicht und zum anderen wollte er statt einer kritischen Diskussion eigentlich nur schnell mit Frau Thönnissen sprechen und ihre Aussage aufnehmen, um seinen Bericht zu vervollständigen. Deshalb fiel er Brettschneider auch barsch ins Wort, als dieser gerade von seiner neuesten Aktion schwärmte, nämlich „Schnupperwochen im Altenheim“, bei denen man seine Oma mal testweise für ein paar Tage im Heim parken könne, wie er es ausdrückte.

„Herr Brettschneider. Wo finde ich denn Frau Thönnissen?“

„Ach ja, richtig“, unterbrach der Heimleiter seinen Redeschwall, „Sie sind ja dienstlich hier. Wenn ich einmal heiß laufe. In mir steckt ein Verkäufer durch und durch. Ich habe damals lange im Im- und Export gearbeitet. Holländische Blumenzwiebeln. Ein Bombengeschäft. Kommen Sie, wir nehmen den Aufzug.“ Während sie auf den Fahrstuhl warteten, plapperte er unverdrossen weiter: „Aber wenn Sie mal eine Omma haben, die Ihnen gehörig auf die Nerven geht. Erst letzte Woche ist hier ein wunderschönes Zimmer frei geworden. Mit einem herrlichen Blick auf den Saffelbach.“

 

„Meine Oma ist letztes Jahr verstorben.“

„Das ist natürlich schade für Sie. Und für mich.“ Nach dem letzten Satz lachte er wieder schallend auf. Bevor Kleinheinz etwas entgegnen konnte, öffnete sich mit einem Zischen die Fahrstuhltür. Im Inneren saß ein alter, faltenzerfurchter Mann, der mit angestrengter Miene und steifen Bewegungen versuchte, seinen Rollstuhl über die Bodenschwelle zu lenken. „Ah, unser Herr ... äh ... hier Dings“, rief Brettschneider ebenso überzogen laut wie freundlich. Er zwängte sich an ihm vorbei in den Aufzug, ohne Anstalten zu machen, ihm über die Schikane zu helfen. Von hinten gab er dem Rollstuhl einen leichten Tritt, sodass dieser mit Schwung über die Schwelle rumpelte. Der alte Mann brummelte etwas Unverständliches und Brettschneider wandte sich wieder dem Kommissar zu, während sich die Aufzugtür geräuschvoll hinter ihnen schloss: „Das Erfolgsgeheimnis ist, genau die richtige Mischung zwischen Respekt und Mitgefühl für die alten Knacker zu entwickeln.“

Kleinheinz, der nur schwer an sich halten konnte, versuchte das Thema zu wechseln. „Warum lebt denn Frau Thönnissen hier? Sie machte gestern auf mich einen sehr rüstigen Eindruck – abgesehen von dem Schock, unter dem sie stand.“

„Einsamkeit. Wissen Sie, wir sind hier ja auch so eine Art Geriatrie-Wellness-Oase.“ Er musste kurz auflachen über seine Wortschöpfung. „Hier leben ja nicht nur umnachtete Tattergreise, sondern auch Menschen, die keine Familie mehr haben und die Gesellschaft brauchen. Und wenn sie das nötige Kleingeld dafür haben, kann man hier gut leben. Besser als im Hotel.“

Der Aufzug kam mit einem Ruck zum Stehen und die Tür öffnete sich wieder. Davor wartete eine junge, sehr attraktive Schwester mit einem Tablett, auf dem ganz offensichtlich mehrere Urinproben standen. Brettschneider wies ihr breit lächelnd mit beiden Armen den Weg in den Fahrstuhl und sagte: „Oh, Schwester Vanessa. Aber nicht wieder alles auf einmal austrinken.“ Darauf folgte das schon obligatorische laute Lachen. Schwester Vanessas Wangen erröteten leicht und sie zwang sich ein gequältes Lächeln ab.

Kleinheinz musste sich anstrengen, mit Brettschneider Schritt zu halten, als dieser den Flur entlangpflügte. „Hier um die Ecke ist der große Essenssaal. Da müsste Frau Thönnissen jetzt sein. Es gibt hier genug ruhige Ecken, wo Sie sich mit der alten Schacht ... äh ... Dame unterhalten können. Stimmt es wirklich, dass sie gestern bei dem Überfall mit im Laden war?“

„Bedauerlicherweise ja. Ich danke Ihnen, Herr Brettschneider. Ich komme dann alleine klar. Vielen Dank für die interessanten Eindrücke.“

„Gerne. Wenn noch was ist, ich bin unten in meinem Büro.“ Er drehte sich schwungvoll um und wäre fast mit einer Bewohnerin zusammengestoßen, die gerade, auf einen Rollator gestützt, auf dem Weg in den Essenssaal war. „Huppsala, Frau ... äh ... Dings. So schnell unterwegs? Nicht, dass Sie noch geblitzt werden.“ Lachend ging er zurück zum Aufzug.

Kleinheinz atmete kurz durch, bevor er in den Essenssaal trat. Er erkannte Frau Thönnissen sofort. Als er sie ganz alleine an einem Tisch sitzen sah, wo sie leicht vornübergebeugt mit ihrer zittrigen rechten Hand ganz langsam ein Stück Marmorkuchen zerteilte, überfiel ihn eine bleierne Traurigkeit und er musste unwillkürlich an seine geliebte Großmutter denken, die in ihrem letzten Lebensjahr auch immer so schief an ihrem kleinen Küchentisch gesessen hatte, so als ob sie die ganze Last des Lebens auf ihren knochigen, zerbrechlichen Schultern tragen müsste. Damals war der einstige Glanz in ihren Augen längst erloschen und man hatte das Gefühl, sie würde nur noch darauf warten, erlöst zu werden. Kommissar Kleinheinz schneuzte sich kurz und leise die Nase, bevor er auf Frau Thönnissen zuging.