Die Königin der Tulpen

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Sonntag, 12. Juli, 15.59 Uhr

Das Thermometer war an diesem Nachmittag auf über 28 Grad geklettert. Borowka wedelte sich mit der Speisekarte frische Luft ins Gesicht. Obwohl sie draußen saßen, machte ihm die drückende Hitze zu schaffen. Außerdem fächelte er, um sich irgendwie zu beschäftigen. Seit über zwei Stunden saßen sie nun schon hier auf der Außenterrasse der Saffelener Frittenbude „Grill-Container“. Sobald das Wetter es zuließ, stellte die Inhaberin, Rosi Schlömer-Okawango, Plastiktische und -stühle auf den Schottervorplatz ihrer mit weißen und roten Lampions geschmückten Imbissbude. Für die Gäste war es eine Wohltat, konnten sie doch nicht nur die Sonne genießen, sondern auch noch dem schlecht belüfteten Gastraum entgehen. Das war umso wichtiger, da die Abzugshaube nun schon seit Längerem defekt war. Genau genommen seit vier Monaten, seit Rosi von ihrem Mann Owamba verlassen worden war. Es musste ungefähr einen Tag nach dem Erhalt seiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gewesen sein, als man Owamba das letzte Mal mit einem Koffer am Bahnhof gesehen hatte. Bis dahin hatte er zuverlässig alles repariert, was kaputt gegangen war und auch an der Friteuse hatte er ausgeholfen, wenn Not am Mann war. Nun war Rosi wieder auf sich allein gestellt. Wie all die Jahre vor Owamba auch. Sie hatte den gut aussehenden Schwarzafrikaner damals bei einem Cluburlaub in Kenia kennengelernt, wo er sich als Animateur um die Gäste gekümmert hatte. Kurz danach war er ihr nach Saffelen gefolgt, wo sie bald geheiratet hatten. Fredi und Borowka kannten Rosi noch aus der Schule. Und deshalb war es natürlich Ehrensache für die beiden gewesen, dass sie die Frau in ihrer schwierigen privaten Situation mit einem Sonntagsbesuch unterstützten. Zwar hatten Rita und Martina auf etwas anderes gehofft, als Fredi stolz verkündet hatte, dass er einen Tisch für vier Personen bestellt hatte, aber egal – es war Sommer und die Laune war bei allen prächtig. Außer bei Borowka, der angeödet mit der Speisekarte vor sich hin wedelte. Rita und Martina waren enge Freundinnen und konnten sich stundenlang über nichts unterhalten, was sie auch diesmal wieder mit großer Begeisterung taten. Fredi genügte es völlig, Martina anzusehen und mit einem fast schon an Debilität grenzenden verzückten Grinsen jede einzelne Sommersprosse auf ihrer Nase und jedes einzelne blonde Härchen auf ihrem Unterarm zu bewundern. Borowka war so satt, dass er nicht mal mehr etwas essen konnte gegen die lähmende Langeweile. Sie hatten jeder eine große Portion Fritten mit Bratrollen und Bamis gegessen und Unmengen Cola getrunken. Die Frauen hatten anschließend jeweils einen Cappuccino getrunken, ein neumodisches Szenegetränk, das langsam in Saffelen Einzug hielt. Fredi und Borowka dagegen hatten es beim bewährten Jägermeister belassen. Zu Beginn des Treffens hatte Borowka sich noch mit Fredi über Autos unterhalten, aber der hatte nie richtig zugehört, weil er immer mit einem Ohr auf das Frauengespräch geachtet hatte, um ja nicht zu verpassen, wenn sich Martina an ihn wandte. Was aber nicht passierte.

Gerade als Borowka dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, sah er mit hohem Tempo einen schwarzen BMW X5 auf den Parkplatz schießen. Der Fahrer bremste sportlich ab und etwas Rollsplitt spritzte bis kurz vor Borowkas Füße. Das Gespräch am Tisch verstummte und auch Fredi, Martina und Rita sahen nun zu dem schicken Wagen hinüber. Mit einem Satz sprang Bernd Bommer heraus und kam selbstbewusst mit federndem Gang und durchgedrücktem Kreuz auf den Frittencontainer zu. Eine große Sonnenbrille steckte in seinem dunkelblonden, mit Gel gebändigten struppigen Haar. Über einer dunklen Cargohose mit ausgebeulten Seitentaschen trug er ein eng tailliertes buntes T-Shirt, auf dem Borowka einen Totenkopf erkannte, aus dessen rechtem Auge eine Schlange herauszüngelte. Darüber stand in verspielter Schrift „Ed Hardy“. Was für Scheißklamotten, dachte Borowka und zupfte sich die Lederkrawatte auf seinem Jeanshemd zurecht. Bernd Bommer war vor knapp zwei Monaten nach Saffelen gezogen und hatte für einigen Aufruhr unter der heiratsfähigen weiblichen Bevölkerung gesorgt, weil er recht gut aussah und mit seinem gepflegten Dreitagebart immer sehr verwegen wirkte. Doch Bommer hatte nie Augen für die Frauen des Dorfes gehabt, so sehr sie sich auch um ihn bemüht hatten. Es hieß, dass er sich gerade erst von seiner Frau und seinem kleinen Sohn getrennt hatte. Er war aus der Nähe von Euskirchen gekommen und wollte nun in der ländlichen Gegend neu anfangen. Noch wohnte er in einem Fremdenzimmer der Gaststätte Harry Aretz, doch er suchte fieberhaft nach einer geeigneten Wohnung. Er war freiberuflicher Dolmetscher und arbeitete von zu Hause aus. Im Dorf hatte er sich schon ganz gut eingelebt. Er spielte sogar zusammen mit Fredi und Borowka in der Reserve des SV Saffelen, die sich zumeist am Tabellenende der Kreisliga C tummelte. Noch trainierte er nur mit, aber zur kommenden Saison würde er spielberechtigt sein. Bommer war für die Saffelener Reserve weit mehr als nur eine Verstärkung. Er war eine Art Hoffnungsträger, hatte er doch beim Kaller SC sogar in der Landesliga gespielt.

Als er nun auf die Frittenbude zumarschierte, zeigte Borowka auf das Euskirchener Nummernschild des X5. „Guck mal. ,EU’ – Esel unterwegs.“ Er lachte, doch die anderen ignorierten ihn.

Fredi stieß nur hervor: „Das ist mal eine geile Karre!“ Martina und Rita schauten sich kichernd an.

Bommer blieb vor dem Vierertisch stehen und musste wegen der Sonne blinzeln. „Hallo Fredi, hallo Borowka.“ Martina und Rita bedachte er mit einer angedeuteten Verbeugung. „Die Damen.“

„Setz dich doch, Bernie“, sagte Fredi. Borowka versetzte ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein. „Aua!“

„Ja, komm, hol dir ein Stuhl“, setzte Rita nach. Genau wie Martina mochte sie den quirligen Kerl, der immer gute Laune zu haben schien.

„Warum nicht?“, sagte Bommer, holte sich vom Nebentisch einen Plastikstuhl und nahm Platz. „Was für ein Wetter, oder? Ich wollte mir hier bei Rosi noch schnell zwei Flaschen Cola holen für heute Abend. Rosi“, brüllte er Richtung Theke, „bring mir doch bitte ein kleines Weizen! Und für die vier Hübschen hier auch noch mal eine Runde. Ach, und noch eine Bratrolle spezial. Für hier zu essen.“ Rosi nickte. Bommer wandte sich wieder an seine Tischnachbarn: „Für hier zu essen. Ist doch richtig, oder? So langsam lerne ich eure Sprache.“ Er lachte. Auch Martina und Rita prusteten los. Selbst Fredi lachte nach einem kurzen Seitenblick auf Martina, auch wenn er den Witz nicht verstanden hatte. Nur Borowka verzog genervt das Gesicht. Bommer bemerkte das. Er schlug ihm freundschaftlich auf den Oberschenkel und sagte salopp: „Was ist los, Borowka? Schlechte Laune?“

„Ach der. Der ist schon seit Tagen total muffelig“, warf Rita ein.

Borowka merkte, dass er in die Defensive geriet. Um nicht als Spielverderber dazustehen, sagte er: „Kann schon sein. Wird Zeit, dass die Sommerpause vorbei ist. Zum Glück ist Mittwoch das Freundschaftsspiel gegen Kleinwehrhagen.“

„Hast du schon eine Wohnung gefunden?“, versuchte Martina das Gespräch wieder vom Fußball wegzulenken. Bommer wendete sich ihr zu. „Nee, leider nicht. Ist gar nicht so einfach. Ich werd wohl noch eine Weile beim Harry über der Kneipe wohnen. Ist aber kein Problem. Das ist ein richtig netter Kerl.“

„Und du sitzt an der Quelle“, platzierte Borowka einen Scherz, um zu demonstrieren, dass er alles andere als eine trübe Tasse war. Dabei stieß er Fredi feixend mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Aua!“

„Wo hast du denn das coole T-Shirt her?“, fragte Rita unvermittelt. Borowka blieb das Lachen im Hals stecken.

Bevor Bommer antworten konnte, kam Rosi mit einem Tablett an den Tisch geschlurft. Dabei rieben ihre Oberschenkel, die sie in viel zu enge Leggings gezwängt hatte, wie Schmirgelpapier aneinander. Ihre käsigen Füße steckten in ausgetretenen weißen Birkenstock-Sandalen. Sie keuchte leise vor sich hin. Die Hitze machte ihr sichtbar zu schaffen. Mit ihrer fleischigen, weißen Hand nahm sie die Getränke vom Tablett und stellte sie auf den Tisch. Zuletzt setzte sie vor Bommer eine längliche Plastikschale ab. Darin lag eine Bratrolle, die in Ketchup und Mayonnaise schwamm. Darüber waren frische Zwiebeln gestreut. Rosi steckte noch eine weiße Plastikgabel in die Wurst. „Einmal Bratrolle spezial für hier zu essen. Aber nachher kommst du rein, Bernie: für drinnen zu bezahlen.“

Der ganze Tisch brach in lautes Gelächter aus. Auch Borowka lachte pro forma mit, während er Bommer mit festem Blick fixierte. Du musst mal schwer aufpassen, Junge, sonst hängt der Kiefer tiefer, dachte er.

7

Sonntag, 12. Juli, 16.10 Uhr

Kommissar Kleinheinz hatte sein Laptop aufgeklappt und einen kleinen tragbaren Drucker auf den Tisch gestellt. Er sah Frau Thönnissen beruhigend in die Augen und strich ihr über die leicht zitternde Hand. „Machen Sie sich keine Sorgen. Es dauert nicht lang.“ Nachdem Kleinheinz sich davon überzeugt hatte, dass die alte Dame vernehmungsfähig war und auch bereit, mit ihm über den gestrigen Vorfall zu sprechen, hatten sie sich auf ihren Wunsch hin in einer kleinen abgemauerten Nische des großen Saals einander gegenübergesetzt, um sich zu unterhalten. Kleinheinz hätte zwar ein abgeschlossenes Zimmer vorgezogen, doch er wollte die alte Frau nicht einem größeren Stress aussetzen als nötig. Ein wenig beunruhigte es ihn zwar, dass sich der zuvor leere Saal zunehmend füllte, aber dennoch konnten sie in ihrer Ecke trotz des leichten Gemurmels ungestört sprechen. Um ihr die Aufregung zu nehmen, schlug er einen sonoren Ton an: „Wenn es Ihnen zu viel ist, komme ich auch gerne an einem anderen Tag wieder.“

 

„Ach was“, sagte sie tapfer, „bringen wir es hinter uns. Ich habe in meinem Leben schon so viel mitgemacht, dann werde ich das auch noch überleben.“

Kleinheinz nickte. „Bevor wir anfangen, muss ich Sie belehren, dass ich Sie als Zeugin in einer Strafsache vernehme. Als Zeugin haben Sie ein Zeugnisverweigerungsrecht, das heißt, Sie sind nicht verpflichtet, Angaben zu machen. Des Weiteren müssen Sie sich als Zeugin nicht selbst belasten und Sie müssen keine Angaben über Personen machen, die in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Ihnen stehen. Und Sie müssen selbstverständlich die Wahrheit sagen. Haben Sie das verstanden?“

„Ich bin zwar alt, aber nicht senil“, erwiderte sie leicht gereizt.

„Natürlich nicht“, lächelte Kleinheinz. „Ich möchte eine Vernehmung mit Ihnen durchführen über das, was Sie gestern Morgen im Geschäft von Hans-Peter Eidams gesehen, gehört oder wahrgenommen haben. Vielleicht schildern Sie mir zuerst mal in eigenen Worten, was genau passiert ist.“

Ihre Stimme zitterte leicht, als sie begann: „Ich wollte gerade an der Theke zwei Dosen Ravioli bezahlen, als die Ladentür aufgerissen wurde. Ein Mann mit so einer schwarzen Kapuze über dem Kopf, wie Motorradfahrer sie anhaben, brüllte plötzlich: ,Geld raus!’ Dann ist der Hansi um die Theke herumgekommen und hat zu dem Mann gesagt: ,Verschwinden Sie.’ Danach ging alles sehr schnell. Sie haben sich irgendwie geschubst, der Hansi hat dem Mann die Kapuze vom Kopf gezogen und plötzlich hatte der Mann eine Pistole in der Hand und hat sie dem Hansi vor die Brust gehalten.“ Sie stockte. Dann kramte sie umständlich ein Stofftaschentuch heraus und tupfte sich ein paar Tränen ab. Sie schluchzte noch mal kurz, dann sprach sie schleppend weiter: „Der Hansi wusste gar nicht, was los war. Dann hat der Mann mich auf Seite geschubst und ich bin gefallen. Als ich hochgucke, sehe ich, wie Hansi das Gesicht verzieht und sich die rechte Schulter festhält.“

„Das heißt, Sie haben keinen Schuss gehört?“

„Nein. Gar nichts.“

„Ist Ihnen an der Pistole irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Die war vorne sehr lang.“

„Ein Schalldämpfer“, murmelte Kleinheinz leise vor sich hin und tippte alles ein. „Was ist dann passiert?“

„Der Hansi hat auf dem Boden gelegen und geschrien. Der Mann hat in aller Seelenruhe das Geld aus der Kasse genommen, in eine Tüte gepackt und ist gegangen. Draußen ist er auf ein Motorrad gestiegen und weggefahren.“

„Wissen Sie zufällig, was für ein Motorrad das war? Eine bestimmte Marke?“

„Nein. Ein ganz normales Motorrad.“

„Konnten Sie das Kennzeichen lesen?“

„Nein. Ich habe nur gesehen, dass es ein gelbes Nummernschild war.“

„Holländisches Nummernschild“, tippte Kleinheinz in seinen Computer. „Was ist dann passiert?“

„Das weiß ich alles gar nicht mehr so genau. Der Hansi hat geblutet und gestöhnt. Und dann muss ich wohl mit dem Telefon auf der Theke die 110 angerufen haben. Obwohl ich mich da gar nicht mehr dran erinnern kann.“

„Ihr Notruf ging um 8 Uhr 23 bei uns ein. Sie haben sehr verwirrt geklungen. Kein Wunder, Sie standen unter Schock. Ich würde noch gerne wissen ...“

Mitten im Satz setzte plötzlich ohrenbetäubende Musik ein, die aus dem großen Saal kam. Kleinheinz zuckte heftig zusammen und Frau Thönnissen sah interessiert auf. Ihre Miene erhellte sich, und das, obwohl grauenhafte Akkordeonmusik erklang.

Kleinheinz sprang auf und schaute aus der Nische heraus. Er konnte nicht in den Saal sehen, weil ihm eine Säule den Blick versperrte. Er brüllte: „Macht mal bitte jemand das verdammte Radio leiser!“

Im nächsten Moment kamen Hastenraths Will und Josef Jackels um die Ecke. Will strahlte den verdutzten Kleinheinz an. „Hallo Herr Kommissar. Was machen Sie denn hier?“

„Ich führe gerade eine Vernehmung durch. Und was machen, bitte schön, Sie hier?“ Plötzlich ertönte auch noch Gesang zu dem Akkordeon. Kleinheinz bekam auf der Stelle Kopfschmerzen. Er brüllte noch lauter: „Mach doch mal jemand das Radio leiser.“

„Das ist kein Radio“, sagte Will ruhig, „das ist Charlie van der Valk.“

„Wer?“

„Sagen Sie bloß, Sie kennen der Charlie van der Valk nicht?“

„Wer zum Teufel soll das sein?“

Jetzt meldete sich Josef zu Wort. Seine Stimme klang belehrend, als er sagte: „Charlie van der Valk. Der Mann mit dem Akkordeon. Der berühmte holländische Schlagerstar. Da müssen Sie doch mal was von gehört haben. Der Tulpenkavalier.“

Kleinheinz verstand gar nichts mehr. Die Akkor deontöne hämmerten sich erbarmungslos in sein Hirn.

Will rief durch den Saal: „Herr van der Valk, kommen Sie doch mal eben.“

Mitten im Lied brach die Musik ab. Kleinheinz entspannte sich. Im nächsten Augenblick tauchte ein groß gewachsener, schlanker Mann mit dünnem, grauem Haar auf, der ein Akkordeon umgeschnallt hatte. Der Kommissar schätzte ihn auf Mitte bis Ende 60.

„Das ist der große Charlie van der Valk“, stellte Will den Mann mit Pathos in der Stimme vor. „Der hatte in den 70er Jahren viele Hits: ,Walzer ins Glück‘, ,Du bist die eine‘ oder ,Akkordeon der Liebe‘. Der gibt einmal im Monat ein Umsonst-Konzert hier im Altenheim. Der Josef und ich sind hier, für mit dem zu verhandeln wegen ein Auftritt auf dem Feuerwehrfest nächste Woche. Aber ich denk, da werden wir uns schon einig, oder Herr van der Valk? Ein bisschen was am Preis tun Sie noch, oder?“ Mit dem letzten Satz wendete sich Will in seiner plump vertraulichen Art direkt an den Musiker. Der nickte sparsam, machte aber insgesamt ein freundliches Gesicht.

Kleinheinz konnte das alles nicht fassen. Resigniert fragte er: „Und warum ,Der Tulpenkavalier‘?“

Hastenraths Will spielte den Empörten. „Aber das gibt es doch nicht, Herr Kommissar. Haben Sie denn die letzten 30 Jahre in ein Kellerverlies verbracht? Der Name bezieht sich auf dem sein Riesenhit, mit dem der damals hier in der Region weltberühmt geworden ist: ,Die Königin der Tulpen‘!“

Kleinheinz war mittlerweile zu schwach, um zu antworten. Sein Gesicht verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen, denn ohne Vorwarnung begann Will nun zu allem Überfluss mit seiner durchdringenden Bassstimme zu singen: „Die Königin der Tulpen – die bist du!“ Der Kommissar sah sich hilflos um, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der mit einer versteckten Kamera um die Ecke kommt, um die bizarre Situation aufzuklären. Doch das Gegenteil war der Fall. Unmittelbar nachdem Will angefangen hatte zu singen, stimmte auch Josef Jackels schmetternd mit ein.

Charlie van der Valk setzte zum ersten Mal, seit er dabeistand, ein breites Lächeln auf, nahm sein Akkordeon hoch und stieg auf den nächsten Takt ein. Sekunden später begann der ganze Saal, in dem sich mittlerweile bestimmt 70 Bewohner befanden, lauthals mitzusingen:

Erst Rendezvous – dann Schubidu

Doch eines sollst du wissen immerzu

Die Königin der Tulpen – die bist du!

8

Montag, 13. Juli, 19.13 Uhr

Bernd Bommer hatte den Ball in vollem Lauf aus der Luft angenommen. Er führte ihn so eng am Fuß, als würde er daran festkleben. Mit einem eleganten Schlenker ließ er den ersten Gegner aussteigen. Dann ein Übersteiger, gefolgt von einer lässigen Rechts-links-Kombination, und der nächste Gegner rutschte ins Leere. Jetzt hatte er nur noch zwei Verteidiger vor sich, die ihm frontal entgegenkamen, um ihn in die Zange zu nehmen. Bommer wartete, dann legte er sich den Ball auf die Hacke und katapultierte ihn von hinten über sich hinweg, um ihn hinter den beiden verdutzten Verteidigern wieder aufzu nehmen. Jetzt gab es nur noch ihn und den Torwart. Er lief auf ihn zu und sah die Angst in dessen Augen. Noch drei Meter, dann würde er abziehen, noch zwei Meter, noch einen. Er holte aus – und plötzlich flog von der Seite ein gestrecktes Bein wie ein Dumdumgeschoss gegen sein rechtes Knie. Das Knie verdrehte sich, Bommer wirbelte herum und für endlose Sekunden, in denen er sich in der Luft zu befinden schien, wusste er nicht mehr, wo oben und unten war. Dann schlug er hart mit dem Hinterkopf auf dem grobkörnigen Aschenplatz auf. Wie durch einen Nebel sah er nur noch aus der seitlichen Froschperspektive Trainer Karl-Heinz Klosterbach wild gestikulierend mit seiner Trillerpfeife auf den Platz laufen. Dann verlor er das Bewusstsein.

Er wurde wieder wach durch einen Schwall Wasser, der ihm aus einem Eimer frontal ins Gesicht geschüttet worden war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er weg gewesen war. Ein paar Minuten mussten es gewesen sein, denn er sah, dass Klosterbach mit hochrotem Kopf auf Richard Borowka einredete. Der schrie nicht weniger erregt zurück. Die ganze Mannschaft stand im Halbkreis um die beiden Streithähne herum. Dann erschien auf einmal das Gesicht von Fredi Jaspers direkt vor Bommers Nase. Er sah ihm direkt in die Augen. „Hallo Bernie, da bist du ja wieder.“ Fredi stand auf. Er hielt den leeren Eimer noch in der Hand. Er rief zu den anderen hinüber: „Herr Klosterbach. Der Bernd ist wieder da.“ Klosterbach und Borowka hörten auf zu streiten. Der Trainer kam mit seinen breiten O-Beinen auf Bernie zu. So langsam nahm dessen Wahrnehmung wieder Konturen an. Er wollte aufstehen, doch ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Scheiße, mein Knie, dachte er. Als er danach tastete, spürte er eine tennisballgroße Beule oberhalb vom Schienbein. Er setzte sich benommen auf.

Klosterbach kniete sich neben ihn. „Hallo Bernie. Schön, dass du wieder wach bist. Bleib mal liegen. Wir haben der Doktor Frentzen angerufen. Der hat gesagt, der kommt gleich raus und macht dir eine Zypresse.“

„Kompresse.“

„Was?“

„Egal. Was ist überhaupt passiert?“

Klosterbach sah kopfschüttelnd zu Borowka auf, der sich neben ihm aufgebaut hatte. „Unser Richard ist etwas übermotiviert zur Sache gegangen.“

Borowka hob entschuldigend die Arme. „Spielen wir jetzt Fußball oder Mau-Mau?“

Klosterbach stand auf und sah ihm direkt in die Augen. Zornig funkelte er ihn an. „Richard! Es gibt ein Unterschied zwischen Verteidigen und vorsätzliche Körperverletzung. Auch wenn beides mit ,F‘ anfängt.“

Bommer betrachtete sein wild pochendes Knie. Jetzt verstand er und wurde auf der Stelle wütend. Vom Boden aus brüllte er Borowka an: „Sag mal, hast du sie noch alle? Das ist doch nur ein Trainingsspiel.“

Borowka trat einen Schritt nach vorne. „Was denn? Ist hier Zwergenaufstand, oder was? Hat der Spacko jetzt auch schon was zu melden? Der Typ ist gerade mal seit zwei Monate dabei und schon fangt ihr alle an zu heulen, wenn der mal in ein Zweikampf umfällt.“

Bommer machte mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung und schüttelte den Kopf. „Zweikampf?! Ich glaub, ich spinne.“

Borowka fuhr ihn an: „Halt die Fresse, du Vollhorst. Sonst gibt es hier gleich Fratzengeballer.“

Klosterbach packte ihn hart am Arm. „Jetzt reicht’s, Richard. Beruhig dich mal. Ich würde sagen, du kannst duschen gehen. Und am Mittwoch bleibst du erst mal zu Hause. Vielleicht kühlst du dich dann wieder was ab.“

Borowka war wie vor den Kopf geschlagen. „Ist das dein Ernst?“

Fredi machte einen Schritt auf ihn zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah ihn vorwurfsvoll an. „Der Trainer hat recht. Das war Scheiße, was du eben gemacht hast.“

„Ich glaub’s nicht, Fredi. Jetzt fällst du mir auch noch im Rücken.“ Wütend zog er sich seine Kapitänsbinde vom Arm und warf sie den anderen Mitspielern vor die Füße. „Macht euren Scheiß doch alleine. Und du“, er zeigte mit dem Finger auf Bommer, der immer noch auf dem Boden saß und sein Knie rieb, „du musst mal schwer aufpassen, oder hast du schon mal versucht, mit gebrochene Finger deine Zähne aufzusammeln?“ Es musste sich um eine rhetorische Frage gehandelt haben, denn ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte Borowka wütend davon.

Fredi rief ihm hinterher: „He, warte, du musst mich doch gleich noch mit nach Hause nehmen.“

Borowka drehte sich um, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. „Fahr doch mit dein neuer Freund nach Hause.“ Dann verschwand er in der Umkleidekabine.

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