Die Stunde der Wahrheit

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Leere
3
Dienstag, 25. Juli, 12.54 Uhr

Der Mann ohne Gedächtnis saß am Küchentisch der Hastenraths und beobachtete Marlene, die, eingehüllt von aufsteigendem Dampf, die Töpfe und Pfannen vor sich auf dem Herd mit so viel Hingabe und Perfektion hin- und herschob wie ein Dirigent, der sein Orchester durch eine schwierige Partitur leitet. Er konnte sich gar nicht sattsehen an diesem vor Lebenslust wippenden Körper, der ihn an die Opernsängerinnen der Neunzigerjahre erinnerte, jene Primadonnen, die mit ihrem raumflutenden Sopran sogar Gläser zum Zerspringen bringen konnten. So wie die berühmte Montserrat Caballé oder auch Bianca Castafiore, die kapriziöse Diva aus „Tim und Struppi“.

Der Mann ohne Gedächtnis, dem man den Namen Walter gegeben hatte, wunderte sich einmal mehr über sich selbst. Schon in den letzten zwei Tagen war ihm aufgefallen, dass er offenbar über ein breit gestreutes Allgemeinwissen verfügte, das auch vor Trivialem nicht haltmachte. Er hatte den Eindruck, dass er wahllos gebildet war. Er schien sich gleichermaßen für Literatur wie auch für Comics, für Schlagermusik wie auch für Jazz, für Gedichtbände wie auch für den Ikea-Katalog zu begeistern. Vor allem aber hatten es ihm Zahlen angetan. Er war in der Lage, mathematische Zusammenhänge in kürzester Zeit zu erfassen. Als er beim Kartoffel-ab-Hofverkauf zugeschaut hatte, hatte er die Endsummen errechnet, noch bevor Marlene den Taschenrechner eingeschaltet hatte. All diese Fähigkeiten hatte er an sich festgestellt, aber er wusste immer noch nicht, wer er war, was er war und woher er gekommen war. Der Bereich in seinem Gehirn, in dem seine sämtlichen autobiografischen Informationen enthalten waren, schien komplett gelöscht. Dr. Hoppe hatte verschiedene Tests mit ihm durchgeführt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um eine dissoziative Amnesie handeln musste, bei der das sogenannte semantische Gedächtnis, das das erlernte Weltwissen enthält, nicht beschädigt wurde, dafür aber das episodische Gedächtnis, das für die rückwärts gerichtete Erinnerung verantwortlich ist. Das sei nichts Ungewöhnliches, so Dr. Hoppe, da die unterschiedlichen Informationsformen unabhängig voneinander in verschiedenen Gehirnarealen gespeichert würden. Was zu dieser Amnesie geführt haben sollte, darüber konnte auch der Arzt nur spekulieren. Höchstwahrscheinlich hatte aber der mit viel Schwung geführte Holzeimer zu einem schweren Schädel-Hirn-Trauma geführt, das wiederum den Gedächtnisverlust ausgelöst haben könnte.

Diese Diagnose hatte bei Marlene zu fürchterlichen Gewissensbissen geführt – und das, obgleich sowohl der Schlag gegen den Kopf als auch die Mistgabel im Bein bei Walter zu keinerlei bleibenden körperlichen Schäden geführt hatten. Die Forke hatte zwar Schmerzen verursacht, die Stichverletzung selbst war allerdings eher oberflächlich gewesen, da die Zinken keine Arterie erwischt, sondern nur eine Fleischwunde bewirkt hatten. Und so ging es Walter an diesem späten Vormittag den Umständen entsprechend gut. Die Kopfschmerzen waren verschwunden und der bandagierte Oberschenkel zwickte nur noch ab und zu ein wenig. Dennoch hatte Marlene Hastenrath darauf bestanden, den unfreiwilligen Gast so lange zu umsorgen, bis seine Herkunft geklärt war. Sie tat das mit so viel mütterlichem Altruismus, dass Walter sich fast wünschte, sein Gedächtnis nie mehr wiederzuerlangen. Auch wenn Marlene es gelegentlich mit ihrer Fürsorge übertrieb, so war es laut Dr. Hoppe durchaus wichtig, dass Walter zur Ruhe kam und sich erholte. Denn das konnte neben anderen Therapiemaßnahmen ein guter Weg sein, dass er möglichst bald seine Erinnerung wiederfand. Eine Prognose, wie lange der Zustand anhalten könne, mochte Dr. Hoppe indes nicht abgeben. Irgendwo zwischen ein paar Tagen oder mehreren Jahren, meinte er, was man durchaus als vage Terminierung bezeichnen konnte.

Während Hastenraths Will alle seine politischen und gesellschaftlichen Kontakte nutzte, um herauszufinden, ob irgendwo jemand vermisst wurde, kümmerte sich seine Frau hingebungsvoll um den Hausgast. Nachdem sie ihm ein Glas Mineralwasser eingegossen hatte, stellte sie ihm einen duftenden und völlig überladenen Teller auf den Tisch. „Guten Appetit. Greif zu, es ist genug von alles da.“

Walter sog mit geschlossenen Augen die aromatische Geruchsmelange ein. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so gut gegessen zu haben wie in den letzten beiden Tagen, und das lag nicht daran, dass er sich ohnehin an nichts erinnern konnte. Schließlich wusste er ja zum Beispiel noch, wie eine Auster schmeckte oder ein Glas Bier. Seine Sensorik war absolut intakt. Als er die Augen wieder öffnete und voller Vorfreude das Besteck zur Hand nahm, stutzte er. Der Berg, der sich vor ihm auftürmte, bestand aus drei Elementen: Sauerkraut und Kartoffelpüree erkannte er sofort, aber die beiden rechteckigen, knusprig gebratenen Scheiben mit den kleinen, eingesprenkelten Speckaugen hatte er noch nie zuvor gesehen. Er deutete mit dem Finger darauf und fragte vorsichtig: „Was … bitte schön … ist das denn?“

Marlene, die schon wieder zum Herd zurückgekehrt war, um auch Wills Portion zuzubereiten, drehte sich um. Während sie ihre Hände an der großen Schürze abwischte, die sie um ihren Kittel gebunden hatte, antwortete sie mit einem breiten Lächeln: „Das ist das Beste, was es gibt: Panhas! Da ist alles drin, was schmeckt: Speck, Zwiebeln, Gewürze und Schweineblut.“

Walter zuckte zusammen. „Blut?“

„Ja, aber natürlich geronnenes Blut. Das ist eine Spezialität. Das muss außen richtig schön kross sein und innen weich. Wenn früher bei uns auf der Hof geschlachtet wurde, da haben wir Kinder immer in ein Eimer das Blut gesammelt, für dadraus Panhas zu machen. Der Will sagt gerne: von ein Schwein kann der Mensch alles verwenden: das Fleisch für zum Essen, die Borsten für der Besen, die Haut für Leder und der Name als Schimpfwort!“

Walter musste lachen, wenngleich ihm die beiden angekokelten Fleischersatzscheiben auf seinem Teller immer noch suspekt erschienen. Dennoch nahm er sich ein Herz, schnitt ein Stück ab und schob es sich vorsichtig in den Mund. Marlene beobachtete ihn erwartungsvoll. Walter ließ die fremde Speise einen Moment auf der Zunge liegen und zerkaute sie dann. Anschließend nahm er eine Serviette zur Hand, wischte sich den Mund ab und sagte: „Liebe Marlene, das ist nicht weniger als eine Geschmacksexplosion! Großartig! Kompliment!“

Marlene strahlte über das ganze Gesicht, auf dem sich eine leichte Röte ausbreitete. Dann sah sie auf die Uhr und sagte: „Wo bleibt denn bloß der Will?“

Hastenraths Will befand sich auf der Rückfahrt aus Heinsberg. Sein guter, alter Mercedes 190 D quälte sich über die kurvenreiche Landstraße, die nach Saffelen führte. Vor zwei Wochen hatte er die 200.000-Kilometer-Marke geknackt, aber dennoch verschwendete er keinen Gedanken daran, sich von seinem treuen Gefährt zu trennen. In der Stadthalle Heinsberg hatte der Landwirt am monatlich stattfindenden Ortsvorsteher-Frühschoppen teilgenommen, bei dem die Chefs der einzelnen Ortschaften sich regelmäßig zu bi- oder multilateralen Gesprächen trafen. Meist ging es dabei um die Abstimmung von Schützenfesten oder Umzügen, die möglichst nicht am selben Wochenende stattfinden sollten, oder Toilettenwagen, die man kostenmäßig miteinander zu teilen beabsichtigte. Will hatte seine Teilnahme an dem in erster Linie gesellig geprägten Treffen ausgiebig dazu genutzt, herauszufinden, ob irgendjemand etwas über einen vermissten Mann mit grau-weißem Bart wusste. Die meisten hatten schon von dem sonderbaren Gast der Hastenraths gehört, aber niemand konnte ihn identifizieren, obwohl Will sich extra ein Porträtfoto von Walter hatte vergrößern lassen. Entsprechend enttäuscht hatte er die Rückfahrt angetreten.

Während er abwechselnd mit der linken Hand und dem Knie lenkte, tippte er auf seinem Handy die Nummer eines guten alten Bekannten ein: Peter Kleinheinz. Kleinheinz war als Hauptkommissar mittlerweile zum LKA nach Düsseldorf gewechselt und hatte mit Will gemeinsam in den letzten Jahren schon mehrere Kriminalfälle erlebt, nicht immer freiwillig. Mit der Zeit war eine tiefe Freundschaft daraus erwachsen und entsprechend fröhlich meldete sich der Beamte auch am anderen Ende:

„Will, alter Halunke. Was verschafft mir die Ehre?“ Will war einen kurzen Moment irritiert, weil er seinen Freund meist als grüblerischen Bedenkenträger kannte. Aber diesmal schien der sonst schon mal gerne etwas schroffe Kommissar heiter gestimmt zu sein.

„Peter, grüß dich, altes Scheißhaus“, gab Will salopp zurück, „ich bräuchte mal wieder dein fachmännischer Rat.“

Es knackte kurz und heftig in der Leitung, aber dann hörte man wieder den gut gelaunten Kleinheinz. „Aber zieh mich bitte nicht noch mal in eine Sache rein, bei der ich mich verletze. Die Wunden vom letzten Mal sind gerade erst verheilt.“

„Nein, um Gottes willen“, beschwichtigte Will und verriss dabei kurz das Lenkrad. Nachdem er den Wagen zurück in die Spur gebracht hatte, fuhr er fort: „Es ist Folgendes: Wir haben bei uns im Stall ein Mann aufgegriffen, der nicht mehr weiß, wer er ist. Das hatten wir zwar schon mal öfter, aber bis jetzt war das immer nur der Borowka.“

Will lachte laut und Kleinheinz stieg sofort mit ein. Nachdem Kleinheinz das Wort „Borowka“ noch einmal schmunzelnd und offensichtlich kopfschüttelnd wiederholt hatte, sprach Will mit ernster Stimme weiter: „Das Problem ist: Keiner kennt der Mann. Ich hab gerade mal überall rumgefragt, aber es gibt noch nicht mal einen, der einen kennt, der einen kennt, der mir was über der Mann sagen kann. Das ist schon sehr seltsam. Der Dr. Hoppe sagt, der Mann hat eine Amsenie mit irgendein komisches Wort davor.“

„Wahrscheinlich eine dissoziative Amnesie“, tönte Kleinheinz‘ Stimme krachend durch das Smartphone. „Exakt so einen Fall hatten wir auch mal, als ich noch in Frankfurt war. Da haben wir am Bahnhof einen aufgegriffen, der sein ganzes Leben vergessen hatte, dafür aber fließend Englisch sprach. Am Ende stellte sich raus, dass der Mann aus Liverpool kam und nach einem Junggesellenabschied im Frankfurter Kiez besoffen mit dem Kopf auf den Boden geknallt und von seinen Kumpels vergessen worden war. Drei Tage später wurde der wieder abgeholt. Keine Ahnung, ob der sein Gedächtnis seitdem wiedererlangt hat.“

 

„Das ist ja super“, sagte Will, „dann bist du ja so eine Art Experte für solche Fälle.“

„Absolut! Und was noch dazu kommt“, schepperte es durch die Leitung, „ich hab sogar Zeit, denn ich hab ab heute zwei Wochen Urlaub. Und ich bin gerade in Aachen, weil ich letzte Woche einen Job in Roermond abgewickelt habe, wo noch ein paar Formalitäten geklärt werden mussten. Damit bin ich aber durch. Wenn du willst, komm ich später vorbei und mach ein paar Tage Urlaub auf dem Bauernhof. Eigentlich hatte ich vor, mit einem Kollegen klettern zu gehen in der Fränkischen Schweiz, aber der hat sich gestern beim Fußballspielen einen Kreuzbandriss zugezogen. Wenn es euch also nicht zu viel Umstände macht, komm ich euch gerne besuchen. Auch wenn aus eurem ,Hotel Garni‘-Projekt nix geworden ist?!“

Will war begeistert. „Ach, hör mir auf mit dem Hotelprojekt. Ich bin froh, dass da nichts draus geworden ist. Aber Platz haben wir natürlich immer noch genug. Und Vollpension kann ich dir auch garantieren. Die Marlene flippt aus vor Freude, wenn ich die das erzähle.“

„Na prima, dann bis später!“

Heimsuchung
4
Dienstag, 25. Juli, 13.28 Uhr

Will saß auf der Küchenbank neben einem pappsatten Walter, der sich zufrieden über die kleine Wölbung an seinem Bauch strich. „Ich glaube, ich habe in den zwei Tagen, die ich jetzt hier bin, schon etwas zugenommen.“ Beim letzten Wort scheiterte er bei dem Versuch, einen Rülpser zu unterdrücken, was ihm sehr peinlich war.

Will grinste, während er sich gierig eine randvolle Gabel Kartoffelpüree in den Mund schob. Kauend und schmatzend plapperte er los, ohne sich an den kleinen Kartoffelflocken zu stören, die dabei zwischen seinen Lippen herausschossen: „Da wirst du dich wohl mit abfinden müssen. Die Marlene ist die beste Köchin vom ganzen Selfkant. Warte erst mal ab, wenn die anfängt zu backen. Der ihre Kiwi-Jägermeistertorte ist ein Gedicht. Ganz altes Familiengeheimrezept. Wenn du drei Stück davon gegessen hast, darfst du kein Auto mehr fahren.“

„Jetzt hör aber auf, Will“, rief Marlene leicht beschämt von hinten. Nachdem Will ihr eröffnet hatte, dass Peter Kleinheinz zu Besuch kommen würde, hatte sie den Herd sofort begeistert wieder hochgefahren.

Es klingelte an der Haustür und Walter fuhr entsetzt zusammen. Diese Reaktion war nur allzu verständlich, denn mit „Klingel“ war das Höllengerät, das Besuch ankündigte, nur sehr unzureichend beschrieben. Die Lautstärke der Türglocke war so extrem eingestellt, dass man sie auch bis in die entlegenen Stallungen hören konnte, da sich Will und Marlene tagsüber die meiste Zeit auf dem Hofgelände aufhielten. An der Aufgabenstellung, den Klingelton innerhalb des Wohnbereichs moderat einzustellen, waren schon mehrere Elektriker gescheitert. Dem Ehepaar Hastenrath war das egal, sie nahmen den ohrenbetäubenden Lärm schon lange nicht mehr als solchen wahr. Ganz im Gegensatz zu ihrem Hund Knuffi, der in ein irres Kläffen verfiel und wie ein Geisteskranker zur Tür jagte. Auf seinen kleinen Pfoten schlitterte er mehr über die Fliesen, als dass er lief.

Will schlurfte gemütlich durch den Flur, voller Vorfreude, nach langer Zeit mal wieder seinen Freund Peter Kleinheinz, in die Arme zu schließen. Das sollte was heißen, denn gemeinhin hielt er nichts von übertriebener Herzlichkeit. Behutsam schob Will mit seinem Gummistiefel den heiser bellenden Knuffi beiseite und öffnete die Tür. Dort stand allerdings nicht Kleinheinz, sondern ein ihm gänzlich unbekannter Mann mit einem irritierten Gesichtsausdruck, was nicht weiter verwunderlich war bei dem Spektakel, das sich gerade in seinen Ohren abspielte. Der Mann trug eine helle Leinenhose, ein Poloshirt von Lacoste, darüber ein dunkelblaues Sportsakko. In der rechten Hand hielt er einen Aktenkoffer mit Zahlenschloss. Will wollte die Tür mit dem Satz „Wir kaufen nix“ schon wieder zuschmeißen, als der Mann einen Ausweis zückte und ihm vor die Nase hielt.

„Steueroberinspektor Wilfried Nollmann, Finanzamt Geilenkirchen. Ich bin hier, um die angekündigte Betriebsprüfung durchzuführen. Sie gestatten?!“

Freundlich, aber bestimmt schob er sich an dem verdutzten Landwirt vorbei in den Flur. Als Knuffi sich dem Beamten knurrend in den Weg stellte, blieb dieser stehen. Allerdings weniger aus Furcht, als vielmehr aus Sorge, aus Versehen auf den kleinen Hund draufzutreten.

Will schloss die Tür und stotterte: „Ich versteh nicht ganz. Was für eine Prüfung?“

Der Mann sah sich kurz im Flur um und ging dann zu dem kleinen Telefontisch. Er stellte seinen Aktenkoffer darauf ab und ließ die beiden Schlösser aufschnappen. Wortlos blätterte er durch ein paar Unterlagen und zog dann ein amtliches Papier heraus, auf dem der Stempel „Kopie“ prangte. Er richtete sich wieder kerzengerade auf und reichte es Will mit den Worten: „Die Betriebsprüfung, die Ihnen mit dieser Prüfungsanordnung nach §193 Absatz 1 der Abgabenordnung vom 27.06.2017 angekündigt wurde.“

Will nahm das Blatt zögernd in die Hand und überflog Sätze wie „steuerliche Außenprüfung“, „die Jahre 2014 bis 2016“, „Bereitstellung aller Unterlagen“, „in den Geschäftsräumen des Agrarbetriebs“. Verwirrt gab er das Schreiben zurück und sagte: „Da muss es sich um ein Missverständnis handeln. Ich habe kein Brief erhalten.“

Mehrere Sekunden standen die beiden Männer sich schweigend gegenüber, bis Wills Blick sich plötzlich, einer bösen Ahnung folgend, senkte und an Knuffi hängen blieb. Der gerade noch fröhlich vor sich hinkläffende Hund stellte abrupt seine Aktivitäten ein, als ihn der stechende Blick seines Herrchens traf. Aus großen Knopfaugen blickte er zurück und zog instinktiv den Schwanz ein. Will spürte den Zorn in sich aufsteigen. Mit hochrotem Kopf brüllte er: „Du kleiner Scheißköter. Du hast der Brief kaputt gerissen. Ich werd dich …“

Noch bevor er seine Drohung konkretisieren konnte, drehte Knuffi sich um und rannte junkend und schlitternd zurück in die Küche.

Nur Sekunden später ertönte von dort die verärgerte Stimme von Marlene: „Was ist denn jetzt schon wieder los, Will? Der kleine Knuddelbär ist ganz verängstigt.“

„Nix. Ist schon gut“, rief Will zurück. So schnell die Wut gekommen war, so schnell hatte er sie auch schon wieder unter Kontrolle gebracht. Er atmete einmal tief durch und sagte dann zu dem Mann vom Finanzamt, der das ganze Schauspiel ohne größere Gefühlsregung verfolgt hatte: „Ja, was darf ich Sie denn mal anbieten? Ein Dujardeng?“

Der Mann hob die linke Augenbraue und antwortete: „Einen Arbeitsplatz und die Aktenordner der Jahre 2014 bis 2016.“

Es wurde kalt im Raum.

Schmerz
5
Dienstag, 25. Juli, 19.58 Uhr

Ausgepumpt saßen die Spieler der zweiten Mannschaft des SV Grün-Gelb Saffelen auf dem Aschenplatz. Trainer-Urgestein Karl-Heinz Klosterbach, der die Mannschaft bereits im achtzehnten Jahr coachte, tigerte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf und ab und schüttelte unentwegt den Kopf. Er hatte es nie leicht gehabt mit dieser Truppe. Sechzehn Jahre lang war es der Mannschaft nicht gelungen, aus der Kreisliga C aufzusteigen, dafür waren sie in diesem Jahr zum ersten Mal abgestiegen – weil zur beginnenden Saison im September erstmals die Kreisliga D eingeführt worden war. Karl-Heinz Klosterbach gehörte zu den wenigen Trainern in dieser Liga, die im Besitz einer Trainerlizenz waren. Zwar besaß er nur die C-Lizenz Breitenfußball, die lediglich bis zur Kreisliga A galt, aber das sollte allem Anschein nach bis zu seiner Pension reichen. Schon seit Jahren hatte der SV Grün-Gelb Saffelen unter großen Nachwuchssorgen zu leiden. Das führte dazu, dass jeder Spieler, der einen halbwegs geraden Pass über zehn Meter schlagen konnte, in die ebenfalls chronisch unterbesetzte erste Mannschaft abberufen wurde, die aber immerhin in der Kreisliga B spielte. Und so kam es, dass Fredi Jaspers und Richard Borowka trotz ihrer bereits stolzen 43 Jahre immer noch zu den Leistungsträgern der Reserve zählten. Niemals hatten oder hätten sie woanders gespielt als in dieser Mannschaft. Seit dem Ausscheiden aus der A-Jugend waren sie dort zusammen mit ihren Freunden Tonne, der aufgrund seiner Körperfülle schon immer Torwart war, und Spargel, der trotz akuten Spielermangels meist Edelreservist war und seinem Trainer an heißen Tagen half, Wasserflaschen aufs Feld zu werfen. Zum Dank für seine Unterstützung an der Seitenlinie wurde er hin und wieder eingewechselt für taktische Fouls im Halbfeld. Am heutigen Abend hatte Spargel allerdings in der Startformation gestanden, weil außer ihm nur noch sieben weitere Spieler erschienen waren. Klosterbach hatte vor Wut darüber in der Kabine sogar einen Tisch umgeworfen, aber was sollte er machen? Gleich drei Mann waren verhindert, weil sie mit ihrem Kegelclub in El Arenal waren, und zwei hatten Spätschicht. Ausgerechnet heute, wo die Qualifikation zur ersten Runde im begehrten Selfkant-Cup stattfand und sogar erstmals seit Jahren glücken konnte. Denn das Losglück war den Saffelenern hold gewesen, da es ihnen nicht nur ein Heimspiel beschert hatte, sondern als Gegner auch noch die dritte Mannschaft vom SV Krautdorf. Krautdorf war zum einen qualitativ ebenbürtig, zum anderen verband die Mannschaft mit Saffelen eine jahrzehntelange, bittere Rivalität, was für großes Interesse und einen neuen Zuschauerrekord sorgte. Mehr als 60 Fans standen rund um den Aschenplatz und verwandelten mit ihren gegenseitigen wüsten Beschimpfungen das kleine Stadion am Saffelbach in einen wahren Hexenkessel. Auch die übrigen Voraussetzungen waren optimal: Es herrschte ideales Fußballwetter und Krautdorf hatte ebenfalls nur sieben Feldspieler und einen Torwart zusammenbekommen, Chancengleichheit war also gegeben. Der große Nachteil der dünnen Personaldecke auf beiden Seiten offenbarte sich allerdings nun in der Halbzeitpause. Konditionell waren alle am Ende. Die Saffelener saßen schweißgebadet auf dem Boden, nur Spielführer Borowka stand neben dem Platz und rauchte.

Karl-Heinz Klosterbach lief mit seinen breiten O-Beinen von einem zum anderen und versuchte jeden Einzelnen gestenreich zu motivieren: „Komm Junge, wir haben die doch am Rande der Niederlage.“ „Wenn der letzte Pass in die Tiefe mal kommt, dann haben wir die im Sack.“ „Du musst dich nur was konzentrieren bei die Ballannahme, dann funktioniert das auch irgendswann.“ „Tonne, versuch doch einfach mal, die Bälle festzuhalten.“ „Spargel, das war ein wunderschönes gestrecktes Bein, was du da eben gezeigt hast. Warum seh ich das nicht öfters von dir?“

Und in der Tat, das Spiel befand sich auf des Messers Schneide, noch war alles möglich. Es stand immer noch 0 : 0 und das, obwohl es schon drei Elfmeter für Saffelen gegeben hatte. Der Pfiff des Schiedsrichters ertönte und widerwillig trotteten die Mannschaften zurück auf den Platz. Die ersten paar Minuten plätscherte die Partie dahin, als dem gegnerischen Rechtsverteidiger plötzlich und unerwartet ein langer Ball nach vorn gelang, der die gesamte Saffelener Abwehr überrumpelte. Der Krautdorfer Stürmer lief allein auf Tonne zu, der zitternd auf den Einschlag wartete. Borowka zog als letzter Mann einen Sprint an und heftete sich an die Fersen des Angreifers. Schlimme Seitenstiche hätten ihn nach ein paar Sekunden fast zur Aufgabe gezwungen, aber dank seines eisernen Willens hielt er durch und konnte den Angreifer gerade noch außerhalb des Sechzehnmeterraums mit einem rustikalen Bodycheck stellen. Der Krautdorfer schlug hart auf der Asche auf und wand sich brüllend auf dem Boden. Irgendetwas in seiner Schulter hatte geknackt. Sofort kam es zu einem Handgemenge zwischen den Spielern und auch vereinzelte Zuschauer ballten ihre Fäuste, aber der Schiedsrichter hatte die Situation schnell wieder unter Kontrolle. Umsichtig wie er war, zeigte er Borowka lediglich die gelbe Karte, obwohl aufgrund der Notbremse auch eine rote vertretbar gewesen wäre. Das erzürnte zwar die Krautdorfer, die nun einen Spieler weniger hatten, weil ihr Stürmer mit Verdacht auf Schlüsselbeinbruch benommen vom Platz geführt wurde, aber dafür erhielten sie einen Freistoß in aussichtsreicher Position. Klosterbach beorderte mit hektisch rudernden Armen Fredi Jaspers nach hinten in die Mauer, obwohl dessen Aufgabe als Mittelstürmer normalerweise darin bestand, ganz vorn auf Bälle zu warten, die niemals kamen. Zu dritt stand er nun dort mit Borowka und Spargel und wartete mit den Händen vor dem Unterleib auf den Freistoß. Als der Krautdorfer Spieler Anlauf nahm, entdeckte Fredi eine Mücke auf seinem linken Unterarm, die er mit seiner Hand verscheuchen wollte, und so kam es, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände zu einem folgenschweren Unfall führte. Der mit Vollspann und voller Wucht getretene Ball landete direkt im ungeschützten Genitalbereich von Fredi Jaspers, der mit weit aufgerissenen Augen zu Boden ging. Die Schmerzen, die seinen Körper fluteten, waren kaum zu ertragen. Er schnappte verzweifelt nach Luft und wälzte sich stöhnend auf dem Boden hin und her. Borowka zögerte nicht lang und machte das, was ein guter Freund in einer solchen Situation macht. Er ging auf den Schützen zu und zertrümmerte ihm mit einem trockenen rechten Haken das Nasenbein.

 

Nun brachen alle Dämme im Stadion am Saffelbach. Die Zuschauer stürmten das Feld und es entwickelte sich eine wüste Schlägerei, die das Schiedsrichtergespann diesmal nur mit allergrößter Mühe wieder in den Griff bekam. Eine rote Karte und mehrere Stadionverweise später raufte Karl-Heinz Klosterbach sich das schüttere Haar ob der wieder einmal verpassten Chance auf einen historischen Sieg. Das Spiel wurde beendet, weil Saffelen nach der roten Karte und der schweren Verletzung von Fredi nur noch über sechs Spieler verfügte, was laut Reglement zum sofortigen Spielabbruch führt. Die Niederlage am grünen Tisch war damit besiegelt. Fredi Jaspers lag keuchend neben der Trainerbank und sprühte sich unentwegt Eisspray in die Hose.

„Wie geht es dir?“, fragte Borowka besorgt, als er dazukam. Er sah aus wie ein Krieger, der aus der Schlacht heimkehrt, denn sein Trikot war voller Blutflecken.

„Meine Fresse, tut das weh!“, keuchte Fredi, immer noch nach Atem ringend. „Meine Nüsse sind schon so dick wie Straußeneier und dunkelblau. Und das Scheiß-Eisspray ist alle.“

Borowka riskierte einen vorsichtigen Blick auf Fredis Gemächt und verzog angewidert das Gesicht. „Das sieht wirklich nicht gut aus. Komm, ich fahr dich mal besser im Krankenhaus.“

Fredi nickte.

Das Heinsberger Krankenhaus war gute 20 Kilometer entfernt. Während Borowka mit einem Affenzahn über die Landstraße raste, hatte Fredi sich den Beifahrersitz ganz heruntergedreht und presste beide Hände in der Hose fest auf seine Hoden. „Wenn uns jetzt einer anhält“, dachte Borowka und gab noch ein bisschen mehr Gas.

Das Ortsschild von Heinsberg war schon in Sichtweite, als Fredi fürchterlich aufstöhnte. Eine Bodenwelle hatte ihn voll erwischt und erneut blieb ihm die Luft weg. „Wie weit ist es noch? Ich halt es nicht mehr aus ohne Eis“, rief er.

Borowkas Augen irrlichterten wild herum und erspähten plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen schicken Landgasthof, den er bislang noch nie besucht hatte. Wozu auch, sie hatten ja schließlich in Saffelen den Grill-Container. Nun aber konnte das Restaurant ihre Rettung sein. Borowka stieg voll in die Eisen, der Wagen brach hinten aus und schleuderte quer über die Straße auf den Parkplatz des Gasthofs, wo er mit einer Vollbremsung direkt vor dem Eingang zum Stehen kam. Kies spritzte gegen die anderen Autos, die dort geparkt waren.

Borowka sprang aus dem Auto und rief Fredi zu: „Halt durch, ich hol dir was Eis.“ Dann spurtete er ins Restaurant und sah sich im Eingangsbereich hektisch um. Von innen sah das Lokal sogar noch besser aus als von außen. Die Einrichtung war stilvoll und modern. Aus den versteckten Lautsprechern an der Decke rieselte angenehme Klaviermusik und leises Gemurmel erfüllte den erstaunlich gut gefüllten, großen Raum, der durch seine verschachtelten Sitzecken und die dezente Dekoration ausgesprochen gemütlich wirkte. Borowka zuckte zusammen, als er von hinten angesprochen wurde:

„Guten Abend, haben Sie reserviert?“

Er drehte sich um und erblickte einen gepflegten, jungen Mann in einer Art Smoking. Sein Haar war mit viel Gel nach hinten gestrichen und der Rücken durchgedrückt. Über seinen Arm hatte er eine weiße Serviette gelegt.

„Öhm, nee“, stotterte Borowka leicht eingeschüchtert, „ich bräuchte aber ganz dringend für ein Notfall ganz viele Eiswürfel. Kann ich die bei Sie kaufen?“

Der Kellner verzog keine Miene und antwortete freundlich: „Nein, die müssen Sie nicht kaufen. Ich gebe Ihnen gerne welche mit. Warten Sie bitte hier, dann pack ich Ihnen etwas in eine Tüte.“

„Danke“, sagte Borowka, während der Mann im Smoking in der Küche verschwand.

„Ich wusste gar nicht, was es hier für schicke Läden gibt“, dachte Borowka, während er sich umsah. Plötzlich blieb sein Blick an einem Tisch hängen. Er rieb sich kurz seine Augen, weil er ihnen nicht traute. Aber es stimmte. Fredis Freundin Sabrina saß zwischen drei Anzugträgern und hielt lachend ein Glas Champagner in die Höhe. Die Männer taten es ihr nach und stießen gemeinsam in der Luft an. Sabrina trug ein elegantes Abendkleid und ein diesmal recht auffälliges Make-up. Vor allem die vollen roten Lippen stachen ins Auge. Sie war eingerahmt von zwei attraktiven Männern, ungefähr Mitte dreißig, von denen einer ständig ihren Arm tätschelte und sie mit einem besonders breiten und weißen Lächeln anhimmelte. Der Mann, der ihr gegenüber saß, war nicht zu erkennen, es schien sich aber um einen etwas älteren Herrn zu handeln, denn er hatte einen grauen Haarkranz.

Verstohlen blickte Borowka sich um und zog dann sein Handy aus der Tasche. Heimlich machte er ein paar Fotos von der Szene, als der Kellner plötzlich wieder wie aus dem Nichts auftauchte.

„Hier bitte, Ihr Eis.“ Borowka zuckte erneut heftig zusammen. Das lautlose Anschleichen von hinten gehörte hier offensichtlich zur Grundausbildung. Immerhin hatte der Mann bestimmt ein halbes Kilo zerstoßenes Eis in eine durchsichtige Tüte gepackt und fein säuberlich mit einem Clip verschlossen. Borowka bedankte sich und ging zurück zum Auto, wo sich Fredi voller Dankbarkeit sofort den ganzen Beutel vorn in die Sporthose stopfte und erleichtert aufatmete. „Das sollte jetzt bis zum Krankenhaus reichen“, sagte Borowka und ließ den Motor wieder aufheulen.