Internationale Beziehungen

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2.3 | Liberalismus

Ideengeschichtlich knüpft der Liberalismus an liberale Philosophen wie John Locke (1632–1704) oder Immanuel Kant (1724–1804) an. In wirtschaftswissenschaftlicher Hinsicht kann auch David Ricardo (1772–1823) als Vordenker gelten. Ungeachtet der einzelnen Varianten des Liberalismus teilen alle liberale Philosophen und Politikwissenschaftler einen Kerngedanken, der sie sowohl vom Neorealismus als auch vom Institutionalismus unterscheidet: Das Verhalten von Staaten hängt maßgeblich von einer Vielzahl innenpolitischer Faktoren ab, ohne deren Berücksichtigung es nicht verstanden werden kann (Peters 2007). Staaten können also nicht — wie Neorealisten und Institutionalisten annehmen — als eine Einheit, als einheitlicher Akteur, verstanden werden. Vielmehr werden Bedürfnisse von Individuen und Gruppen der Gesellschaft in einem Willensbildungsprozess zu Präferenzen eines Staates verarbeitet, die die Regierung dann nach außen vertritt (Moravcsik 2010).

Demokratischer Frieden

Aber welche innenpolitischen Faktoren kommen dabei in Betracht? Zwei Strömungen des Liberalismus geben darauf eine unterschiedliche Antwort. Die erste folgt Immanuel Kants Schrift »Zum Ewigen Frieden«, die Michael Doyle (1996) wieder aufgegriffen hat. Er gab damit den Anstoß zu einem großen und international weitverzweigten Forschungsprogramm Internationaler Beziehungen. Dessen zentrale Annahme ist, dass das nach außen gerichtete Verhalten von Staaten maßgeblich davon abhängt, ob das politische System eine Demokratie oder eine autoritär regierte Diktatur ist. Daraus wurde die Theorie des demokratischen Friedens entwickelt. Bruce Russett, und John R. Oneal gehören zu den wichtigsten Forschern auf diesem Feld. Für Deutschland sind vor allem die Arbeiten von Ernst O. Czempiel, Anna Geis, Harald Müller oder das Forschungsprojekt zur parlamentarischen Kontrolle von Streitkräften an der Universität Düsseldorf unter der Leitung von Hartwig Hummel und Stefan Marschall zu nennen. Wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung für Internationale Beziehungen ist diesem Forschungszweig des Liberalismus ein eigenes Kapitel gewidmet ( Kap. 4), so dass hier nicht näher darauf eingegangen wird.

Einfluss innenpolitischer Akteure

Die zweite Strömung des Liberalismus wird maßgeblich von der Außenpolitikforschung geprägt (Hudson 2005; 2007). Das außenpolitische Verhalten von Staaten beruht dieser Strömung zufolge weniger auf Merkmalen des politischen Systems, sondern vor allem auf dem Einfluss innenpolitischer Akteure. In den modernen Internationalen Beziehungen vertreten vor allem Andrew Moravcsik, Robert D. Putnam oder Helen V. Milner diese Strömung. In Deutschland sind es insbesondere Helga Haftendorn, Hanns W. Maull und Wolfgang Muno.

Akteurstypen

Liberale Forscher beziehen eine breite Spanne von Akteurstypen in ihre Analysen mit ein. Dazu gehören sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure. Die staatlichen Akteure können weiter unterteilt werden in z. B. Exekutive und Legislative, Ministerien, Verwaltungseinrichtungen oder Behörden mit regionaler oder kommunaler Zuständigkeit. Die politischen Parteien und die Medien werden häufig als Akteurstyp begriffen, der zwischen Staat und Gesellschaft steht und beide Bereiche verbindet.

Organisationsgrad und Strategiefähigkeit

Gesellschaftliche Akteure sind in erster Linie Interessengruppen und Lobbyisten, die sich nach Organisationsgrad und Strategiefähigkeit unterscheiden. Der Organisationsgrad gibt an, zu welchem Anteil eine gesellschaftliche Gruppe, z. B. Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, in einer Interessengruppe organisiert ist. Strategiefähigkeit beschreibt die Durchsetzungsfähigkeit einer Interessengruppe im politischen Willensbildungsprozess (Streeck 1992; Thelen 2012). Zu den gesellschaftlichen Akteuren gehören zudem weitere Verbände und Vereine, die am Willensbildungsprozess teilnehmen, sowie soziale Bewegungen und schließlich die öffentliche Meinung.

Willensbildung

Andrew Moravcsik vertrat die These, dass Regierungen in ihrer Außenpolitik jeweils diejenige Position verträten, die sich im innenpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess durchsetzen konnte (Moravcsik 1993; 1997). In seinen empirischen Arbeiten zeigte er, wie die jeweils durchsetzungsfähigsten Interessen die Regierungen der größeren europäischen Staaten dazu brachten, die Europäischen Gemeinschaften zu gründen und die europäische Integration bis hin zur Bildung der Europäischen Union durch Vertragsreformen zu vertiefen (Moravcsik 1991; 1998; Moravcsik/Nicolaidis 1999). Er sah allerdings keine Möglichkeit, diese Durchsetzungsfähigkeit allgemein zu bestimmen. Sie müsse vielmehr für jede außenpolitische Einzelfrage empirisch festgestellt werden.

Spektrum von Positionen

Um allgemeine theoretische Aussagen jenseits des Einzelfalls zu ermöglichen, ordnete Robert Putnam (1988) die Positionen von Staaten auf einem gemeinsamen räumlichen Spektrum an. Er wollte zwei Fragen beantworten:

1. Kommt zwischen Staaten Kooperation zustande oder nicht?

2. Wenn eine Kooperation zustande kommt, welcher Staat setzt sich mit seinem Standpunkt eher durch?

Abb. 2.2 | Distanz als Kooperationshindernis


Quelle: Putnam (1988).

Winset und Overlap

Kooperationshindernis Distanz

In Abbildung 2.2 verhandeln die Staaten A und B miteinander, um eine Kooperationsvereinbarung abzuschließen. Die Distanz zwischen den beiden Idealpositionen von A und B ist das räumliche Spektrum, von dem bereits die Rede war. Regierungen legen fest, wie weit sie bereit sind, der jeweils anderen Seiten entgegenzukommen, d. h. von ihren eigenen Idealvorstellungen abzurücken. Die Spanne der möglichen Konzessionen eines Staates auf diesem Spektrum wird Winset genannt. Die maximal möglichen Konzessionen sind durch die eckigen Klammern und die Bezeichnung Amax bzw. Bmax gekennzeichnet. Dabei sind zwei denkbare Möglichkeiten zu unterscheiden: Situation X (schwarze Klammern und Doppelpfeile) und Situation Y (blaue Klammern und Doppelpfeile). In der Situation X sind Staat A und Staat B nur in geringem Umfang konzessionsbereit. Daher verfügen sie nur über ein kleines Winset Ax bzw. Winset Bx. Beide Winsets überschneiden sich nicht. Dies bedeutet, dass zwischen A und B keine Übereinkunft, d. h. keine Kooperation möglich ist, weil ihre Positionen zu weit auseinanderliegen. Diese große Distanz ist das entscheidende Kooperationshindernis. Putnams erste Frage kann in der Situation X mit »nein« beantwortet werden.

Definitionen

Winset und Overlap

Unter Winset versteht man die Spanne der Konzessionen, die ein Staat gegenüber anderen Staaten machen kann. Sie wird begrenzt durch die Notwendigkeit, internationale Übereinkünfte innenpolitisch ratifizieren zu müssen.

Ein Overlap ist der Bereich, in dem sich die Winsets von Staaten überschneiden. Dieser Bereich bildet die Gesamtmenge gemeinsamer Positionen.

In der Situation Y sind Staat A und Staat B dagegen sehr konzessionsbereit. Sie verfügen über große Winsets, die bis zu den Klammern Ay-max und By-max reichen. Dabei wird deutlich, dass sich die beiden Winsets Ay und By in der Zone des Overlap überschneiden. In ihr ist eine Übereinkunft – eine Kooperation zwischen A und B – möglich. In der Situation Y lautet die Antwort auf Putnams erste Frage deshalb »ja«. Allgemein kann festgehalten werden: Große Winsets erhöhen die Wahrscheinlichkeit von internationaler Kooperation, kleine Winsets verringern die Kooperationswahrscheinlichkeit.

Ratifikation

Warum sind in internationalen Beziehungen teils Situation X teils Situation Y zu beobachten? Die Antwort des Liberalismus: Die Konzessionsbereitschaft von Regierungen hängt von der Innenpolitik ab. Regierungen sind darauf angewiesen, dass ihre Übereinkünfte mit anderen Staaten »zu Hause« auf Zustimmung stoßen. In Demokratien ist diese Zustimmung oftmals sogar in einem formalen Sinn erforderlich, denn die Legislativen müssen die internationalen Übereinkünfte (Verträge) der Regierungen (Exekutiven) »ratifizieren«, d. h. mit Mehrheit bestätigen. Aber auch in Diktaturen gibt es meistens politische Gremien, die ihre Zustimmung zu internationalen Übereinkünften erteilen müssen. Wenn eine Regierung in den internationalen Verhandlungen zu weitgehende Konzessionen gemacht hat, wird das Verhandlungsergebnis zu Hause nicht ratifiziert. Die Übereinkunft kann nicht in Kraft treten. Aus diesem Grund müssen Regierungen entweder antizipieren oder durch Befragen der Akteure, die der Ratifikation zustimmen müssen, ermitteln, wie konzessionsbereit sie in Verhandlungen sein können. Mit anderen Worten: Die Größe eines Winsets wird von denjenigen innenpolitischen Akteuren festgesetzt, deren Zustimmung zur Ratifikation einer internationalen Übereinkunft notwendig ist.

Stärke kleiner Winsets

Damit kann auch die zweite Frage von Putnam beantwortet werden: Kommt es zwischen Staaten zu Überschneidungen der Winsets, so wird sich derjenige Staat überwiegend mit seiner Position durchsetzen, der das kleinere Winset hat. Staaten mit großen Winsets müssen dagegen weiter gehende Konzessionen machen als Staaten mit kleinen Winsets. In diesem Fall sind die Winsets unterschiedlich breit. Wenn sie jedoch gleich breit sind, so setzt sich keine Seite stärker durch als die andere.

 

Minimale Mehrheitskoalition

Um die Größe der Winsets genau bestimmen zu können, benutzen liberale Denker die Theorie der minimal notwendigen Mehrheitskoalition von William Riker (Riker 1962). Sie besagt, dass Akteure Koalitionen bilden, die aus der Anzahl von Akteuren besteht, die minimal notwendig ist, um eine Mehrheit zu bilden.14 Diese Theorie wird auf die Darstellung in Abbildung 2.2 übertragen, indem man die Akteure gemäß ihrer Konzessionsbereitschaft auf dem räumlichen Spektrum anordnet. Der konzessionsbereiteste Akteur des Staates A wird am nahesten zu Staat B platziert, der zweit-konzessionsbereiteste links daneben usw. Hat man alle Akteure gemäß ihrer Konzessionsbereitschaft auf diesem Spektrum eingetragen, so kann man denjenigen Akteur ermitteln, dessen Zustimmung gerade noch erforderlich ist, damit eine notwendige Mehrheit für die vereinbarte Übereinkunft zustande kommt. Dieser Akteur verfügt über die zur minimalen Mehrheitsbildung letzte notwendige Stimme und ist daher der Dreh- und Angelpunkt (englisch: pivot). Seine Position auf dem Spektrum entspricht genau der Position Amax des Winsets von Staat A. Links von Amax kommen zwar weitere Mehrheiten zustande, die jedoch nicht mehr nur minimal, sondern größer als unbedingt erforderlich sind. Dasselbe Verfahren zur Winset-Bestimmung kann man für Staat B benutzen.

Dreh- und Angelpunkt

Aufgrund dieser Überlegungen kann man die Antwort auf Putnams zweite Frage weiter präzisieren: Wenn zwischen den Winsets ein Overlap besteht, so wird sich derjenige Akteur mit seiner Position durchsetzen, der den Dreh- und Angelpunkt bildet, weil seine Stimme den Ausschlag dafür gibt, dass eine Mehrheit zustande kommt (Milner 1997).

Einfluss der Exekutiven

Können sich also Regierungen (Exekutiven) mit ihren eigenen Positionen gar nicht durchsetzen, sondern sind vollkommen abhängig vom Akteur des Dreh- und Angelpunktes? Die Antwort ist »nein«. Regierungen führen die Verhandlungen mit anderen Staaten und entscheiden, ob sie eine Übereinkunft abschließen wollen oder nicht. Dies bedeutet: Auch die Exekutive muss der Größe und der Platzierung des Winsets auf dem Spektrum von Abbildung 2.2 zustimmen und kann deshalb zum Dreh- und Angelpunkt werden, denn auch ihre Zustimmung ist erforderlich, damit die Ratifizierung erfolgt. Ist die Konzessionsbereitschaft der minimalen Mehrheitskoalition der Legislative größer als die der Exekutive, so bildet die Position der Exekutive den Dreh- und Angelpunkt. In diesem Fall setzt sich die Position der Exekutive durch, wenn eine Kooperation zustande kommt. Die konzessionsbereitere Legislative kann keinen Einfluss auf die zwischenstaatliche Übereinkunft mehr ausüben. Dies bedeutet, dass die minimale Mehrheitskoalition der Legislative nur dann Einfluss auf die Übereinkunft zwischen Staaten ausübt, wenn sie weniger kooperationsbereit ist als die Exekutive (Meunier 2000; Milner 1997).

Helen V. Milner und Peter Rosendorff (Milner 1997) haben diese Modellbildung des Liberalismus weiter verfeinert. Sie weisen noch auf die Bedeutung von Interessengruppen hin sowie auf das, was passiert, wenn nicht alle beteiligten Akteure über das gleiche Maß an Informationen verfügen. Diese sehr wichtigen Überlegungen können hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden.

Zusammenfassung

Liberalismus

Staaten sind keine einheitlichen Akteure. Ihre Außenpolitik hängt maßgeblich davon ab, welche Bedürfnisse von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft vertreten werden. Diese Bedürfnisse werden durch einen Willensbildungsprozess zu staatlichen Präferenzen verarbeitet. Die Regierung vertritt diese Präferenzen nach außen. Ob es zwischen Staaten zu Kooperation oder Konflikt kommt, hängt deshalb davon ab, wie groß die Distanz zwischen den staatlichen Präferenzen ist und ob diese sich überschneiden oder nicht. Große Winsets erhöhen die Wahrscheinlichkeit internationaler Kooperation, kleine Winsets verringern diese Wahrscheinlichkeit.

Wenn eine Kooperation zustande kommt, setzen sich Staaten mit kleinen Winsets gegen Staaten mit großen Winsets durch. Größe und Lage der Winsets auf einem Spektrum hängen von demjenigen Akteur ab, dessen Zustimmung zu einer notwendigen Mehrheit gerade noch notwendig ist. Dieser Akteur bildet den Dreh- und Angelpunkt auf dem Spektrum. Seine Position bestimmt maßgeblich den Inhalt einer zwischenstaatlichen Übereinkunft.

2.4 | Konstruktivismus

»Der Konstruktivismus befasst sich mit dem menschlichen Bewusstsein und seiner Rolle im internationalen Leben« schreibt John G. Ruggie (1998: 856, Übersetzung ChT). Es seien deshalb nicht die materiellen Faktoren, die über Konflikt oder Kooperation entscheiden, sondern immaterielle, insbesondere die Vorstellungswelten von Menschen und sozialen Gruppen.

Sozialidee

Ideengeschichtlich wurzelt der Konstruktivismus in den Schriften zweier Spanier, des Theologen Francisco de Vitoria (ca. 1483–1546) und des Juristen Fernando Vasques (1512–1569), sowie in denen des niederländischen Philosophen Hugo Grotius (1583–1645). Letzterer hat die Sozialidee in die Internationale Beziehungen eingeführt, die den verbindenden Kern zwischen den verschiedenen Varianten des Konstruktivismus bildet. Über dem Staat erkannte Grotius eine »übernationale Verbundenheit der Menschen [...] als die umfassendste Gemeinschaft, für die gewisse grundlegende, Völker wie Fürsten bindende Sätze des Naturrechtes Gültigkeit besitzen [...]«. In dieser Gemeinschaft gelte ein »auf Vereinbarungen, Herkommen und überlieferte Staatenpraxis gestütztes, auf dem ›consensus gentium‹ beruhendes Recht« (Meyers 1979: 140–141).

Moderne Konstruktivisten wie Nicholas Onuf, Alexander Wendt, Emanuel Adler, Peter J. Katzenstein oder John G. Ruggie griffen diese Grundgedanken auf und entwickelten ihn weiter. Sie zogen dabei Verbindungen vor allem zur Soziologie. In Deutschland wird der Konstruktivismus vor allem von Friedrich Kratochwil, Thomas Risse oder Christopher Daase vertreten. Der Konstruktivismus hat aber auch eine große Zahl junger Politikwissenschaftler angezogen, die Theorie und empirische Forschung systematisch vorantreiben.

Sozialtheorie

Die Theorie des Konstruktivismus und ihre Auseinandersetzung mit anderen Theorien setzt auf einer höheren Abstraktionsebene an, als die bisher betrachteten IB-Theorien (vgl. Abb. 2.3). Der Konstruktivismus argumentiert zunächst auf der Ebene einer Sozialtheorie und korrespondiert deshalb mit dem Rationalismus. Sozialtheorien machen Aussagen über das Wesen des sozialen Lebens und den sozialen Wandel. Sie machen aber keine Aussagen über die Bedeutung sozialer Strukturen, das Wesen von Akteuren oder Politikergebnisse wie Konflikt und Kooperation. Der Rationalismus behauptet, das Wesen sozialen Lebens bestehe aus dem materialistischen Gewinnstreben. Der Konstruktivismus hält dagegen, immaterielle Vorstellungen von »richtig« und »falsch« oder »gut« und »böse« prägten die soziale Welt.

Varianten

Akteur und Struktur

Konkrete Aussagen zum Verhalten von Akteuren in internationalen Beziehungen sowie deren Ursache und Wirkung erfordern die Formulierung von konstruktivistischen IB-Theorien, die – wie Realismus, Institutionalismus, Liberalismus – eine Abstraktionsstufe tiefer angesiedelt sind. Hier gibt es viele verschiedene Varianten konstruktivistischer Theorie, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen, sondern nur beispielhaft behandelt werden können. In seiner detaillierten Auseinandersetzung mit dem Realismus nach Kenneth Waltz argumentierte Alexander Wendt (Wendt 1999; 1992), dass Anarchie kein gleichermaßen naturgegebenes Merkmal der Struktur Internationaler Beziehungen sei. Vielmehr sei dieses Merkmal zustande gekommen, weil Staaten als Akteure es durch ihr Verhalten sozial »konstruiert« hätten. Insofern sei es Teil der Vorstellungswelt von Akteuren und könnte von denen auch wieder geändert werden. Denn Strukturen und Akteure beeinflussten sich gegenseitig: Akteure schafften Strukturen, die wiederum auf das Verhalten von Akteuren zurückwirkten und ihnen Akteursqualität verliehen (Wendt 1999; 1987).

Abb. 2.3 | Abstraktionsebenen von Theoriedebatten


Quelle: eigene Darstellung.

Identität

Eine weitere wichtige Frage konstruktivistischer Theoriebildung ist, wie Akteure wissen können, was »richtig« oder »falsch«, was »gut« oder »böse« ist. Die Antwort liegt in der Identität der Akteure. Wendt (1999) unterschied zwischen Typ-Identität und Rollen-Identität. Typ-Identität beziehe sich auf typische Merkmale von Staaten als Akteure. Dazu gehöre z. B., ob es sich um Demokratien oder Diktaturen, parlamentarische oder präsidentiale Systeme, theokratische oder säkularisierte Systeme handle. Die Vorstellung von richtigem und falschem Verhalten werde sich maßgeblich an diesen Akteursmerkmalen ausrichten. Rollen-Identitäten seien dagegen das Ergebnis von Beziehungen zu einem anderen Akteur. So empfänden Staaten andere Staaten als Freund, Wettbewerber, Rivale oder sogar als Feind. Dies ermögliche es, dass die USA z. B. fünf Kernsprengköpfe Nordkoreas als äußerst bedrohlich einstuften, die bis zu 200 Nuklearwaffen Israels jedoch für ungefährlich hielten (Finnemore/Sikkink 2001; Wendt 1999).

Sozial konstruierte Interaktion

Angemessenheit

Umfeld und Interesse

Von den rationalistischen Theorieschulen des Realismus, Institutionalismus und Liberalismus unterscheidet sich der Konstruktivismus also wesentlich durch die Auffassung, dass Interessen von Akteuren nicht vereinfachend als vorwiegend ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle aufgefasst werden können. Vielmehr werden Interessen durch die soziale Interaktion zwischen Akteuren erst »konstruiert«. Damit verfügen Akteure über ein weitaus reichhaltigeres Repertoire möglicher Handlungen und Verhaltensformen, weil sie sich nicht nur an Kosten-Nutzen-Kalkülen ausrichten müssen. Wie sie sich entscheiden und verhalten, hängt nicht nur von der Überlegung ab, welche materiellen Folgen ihr Verhalten hat (Logik der Konsequenz), sondern auch davon, ob und in welchem Maß andere Mitglieder der Gemeinschaft dieses Verhalten positiv beurteilen (Logik der Angemessenheit) (March/Olsen 1998).. Verhalten beruht nicht nur auf der Erwartung, Gewinne zu erzielen, sondern auch darauf, was als »richtig« oder »angemessen« betrachtet wird. Während eine Gewinnerwartung individuell und ohne Bezug zum sozialen Umfeld ermittelt werden kann, beruht die Beurteilung von richtigem oder falschem Verhalten auch auf dem Urteil anderer Akteure. Daher gewinnt das soziale Umfeld von Akteuren maßgeblich Einfluss darauf, was als Interesse angenommen wird.

Definition

Die Logiken der Konsequenz und Angemessenheit

Akteure können in ihrem Verhalten entweder der Logik der Konsequenz oder der Logik der Angemessenheit folgen. Die rationalistische Logik der Konsequenz bedeutet, dass Akteure ihr Verhalten an der materialistischen Kosten-Nutzen-Erwartung ausrichten. Die konstruktivistische Logik der Konsequenz bedeutet, dass Akteure ihr Verhalten an sozialen Normen über »richtig» und »falsch« orientieren. Diese Normen gelten in sozialen Gemeinschaften als verbindlich. Es sind solche sozialen Normen, mit denen die Akteure sich identifizieren.

Hinzu kommt, dass auf diese Weise sozial konstruierte Interessen nicht wie wirtschaftliche Gewinnerwartungen ewige Gültigkeit beanspruchen können. Vielmehr erlaubt der stetige Prozess sozialer Interaktion, dass sich Vorstellungen von »richtig« oder »falsch« im Laufe der Zeit ändern oder sich sogar ins Gegenteil verkehren.15

 

Dynamik von Wertewandel

Identität und Abgrenzung

Allerdings werden die Vorstellungen davon, was richtig oder angemessen ist, nicht von allen Menschen geteilt. Es gibt kaum universell gültige Werte. Akteure bilden vielmehr Gemeinschaften, die u. a. auf gemeinsamen Werten beruhen, mit denen sich Gemeinschaften jedoch auch gegen andere Gemeinschaften abgrenzen. Zwischen dem »Wir« und den »Anderen« entsteht durch Gemeinschaftsbildung eine unsichtbare Grenze. Sie beruht maßgeblich darauf, dass Mitglieder einer Gemeinschaft nicht nur gemeinsame Werte — Vorstellungen von »gut «und »böse« von »richtig« und »falsch« — teilen, sondern auch darauf, dass sie diese Vorstellungen durch gelebte Praxis immer wieder neu als gemeinschaftsbildend erneuern. Teil dieser gelebten Praxis ist dabei auch die Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften, indem man weder deren Werte noch deren gemeinschaftsbildende Praktiken akzeptiert oder gar selbst praktiziert.

Zivilisationskampf oder …

… globale Ökumene

Diese Selbstidentifikation von Akteuren mit Gemeinschaften fördert das Denken und Handeln nach Vorstellungen von »Freund« und »Feind«. Samuel Huntington zog daraus den Schluss, dass die modernen internationalen Beziehungen in einer Konfrontation von Zivilisationen (d. h. Wertegemeinschaften) mündeten (Huntington 1996) ( Kap. 11). Peter Katzenstein hielt dagegen, dass eine solche Konfrontation sich verhindern ließe, wenn man die alle Gemeinschaften verbindenden Elemente — Menschenrechte und Wohlfahrt — beachte und diese Gemeinschaften in eine globale Ökumene einbette (Katzenstein 2010b). Unter Ökumene versteht Katzenstein ein universales System von Wissen und Praktiken, das zivilisatorische Einheit fördert, statt wie das bestehende kompetitive Staatensystem nur die Abgrenzungen zwischen Zivilisationen zu reproduzieren (Katzenstein 2010b: 12). In dieser Ökumene müssten die verschiedenen Gemeinschaften sich begegnen (encounter) und miteinander Verbindungen eingehen (engagement).

Völkerrecht

Es ist also durchaus denkbar, dass Staaten als Akteure ihr Verhalten in internationalen Beziehungen an gemeinsamen Normen und Regeln16 ausrichten. Die Vorstellungen von »richtig« und »falsch«, »gut« und »böse« beruhen zu einem guten Teil auf solchen gemeinschaftlichen Normen. Im Bereich der internationalen Beziehungen ist das Völkerrecht das augenfälligste Beispiel. Darunter fallen nicht nur alle schriftlich niedergelegten Übereinkünfte, sondern auch die weitverbreiteten und praktizierten Gewohnheiten im Leben internationaler Beziehungen. Die spannende Frage ist deshalb, wie solche Normen entstehen, wenn es in internationalen Beziehungen keine Autorität gibt, die verbindlich Gesetze verabschieden kann.

Normentstehung

Überredungskunst

In Abbildung 2.4 ist vereinfacht dargestellt, wie internationale Normen entstehen (Finnemore/Sikkink 1998). Dieser Prozess kann in drei Phasen eingeteilt werden: In der ersten Phase muss sich ein sogenannter Normunternehmer aufschwingen, die Bildung einer neuen Norm anzustoßen. Zu diesem Zweck wird er auf ein Problem hinweisen und dessen Dringlichkeit unterstreichen. Sein herausragendes Ziel ist, eine öffentliche Resonanz zu erzeugen und möglichst viel zustimmende Unterstützung für seinen Normvorschlag zu sammeln. Dabei wird er häufig auf Widerstand treffen. Dieser Widerstand wird meist auf bestehende Normen gründen. Der Normunternehmer muss deshalb aufzeigen, dass die alten Normen falsch oder illegitim sind und/oder Probleme schaffen. Mit viel Überredungskunst und Überzeugungskraft muss er die Überlegenheit seiner neuen Norm nachweisen, so dass er breite Unterstützung erhält. Dabei kann er auch Strategien wählen, die von gezieltem »unangemessenem« Handeln bis zum organisierten zivilen Widerstand reichen.

Abb. 2.4 | Lebenszyklus von Normen


Quelle: Finnemore/Sikkink (1998, Übersetzung ChT).

Kipppunkt

Normkaskade

Die Bemühungen des Normunternehmers in Phase eins erfordern einen langen Atem, denn diese Phase kann sehr lange dauern. Der sogenannte Kipppunkt ist erreicht, wenn ungefähr ein Drittel der relevanten Akteure – Staaten in internationalen Beziehungen – der neuen Norm des Normunternehmers zustimmen. Es folgt die Phase zwei, die Normkaskade. In dieser sehr viel kürzeren Phase akzeptieren immer mehr Staaten die neue Norm, ohne dass sie dazu unter innenpolitischen Druck gesetzt werden müssen. Staaten wollen andere nachahmen oder werden von deren Verhaltensweisen nach der neuen Norm »angesteckt«. Sie werden gemäß der neuen Norm in der Staatengemeinschaft neu sozialisiert: Um nach wie vor zur Gemeinschaft zu gehören und um ihre Legitimität als Mitglied zu bewahren, werden sie sich der neuen Norm anschließen und unterwerfen. Normunterstützer machen sich dabei auch den sogenannten Bumerang-Effekt ( Kap. 9.2) zunutze: Sie benutzen grenzüberschreitende gesellschaftliche Netzwerke, indem sie an eine ähnlich gesinnte Gruppe in einem anderen Land appellieren, Druck auf deren Regierung auszuüben, damit diese Einfluss auf die eigene Regierung ausübt, sich der neuen Norm anzuschließen (Keck/Sikkink 1998).

Norminternalisierung

Die dritte Phase ist die sogenannte Norminternalisierung. Dies bedeutet, dass die neue Norm zu einer gewohnheitsmäßigen Selbstverständlichkeit wird. Akteure richten sich nach ihr, ohne über die Gründe oder Alternativen nachzudenken. Damit ist die Norm tief in das Unterbewusstsein eingedrungen. Sie gibt an, was das »richtige« Verhalten ist. Zusammen mit einer internationalen Forschungsgruppe hat Thomas Risse (Risse/Ropp/Sikkink 1999; 2013) dieses einfache Modell zum sogenannten »Spiralmodell« weiter verfeinert ( Kap. 9.2).

Zusammenfassung

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus konzentriert sich auf die Frage, wie menschliches Bewusstsein und soziale Vorstellungswelten politisches Handeln beeinflussen. Wie wirken sich Vorstellungen von »richtig« oder »falsch«, »gut« oder »böse« auf Handeln aus? In Abgrenzung vom Rationalismus werden immaterielle Ursachen in die Analyse Internationaler Beziehungen eingeführt. Was Menschen als »richtig« oder »falsch« betrachten, folgt aus ihrer sozialen Identität. Diese Identität ist geprägt von der Identifikation des Einzelnen mit sozialen Gruppen, die eine Gemeinschaft mit einem »Wir«-Gefühl bilden und sich damit gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzen. Gemeinschaften beruhen vor allem auf praktizierten Normen, die sich im Zuge eines zyklischen Normbildungsprozesses herausgeschält haben.

Lernkontrollfragen

1.Warum benutzen Forscher Theorien Internationaler Beziehungen? Wozu dienen diese Theorien; warum sind sie zweckmäßig?

2.Was ist der wichtigste Unterschied zwischen internationalen Beziehungen einerseits und Innenpolitik andererseits?

3.Worin liegen die Schwierigkeiten bei der Messung des Machtpotentials von Staaten?

4.Aus welchen Gründen halten Institutionalisten das Zustandekommen von Kooperation in internationalen Beziehungen für wahrscheinlicher als Neorealisten?

5.Warum führt die Senkung von Transaktionskosten in internationalen Beziehungen zu Kooperation?

6.Welche Eigenschaften von Winsets beeinflussen die Kooperationswahrscheinlichkeit in internationalen Beziehungen?

7.Woher wissen Akteure, was »richtig« oder» falsch ist, wer »Freund« oder Feind« ist?

8.Worin unterscheiden sich die Logik der Angemessenheit und die Logik der Konsequenz?