Zum ersten Mal tot

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Ich liebte unser Bethelgeld, und bekamen wir Besuch von draußen, gab ich damit an. Besonders gut gefiel mir, dass es neben Eine-Mark- und Zwei-Markscheinen sogar Fünfzig-Pfennigscheine gab, denn so hatte ich als kleiner Taschengeldempfänger immer auch Papiergeld im Portemonnaie. Ich hätte gerne noch mehr gehabt, und eigentlich wäre das auch nicht schwer gewesen. Unser Vater hatte nämlich die Verbrennung alter Bethelgeldscheine zu überwachen. »Ach Papa«, bettelten wir, »bring uns doch einfach ein paar mit. Das merkt doch keiner.« Doch der Vater sagte nur: »Ihr wisst doch, dass Gott alles sieht«, und ließ sich nicht erweichen.

Außer den besonderen Bewohnern und dem Bethelgeld gab es noch ein paar Dinge, die in Bethel anders waren als im Rest der Welt. Es existierte eine eigene Post, die sogenannte Botenmeisterei, wo das Verschicken von Briefen innerhalb Bethels nichts kostete. So sparte man vor allem beim Versenden von Todesanzeigen. Auch das Telefonieren war umsonst, was wir Kinder weidlich ausnutzten. Waren die Eltern aus dem Haus, riefen wir Leute mit komischen Namen an und terrorisierten sie. »Ist da Frau Küth?« »Ja.« »Tüt, tüt, tüt«, und das ungefähr zwanzig Mal am Tag. Da die Telefongespräche auf keiner Rechnung auftauchten, kam uns nie ein Erwachsener auf die Spur. Es gab auch einen kostenlosen Bethelbus, doch der fuhr nicht an unserem Haus vorbei, so dass wir ihn kaum nutzten. Was fehlte, war lange Zeit ein eigener Rundfunksender, doch als man das bemerkte, gab es den dann plötzlich auch. Der Betheler Krankenhausfunk übertrug per Kabel die Gottesdienste aus den Betheler Kirchen in die Pflegehäuser, und ab Mitte der Siebziger gab es zwischendurch religiöse Popmusik, bevorzugt von der anstaltseigenen Fürsorgezöglingsband »Wir« aus Freistatt, Bethels Teilanstalt im Moor.

Bethel hätte eigentlich nur noch eigene Briefmarken drucken müssen, dann wäre es glatt als ein Zwergstaat wie Monaco, San Marino oder eben der Vatikan durchgegangen. Tatsächlich hörte ich immer mal wieder das Gerücht, es hätte nach Ende des Zweiten Weltkriegs Pläne gegeben, Bethel aus Westdeutschland heraus zu trennen und in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das aber ist wahrscheinlich Blödsinn. Diese Anstalt war ja nicht von dieser Welt. Ich wusste lange nicht, womit ich diesen Ort vergleichen sollte, bis ich irgendwann die Fernsehserie »The Prisoner« mit Patric McGoohan sah. Hier wird ein Haufen seltsamer Gestalten in einem nur »The Village« genannten höchst autarken Dorf festgehalten, in dem seltsame Regeln gelten und aus dem es praktisch kein Entrinnen gibt. Allerdings glaubte ich, dass ich, wenn ich nur wollte, »der Anstalt« jederzeit entkommen konnte. Wie sich später herausstellen sollte, war das ein Irrtum.

Ich irrte auch, als ich dachte, dass in Bethel alles so bleiben würde, wie ich es als Kind vorgefunden hatte. Ab Mitte der sechziger Jahre setzten die ersten Veränderungen ein. Es begann damit, dass meine Eltern Wegwerfbettwäsche aus Papier testen mussten. Die sollten in allen Betheler Pflegehäusern eingeführt werden, um so die Kosten für das Waschen einzusparen. Die Bettwäsche kratzte furchtbar und riss andauernd, so dass man am Ende doch von einer Umstellung von Stoff auf Papier Abstand nahm. Dafür stellte man vor Ophir einen Eisautomaten auf. Klaus Möller fand sofort heraus, dass der Automat nicht richtig funktionierte. Das Bundesgeldstück, das man einwarf, kam wieder raus; ein Eis aber bekam man trotzdem. Wir Kinder räumten den Automaten täglich leer und konnten eine Zeit lang Eis wie Brot essen. Nach ein paar Wochen endete unser Glück abrupt. Weil der Apparat sich offenbar nicht reparieren ließ, war er eines Tages wieder verschwunden.

Trotz dieser kleinen Rückschläge ließ sich der Fortschritt auch in Bethel nicht aufhalten. Gegen Ende der Sechziger begann man viele der alten, wie mittelalterliche Burgen oder Schlösser wirkenden Pflege- und Verwaltungshäuser abzureissen, und an ihrer Stelle Waschbetonburgen zu errichten. Diese Übergangszeit war auch die beste. Wir Kinder spielten in den leer stehenden Abbruchhäusern, schmissen alle Scheiben ein und fanden auf den Dachböden verborgene Schätze. Wir zerrten zurückgelassene hölzerne Rollstühle aus den Schuppen und fuhren mit ihnen auf abschüssigen Straßen Rennen. Uns standen jetzt auch die riesigen Gärten der Pflegehäuser offen. Hier ernteten wir die verlassenen Erdbeerfelder ab, pflückten eimerweise Johannisbeeren, legten Stauseen an, in denen wir Frösche züchteten, und bauten Häuser in den Bäumen. Im Frühjahr legten wir im trockenen Gras kleine Steppenbrände oder errichteten riesige Scheiterhaufen, in denen wir am liebsten gefundene Autoreifen, Altöl und Plastikteile verbrannten. Oft standen große schwarze Rauchsäulen über unserem Betheltal und manchmal kam die Polizei vorbei, um einzuschreiten. Doch dann waren wir längst weg.

Als man dann damit begann, die neuen Häuser zu errichten, ging diese Epoche zu Ende. Etwa zur gleichen Zeit wechselte ich aufs Gymnasium. Mein Schulweg war nicht weit; ich brauchte dafür kaum zwanzig Minuten. Doch die Schule befand sich auf der anderen Seite des Berges. Dort lag das, was unter den Bethelanern nur »die Stadt« hieß, eine Welt, in dem alles ganz anders war und wo andere Gesetze galten. In der Stadt zerfiel die Gesellschaft nicht in Brüder, Herren und Patienten, und Bethelgeld war wertlos. Hier konnte es passieren, dass man dafür aufgezogen wurde, weil man aus Bethel kam. Immer wieder gab es Klassenkameraden, die sich vor mir aufbauten und sagten: »Ey, Schmidt, du schuldest mir noch fünf Mark.« Anfangs fiel ich noch darauf rein und fragte verdutzt: »Wofür denn das?« »Ich hab’ dir doch in Bethel über die Mauer geholfen. Dafür!« Es nutzte nichts, dass man beteuerte, es gäbe um Bethel herum gar keine Mauer. Wer hierher kam, war in den Augen der anderen eben auch ein Irrer oder bestenfalls eine Witzfigur.

Aber natürlich waren wir, die wir aus Bethel kamen, anders. Und manchmal glaubte sogar ich, dass wir alle eine Macke hätten. Das hatte auch Vater Möller immer wieder behauptet, ein Nachbar, der in Bethel als Aushilfsgärtner arbeitete: »Wer als Normaler länger als fünf Jahre in Bethel gewohnt hat, wird selbst bekloppt.« Auf Vater Schulz traf das zu. Er war ein Alkoholiker, der in der Nachbarschaft die Stelle des Asozialen besetzte, auch weil er seine Kinder über das normale Bethelmaß hinaus schlug. Sein Sohn Klaus trug den Spitznamen »Hauwie«, weil er schon im Sandkasten des Vaters Prügelattitüde übernommen und andere Kinder angeschrien hatte: »Ich haue dich, aber wie.« So kaputt wie Hauwie war ich nicht, aber ich spürte immer wieder, dass auch ich eigentlich nicht in die normale Welt passte.

In dieser Welt bekamen die Leute Angst, wenn jemand einen Anfall hatte und sich in Krämpfen auf dem Boden wälzte. Man lief davon, wenn Spastiker einen unverständlich anlallten, und ekelte sich vor Spucke, die in langen Fäden von wulstigen Lippen troff. Außerdem war diese Welt schlecht und ungerecht, und mit so etwas wie Barmherzigkeit konnte man nicht rechnen. Ich fand mich hier nur sehr mühsam zurecht. Ich hätte natürlich mein Leben lang in Bethel bleiben können, wo ich wusste, wie der Hase hoppelte. Aber das neue Bethel gefiel mir nicht. Die Waschbetonburgen sahen aus wie überall, und weil sich die Bauernhöfe nicht mehr rentierten, wurden einer nach dem anderen dichtgemacht. Der schöne Siegfried fuhr jetzt nicht mehr mit dem Pferdewagen durch die Anstaltsstraßen. Auch der restliche Patientenadel verschwand. Irgendwann tat der Kater seinen letzten Maunzer, und Ernst von Tabor fiel der Taktstock für immer aus der Hand. Selbst für die Bezeichnung »Anstalt« begann man sich zu schämen.

Für mich war klar: Ich musste mir ein neues Bethel suchen, neue Brüder, Schwestern und Patienten. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie fand. Mitte der Achtziger stieß ich in Frankfurt auf eine Gruppe, die den Betreibern und Insassen Bethels ähnlich war: Die Redaktion des Magazins Titanic und ihr Umfeld. Ich will nicht ausbreiten, wer hier welche Rolle einnahm; bis dieses Kapitel geschrieben wird, müssen wohl noch einige Jahre ins Land gehen. Ich kann nur versichern, dass ich mich als ehemaliger Bethelinsasse in dieser Versammlung von Neurotikern, Paranoikern, Hypochondern und bipolar Gestörten einige Jahre sehr wohlgefühlt habe. Auch die Leserschaft dieses Blattes besteht ja zu einem großen Teil aus Menschen, die im Oberstübchen nicht ganz richtig sind. Ich hatte damit selbstverständlich keine Probleme. Und so übernahm ich, als ich Titanic-Redakteur wurde, automatisch die Betreuung der härtesten Fälle.

Ich beantwortete die Briefe von Leuten, die mit in den Zähnen implantierten Radios gefoltert wurden, der Hohlwelttheorie anhingen oder Selbsttrepanation mit Bohrmaschinen als den einzigen Weg zur Erleuchtung propagierten. Natürlich versuchte ich, sie möglichst sanft abzuwimmeln. Hatte es aber trotzdem jemand geschafft, bis in die Redaktionsräume vorzudringen, war ich es, der sich um ihn kümmerte. Einmal war ein Schizophrener auf das Dach der Redaktion geklettert, nachdem ihm die Sekretärin in letzter Sekunde die Stahltür vor der Nase zugeknallt hatte. Dieser Mann, der sich Konsul St. nannte, hatte schon vor seinem Besuch ein Paket an die Redaktion geschickt, in dem sich unter anderem sein Abiturzeugnis, sein Wehrpass und ein Einlieferungsbeschluss in die geschlossene Psychiatrie befanden. Ich war also auf den Mann bestens vorbereitet, denn selbstverständlich hatte ich sein Paket und die beiliegenden Papiere genau studiert. Konsul St. hatte während eines Schubs Passanten auf der Straße als »CSU-Faschisten« und »Franz-Josef-Strauß-Anbeter« beschimpft und sie von seiner Wohnung im vierten Stock mit Topfpflanzen bombardiert. Es war ein kleines Wunder, dass bei diesem Angriff kein Mensch zu Schaden gekommen war. Das meinte jedenfalls der einweisende Richter.

In einem weiteren Schreiben bewarb sich Konsul St. um einen Redakteursposten bei der Titanic, wobei er sich ausdrücklich auf den Einweisungsbeschluss als »aussagekräftiges Zeugnis« berief. Ich dachte, jetzt sei er wohl gekommen, um seine Stelle anzutreten. Ich hatte falsch gedacht. Nach seinem Ausschluss aus den Redaktionsräumen hatte sich der Konsul aufs Flachdach der Redaktion geschlichen. Hier hockte er jetzt vor einer der Plexiglashauben, die als Oberlichter dienten, und schrie nach unten: »Die Sache hat sich erledigt. Ich will mein Paket zurück. Ich habe es versehentlich im Dunkeln gepackt.« Als er aus der Redaktion nur ein höhnisches Lachen hörte, begann er, die Muttern der Hauben zu lösen. Dabei schrie er mit einer Stimme, die direkt aus der Hölle zu kommen schien: »Einen Moment. Ich bin gleich da!«

 

Er kam mit den Schrauben erstaunlich schnell voran, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Kuppel öffnen und der irre Konsul in die Redaktion herablassen würde. Da bekamen es die Redakteure, die sich eben noch in Sicherheit gewähnt hatten, doch langsam mit der Angst zu tun. Auch mir war die Situation nicht geheuer, hatte ich doch in Bethel mehr als einmal erlebt, was für Kräfte Menschen auf einem psychotischen Schub entwickeln können. Andererseits hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Schizophrene meistens vernünftig reagieren, wenn man sich nur etwas auf ihre Wahnvorstellungen einlässt. Also schrie ich dem Konsul von unten zu: »Kein Problem, das mit dem Paket. Aber wie wäre es, wenn ich es Ihnen aufs Dach bringe?« Man konnte Konsul St. auf dem Dach zwar nicht direkt beim Überlegen zuhören. Er hörte aber damit auf, die Muttern abzuschrauben. Dann schrie er durch das Plexiglas zurück. »Gut, abgemacht. Aber keine Tricks.«

Ich nahm das Paket, öffnete ein Dachgaubenfenster und kletterte zu Konsul St. hoch aufs Dach. Der kam mir federnden Schrittes entgegen. Ich hatte ein bisschen Angst, dass er sich die Übergabe doch noch anders überlegen könnte. Was wäre, wenn ich mich in seinen Augen plötzlich auch in einen »CSU-Faschisten« verwandeln würde? Immerhin war dieses Haus fünf Stockwerke hoch, und nur ein kleiner Stoß würde genügen, um mich als Fett- und Blutfleck auf dem Asphalt enden zu lassen. Aber Konsul St. blieb friedlich. Er lächelte sogar ein bisschen, als er das Paket an sich nahm, und flippte auch nicht aus, als er merkte, dass ein Redakteur die Übergabe fotografierte. Dann fragte er etwas verlegen: »Du hast nicht vielleicht noch ein bisschen Geld für mich?«

Ich kramte in meinen Taschen und fand nur einen zerknüllten Bethelgeld-Schein. Den hatte ich wohl beim letzten Besuch bei meinen Eltern eingesteckt. Ich überreichte ihm den Lappen. »Bethelgeld«, schrie der Konsul begeistert. »Echtes Bethelgeld. Jetzt weiß ich endlich, wohin ich gehe.« Er bedankte sich, stieg rasch vom Dach und packte sein Paket in einen Einkaufswagen, den er auf dem Flur vor der Redaktion geparkt hatte. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Als er auf der Straße auftauchte, war ich gerade vom Dach gestiegen und sah aus einem Fenster. Mit seinem Einkaufswagen zuckelte der Konsul langsam davon, und nach ein paar Minuten verschwand er um die Ecke. In diesem Moment merkte ich, wie ich ein bisschen neidisch wurde.

Ein interessanter Irrer
Zum ersten Mal dagegen
(13 Jahre)

Wann es anfing, weiß ich noch ziemlich genau. Ich war dreizehn und ich fuhr mit meiner Klasse ins Landschulheim nach Langeoog. Dort lernte ich in den Dünen filterlose Zigaretten rauchen und Bier trinken. Beides schmeckte mir auf Anhieb. Als ich wieder nach Hause kam, weigerte ich mich, mir die Haare schneiden zu lassen. Ich, der ich bis dahin sehr ordentlich gewesen war, räumte auch mein Zimmer nicht mehr auf. Und ich setzte noch einen drauf. Einmal, als ein Schulkamerad bei mir zu Besuch war, behauptete ich allen Ernstes, ich würde auch meine Topfpflanzen nicht mehr gießen. Das war zwar gelogen, denn ich habe in meinem Leben noch nie Blumen vertrocknen lassen können, doch in dieser Lüge offenbart sich meine damalige neue Auffassung vom Leben recht deutlich. Kurze Haare, aufgeräumtes Zimmer, Blumen gießen, das alles war in meinen Augen plötzlich Ausdruck einer angepassten Geisteshaltung. Ich aber hatte begonnen, mich diesem stumpfen Leben zu verweigern.

Warum fängt so was an? Angeblich liegt es an den Hormonen. Beginnt die Pubertät, dann produziert der Körper Unmengen von Verweigerungshormonen. Ob das stimmt? Wahrscheinlich wird man mit ca. zwölf bis vierzehn Jahren einfach nur klüger. Man weiß zwar noch nicht viel, aber wenigstens schon mal, dass es so, wie es ist, nicht sein soll.

Ich jedenfalls hörte von nun an nicht mehr auf, mich bestimmten Anforderungen, die das Leben, die Gesellschaft, der Staat oder wer auch immer an mich stellte, zu verweigern. Dabei legte ich Wert darauf, dass meine Form der Verweigerung nicht der von anderen glich. Aber vielleicht ist diese Behauptung zu hochgegriffen. Denn wahrscheinlich war doch alles eher ein Zufall.

Tatsache ist, dass ich anders als alle meine Freunde nicht den Wehrdienst verweigerte, sondern zur Bundeswehr ging. Ich verschwieg sogar bei der Musterung eine Krankheit, damit ich nicht untauglich geschrieben wurde. Und das nicht, weil ich mich für die Armee begeisterte oder den Wehrdienst als ein notwendiges Übel begriff. Im Gegenteil. Ich war keineswegs mit dieser Armee einverstanden.

Dass ich zum Bund ging, hatte, wie man noch sehen wird, schon etwas mit meinem Verweigerungsdrang zu tun, war aber zunächst einmal von Chinesen in Peking beschlossen worden. Das stimmt, so wie alles in diesem Bericht die lauterste Wahrheit ist. Damit man diese Geschichte aber verstehen kann, muß ich etwas ausholen.

Die Chinesen wurden in meiner Heimatstadt Bielefeld unter anderem von der KPD vertreten. Nicht von der alten Liebknecht/Luxemburg-KPD, die ist ja bis heute in Deutschland verboten. Sondern von einem kleinen Haufen, der von ehemaligen SDS-Studenten Anfang der siebziger Jahre gegründet worden war. Diese KPD zählte wie die KPD/ML (Marxisten/Leninisten) oder der KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) zu den sogenannten K-Gruppen. Auch die letztgenannten Gruppen orientierten sich an den Ideen Mao Tse Tungs und der kommunistischen Partei Chinas. Aber in Bielefeld gab es nicht viele KBWler, und die KPD/ML war nur im Stadtteil Brackwede stark. Deshalb landete ich, der ich bei irgendeiner Gruppe dabei sein wollte, die entschieden was gegen diesen Staat unternahm, eben bei der KPD.

Das heißt, ich wurde mit Fünfzehn Mitglied der »Liga gegen den Imperialismus«, denn die KPD war eine sogenannte Kaderpartei, in die man erst nach harten Tests und Prüfungen eintreten konnte. Die »Liga« dagegen war eine von der eigentlichen Partei unabhängige sogenannte »Massenorganisation«, bei der jeder mitmachen durfte. Tatsächlich war der Verein aber ganz und gar abhängig von der KPD, und eine Massenorganisation war er mangels Masse natürlich auch nicht.

Nun ja, mit Verweigerung, so wie ich sie bisher praktiziert hatte, war es in der Liga nicht weit her. Im Büro der Ortsgruppe herrschte Gerda, eine graue, etwas fülligere Frau um die dreißig. Zu politischen Fragen äußerte sie sich kaum. Trotzdem meldete sie sich auf der wöchentlichen Ortsgruppensitzung jedesmal zu Wort. Dann meckerte Gerda über die Unordnung im Büro oder die schlecht geputzte Schaufensterscheibe. Wenn sich mal ein Arbeiter in unseren Schuppen verirre, falle der doch vor Schreck über den Schmutz gleich wieder aus der Tür. So schlimm sah es wirklich nicht aus, aber nach Gerdas Ansprache schauten die Genossen jedes mal schuldbewusst zu Boden und versprachen sich zu bessern. Am Ende war es aber doch Gerda, die aufräumte, den Boden schrubbte, das Fenster putzte oder Topfpflanzen hineinstellte. Ob das einem Arbeiter gefallen hätte, weiß allerdings bis heute niemand. So lange ich Liga-Mitglied war, hat sich keiner im Büro blicken lassen.

Angeführt wurde die lokale KPD nebst ihren vielen Zweigorganisationen von Sarah und Lars, einem Ehepaar. Die beiden Kader waren vom Dortmunder Zentralkomitee nach Bielefeld geschickt worden, um den ganzen Verein hier auf Vordermann zu bringen. Sarah und Lars hießen allerdings gar nicht so, diese Namen waren ihre konspirativen Partei- oder auch Kampfnamen. Wie Lars wirklicher Name lautete, habe ich vergessen, Sarah hieß jedenfalls im bürgerlichen Leben Edith. Geheiratet hatten beide, so hieß es, auf Befehl der Partei, die die Ansicht vertrat, verheiratete Kommunisten kämen bei der Arbeiterklasse besser an.

Wohl aus demselben Grund trug Lars gerne einen Trenchcoat, fassongeschnittene Haare und einen Schnäuzer. Wenn man ihn sah, glaubte man einen Versicherungsvertreter vor sich zu haben. Sarah war überaus hager und hatte ein energisch geschnittenes Gesicht. Weil sie bei öffentlichen Auftritten der Partei fast alle Reden hielt, ist mir ihre meist vor Aufregung zitternde Keifstimme besonders in Erinnerung geblieben. Auf einer Busfahrt zu einer der vielen KPD-Aufmärsche schnappte sich Sarah einmal das Busmikrofon und begann zu singen. Ein Arbeiterlied, in dem die Zeile »Rot bin ich geboren« vorkommt. Ich habe mich für die entsetzliche Stimme dieser Frau so geschämt, dass ich am liebsten unter meinen Sitz gekrochen wäre.

Als entschlossener Verweigerer machte ich natürlich auch bei der Liga nicht alles mit. Die Partei hätte es schon gerne gesehen, wenn ich mir einen massenfreundlicheren Haarschnitt zugelegt hätte. Lange Haare – und ich hatte wirklich verdammt lange Haare – waren Ausdruck kleinbürgerlicher Dekadenz. Ich aber weigerte mich beharrlich, mir eine larsähnliche Frisur verpassen zu lassen. Auf den vielen Busfahrten war es Gerda, die jedesmal ein striktes Rauchverbot verlangte. Mit einem Verweis auf Maos enormen Zigarettenkonsum brachte ich sie eben so oft zum Schweigen. Anschließend quarzte ich meine Selbstgedrehten besonders genüßlich. Auch die ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe der »Internationale« sang ich nie mit. Die lauten: »Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun«. Das wollte ich nicht singen, weil ich es mir mit Gott nicht verderben wollte. Ich war nämlich nicht nur Kommunist, sondern obendrein noch Christ. Ich hatte es schon immer gerne etwas komplizierter.

Ohne weiteres ließ ich mich allerdings von Gerda, Lars und Sarah zum Bund schicken, denn dahinter steckten schließlich die Chinesen. Weshalb man damals in Peking wollte, dass deutsche Maoisten zur Bundeswehr gingen, ist heute nur noch schwer zu verstehen. In erster Linie lag es an den Russen. Nach Meinung der chinesischen Führung hatten die nicht nur den Sozialismus verraten, sondern nach Ende des Vietnamkriegs auch die Amis als die weltweit gefährlichsten Imperialisten abgelöst. Die Sowjetunion, so lautete die Botschaft aus China, wolle nunmehr Westeuropa erobern, zur Not auch mit Gewalt. Ein unmittelbar drohender Krieg könne nur verhindert werden, wenn sich die westeuropäischen Staaten mit China und den Staaten der Dritten Welt verbündeten. Zu diesem Zweck traf sich der altersschwache Mao in Peking sogar mit Franz Josef Strauß. Ich aber hatte zur Bundeswehr nach Boostedt bei Neumünster zu gehen, um dort, wie es hieß, »die weltweite Front gegen die imperialistischen Supermächte, ganz besonders aber gegen den Hauptfeind der Völker, die sozialimperialistische Sowjetunion, zu stärken«.

Meine Mission war aber nicht nur eine welthistorische, sondern auch eine äußerst vertrackte. Denn während die Chinesen und meine Partei einerseits von mir verlangten, die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr gegen den Aggressor aus dem Osten zu erhöhen, sollte ich andererseits dieselbe Bundeswehr als zwar als nicht ganz so gefährliche, aber dennoch immer noch üble imperialistische Armee entlarven. Im Bürgerkriegsfalle zum Beispiel hätte ich die Offiziere erschießen müssen, um mich sodann selbst an die Spitze meiner Bundeswehreinheit zu setzen. Eine Vorstellung, die mir in der Theorie ganz gut gefiel. Aber in der Praxis hätte ich das wohl kaum fertiggebracht. Dafür bin ich zu friedfertig.

Das Ambivalente meines Parteiauftrags kam meinem Bedürfnis nach raffinierteren Verweigerungsstrategien entgegen. Während ein simpler ZDLer nur ein einziges Mal den Dienst an der Waffe verweigerte, um dann Zivildienst zu leisten, musste ich von Fall zu Fall entscheiden, ob es erforderlich sei, die Kampfkraft der Bundeswehr zu stärken oder doch eher Zersetzungsarbeit zu leisten. Wenn auch die Wirklichkeit ein wenig anders aussah, so war ich doch von nun an fünfzehn Monate lang jeden Tag gefordert.

Von Anfang an war mir klar, dass ich das sogenannte feierliche Gelöbnis nicht ablegen würde. Normalerweise müssen das die neuen Rekruten am Ende der Grundausbildung während einer Zeremonie gemeinsam murmeln. Sie verpflichten sich damit, diesem Staat immer treu zu dienen und ihn tapfer zu verteidigen. Die Verweigerung des Gelöbnisses war KPD-Linie. Dies sei, so ließ das Zentralkomitee verlauten, ein ausgezeichnetes Mittel, um innerhalb der Bundeswehr für die Partei Propaganda zu machen. Die Kameraden sollten einen interessiert fragen, weshalb man das Gelöbnis ablehne. Das taten sie denn auch. Nachdem ich ihnen meine Gründe offenbart hatte, hielten sie mich für einen interessanten Irren.

 

Die Verweigerung des Gelöbnisses selbst ist kein großer Akt. Kein Bundeswehrsoldat ist verpflichtet, bei dem Zeremoniell mitzumachen. Trotzdem gibt es praktisch niemanden, der sich ihm entzieht. Die Ausnahme bilden die Soldaten, die sich erst bei der Bundeswehr entschließen, den Wehrdienst zu verweigern. Nach einem abgelegten Gelöbnis wäre ihr Verweigerungsantrag schwer zu begründen.

Als ich ein paar Tage vor der Gelöbniszeremonie zum Chef meiner Einheit ging, um ihn von meiner Absicht zu unterrichten, glaubte der deshalb, ich sei ein ganz normaler Kriegsdienstverweigerer. Ich erklärte ihm, dass das nicht so sei. Weshalb ich denn dann...? Ich grummelte, dass ich schon meine Gründe hätte. Den dummen Zugchef, der uns Soldaten gerne schikanierte, ratlos zurückzulassen, gab mir ein angenehmes Gefühl. Mulmig war mir trotzdem.

Später kapierten irgendwelche Leute beim Militärischen Abschirmdienst, dass ich ein Chinatreuer war. Ich wurde zu einem Verhör befohlen. Dabei versuchte es der Sicherheitsoffizier erst einmal mit Anbiederei. Im Großen und Ganzen seien sich doch die Bundeswehr und die Maoisten einig. Unser Feind sei doch der gleiche usw. usf. Dabei zeigte er auf seinen Schreibtisch, auf dem ein ganzer Batzen maoistischer Zeitungen lag. Es waren allerdings diverse Ausgaben des Roten Morgen, dem Zentralorgan unserer Konkurrenz von der KPD/ML. Hihi, falsch getippt, triumphierte ich innerlich.

Als der Offizier sah, dass er nichts ausrichten konnte, änderte er seine Taktik. Mit seinem Gesicht kam er meinem so nah, dass beide sich fast berührten. Dann schrie er mich mit aller Kraft an. Ich erschrak nicht schlecht. Gleichzeitig fand ich die Situation sehr komisch. Ich dachte, dass er das aus einem Spionagethriller hat und dass es tatsächlich nicht so übel wäre, diesen Mann zu erschießen.

In den siebziger Jahren haftete dem Militärischen noch etwas Asoziales an. Kein wehrpflichtiger Soldat wäre beispielsweise auf die Idee gekommen, in Uniform Zug zu fahren. Das ist heute anders. Auch die mit einigem militärischen Pomp verbundenen Gelöbnisfeiern veranstaltet man heute gerne in der Öffentlichkeit. Damals fanden sie nur in den Kasernen statt und fielen deutlich schlichter aus.

Genaueres kann ich dazu nicht sagen, denn ich bekam von der ganzen Zeremonie nichts mit. Am Tag des Gelöbnisses wurde ich zusammen mit einem Kameraden, der nachträglich verweigert hatte, in den Keller der Brigade abkommandiert. Dort mußten wir einen halben Tag lang Latten rot und weiß streichen. Die Latten wurden für die Hindernisse auf einem Springreitturnier der Offiziere gebraucht, das am nächsten Wochenende stattfinden sollte. Später erzählten mir meine Kameraden, dass bei den Gelöbnisfeierlichkeiten einige angetretene Rekruten einfach umgefallen waren. Das war nichts Ungewöhnliches, vor allem, wenn es sehr heiß war und sich beim stundenlangen Herumstehen die Hitze unter den Stahlhelmen der Soldaten staute. Wird einer während des Aufsagens der Gelöbnisformel ohnmächtig, gilt dies als gutes Omen. Wofür? Vielleicht für den Ausgang des nächsten Kriegs oder so was ähnliches.

Die Verweigerung des Gelöbnisses hatte aber auch einen schwerwiegenden Nachteil. So ist der Gelöbnisabstinente von der Beförderung ausgeschlossen. Ich blieb also fünfzehn Monate einfacher Soldat, während alle meine Kameraden nach einem halben Jahr automatisch zu Gefreiten und später sogar zu Ober- oder Hauptgefreiten ernannt wurden. Sie bekamen damit nicht nur ein bis drei Streifen mehr auf ihre Schulterklappen, sondern auch entschieden mehr Sold als ich. Das war der Hauptgrund, weshalb man mich für nicht ganz dicht hielt. Ich aber war stolz auf meinen Verzicht.

Es hieß auch, dass ein Gelöbnisverweigerer nach Abschluss der Grundausbildung nur schlimme Hilfsarbeiten aufgehalst bekäme. Mein Zugführer prophezeite mir regelmäßig, dass ich mich darauf freuen könne, ein Jahr lang nur Benzinkanister zu schleppen. Er sollte Unrecht haben. Ich war zum Materialnachweissoldaten ausgebildet worden und so bekam ich einen Posten, auf dem ich für die Ersatzteilbeschaffung und Materialversorgung eines ganzen Panzerspähzuges zuständig war. Ich hatte sogar mit geheimen Unterlagen zu tun, obwohl ich das als Gelöbnisverweigerer eigentlich nicht durfte. Weshalb, das kann ich mir bis heute nicht erklären. Ich vermute, dass man mich beim MAD einfach vergessen hatte. Vielleicht hatte man ja auch meine Akte vertauscht? Bei meinem häufig vorkommenden Nachnamen passiert so etwas öfter.

Über die Arbeit in meinem eigenen kleinen Büro konnte ich mich nicht beklagen. In das ging ich jeden Morgen, stellte den Kalender um und schlief dann mit dem Kopf auf dem Schreibtisch den Rausch vom Vorabend aus. Ärger gab’s deswegen nie, weil ich ein sehr guter Materialnachweissoldat war. Ich ließ sogar das Fahrrad wieder in Ordnung bringen, das zur Standardausrüstung unseres Spähzuges gehörte, aber bis dato im Kasernenkeller vor sich hin gegammelt hatte. Das war wohl mein wichtigster Beitrag zur Stärkung der Kampfkraft der Bundeswehr. Und die fahrradbegeisterten Chinesen, so dachte ich, würden sich über die Reparatur sicherlich doppelt freuen. Tatsächlich träumte ich eines Nachts davon, wie mir Mao Tse Tung persönlich auf die Schulter klopfte. Doch das bilde ich mir heute wahrscheinlich nur ein. Wahr ist aber, dass ich für meine Arbeit vom Chef unserer Zuges eine sogenannte förmliche Anerkennung erhielt, verbunden mit zwei Tagen Sonderurlaub. Es gibt vermutlich nicht viele Gelöbnisverweigerer, denen so etwas bei der Bundeswehr widerfahren ist.

Nur an dem für jeden Soldaten obligatorischem Unterricht in »Innerer Führung und Recht« durfte ich nicht teilnehmen, weil ich dort ein paar Mal Reklame für die chinesische Volksbefreiungsarmee gemacht hatte. Von den wahren Verhältnissen in der chinesischen Armee hatte ich allerdings keinen Schimmer. Deshalb dachte ich mir einfach eine Armee aus, wie sie mir gefallen hätte. Ich behauptete zum Beispiel dreist, in der Volksbefreiungsarmee sei es üblich, über den Sinn und Zweck von Befehlen mit den Vorgesetzten zu diskutieren. Selbstverständlich war das Unfug. Zu meinem Pech hatte unser Zugführer wesentlich mehr Ahnung vom rotchinesischen Militärwesen, denn er war, bevor er zur Bundeswehr kam, Apo-Aktivist gewesen. So fiel es ihm nicht schwer, meine Behauptungen zu widerlegen. Trotzdem durfte ich beim Unterricht nicht mitmachen. Wahrscheinlich konnte ich meinen Unsinn sehr gut vertreten.

Mao starb in dem Jahr als ich bei der Bundeswehr war. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber schon längst kein richtiger Maoist mehr. Nach der Grundausbildung hatte man mich nach Hamburg versetzt, wo ich dem Einfluß von Gerda, Lars und Sarah entzogen war. Das hatte zur Folge, dass ich eines Tages glaubte, Anarchist zu sein. Ich begann, mit einem schwarzen Edding das Anarchisten-A auf die Kacheln der Kasernenklos zu malen.

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