Magdalenes Geheimnis

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2 . K A P I T E L


Als Magdalene mit dem Kleinen die Treppe herunterstieg, hörte sie im Haus schon eine fremde Stimme. Der Onkel stapfte die Stufen herauf und wandte sich zur guten Stube. Er trug ein Lächeln im Gesicht und ging, ohne Magdalene im Dunkel der oberen Treppe zu sehen, in den Raum. Hinter ihm erschien eine zweite Gestalt. Das war er also.

Herr Rehnikel hatte Magdalene erblickt. Er blieb am Fuß der Treppe stehen, bis sie hinuntergegangen war. Die ganze Zeit ruhte sein Blick auf ihr, gierig, wie es schien. Besonders fielen ihr seine Augen auf, runde, braune, feucht glänzende Augen wie Flusskiesel. Sie waren schwarz bewimpert und verliehen ihm ein gutmütiges Aussehen. Unvermittelt begriff sie, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte: Ihr war ein Mann begegnet, als sie nach Halle heimkehrte, der hatte sie an der Salomo-Apotheke angesprochen. Er trug heute einen dunklen französischen Rock, ein wenig abgetragen und mit genauso einem albernen Tüchlein in der Rocktasche, wie ihr Onkel es besaß. Er war rundlich, alles an ihm war rundlich. Sein dicker Bauch wölbte sich, dass die Knöpfe in der Mitte seines Rocks abzuplatzen drohten. Die Beine, krumm wie türkische Säbel, steckten in eng anliegenden dunklen Kniebundhosen. Über dem flachen Kragen und dem doppelten Kinn leuchtete die Mondscheibe seines Gesichts. Auf der gewölbten Stirn lag eine zerdrückte Perücke mit weißen Locken; die Nase war knotig wie eine vom Baum gefallene, eingetrocknete Birne. Schweiß glänzte auf seiner blassen Stirn.

Er hob eine Augenbraue, die linke, und beugte den Kopf leicht. »Wie schön, Euch wiederzusehen«, hörte sie ihn in einem sanften Tonfall schmeicheln. Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, derart mild, dass sie in Versuchung geriet, ihn für ein wenig dümmlich zu halten. Dass es das nicht traf, merkte sie im gleichen Atemzug. Sein Blick folgte ihren Bewegungen genau.

Magdalene antwortete ausdruckslos: »Guten Tag«, genau mit der Menge Distanz, dass er es auf sein Süßholzgeraspel beziehen konnte. Er kam einen Schritt näher und hob die Hand, legte sie Hans auf die Wange und strich darüber.

Es gelang Magdalene nicht, ihre Abwehr zu verbergen. Er bemerkte ihre Bewegung rückwärts, musterte sie forschend und ging dennoch wieder zum Lächeln über. »Was für ein prachtvoller Knabe«, schmeichelte er. Sie hätte schwören können, dass er noch eine Portion Schmalz zugelegt hatte. Die Mondscheibe lächelte.

Schnell brachte Magdalene den Kleinen zu Anna in die Küche und stieg hinauf in den ersten Stock. Sie atmete tief, bevor sie die Klinke drückte. Es war nur noch Formsache, die Einzelheiten waren längst abgesprochen, sonst hätte Conrad Bertram sein Mündel noch nicht informiert. Immerhin war dieses Geschäft gut verborgen geblieben, dass sie bis zu dieser Stunde nichts davon geahnt hatte.

Herr Bertram stand an seinem Platz und goss Wein in drei Becher. Der Gast saß am Tisch, an der zweiten Stirnseite, dem Hausherrn gegenüber. Er saß auf dem Stuhl, der eigentlich Magdalenes war, einem schönen Holzstuhl mit einer geschnitzten Eule in der Lehne. Sie nahm einen Duft wahr, einen Duft nach Nelken mit einem Hauch Zimt und etwas anderem, das sie nicht kannte.

Herr Rehnikel lehnte sich locker an. Er lächelte, als wäre er zum Vergnügen hier. Magdalene kannte ihn noch nicht gut genug, sie konnte nicht herausbekommen, ob es seine Art war oder ob er sich über etwas lustig machte. In diesem Moment drehte sich Onkel Conrad zu ihr. Er nahm ihre Hand und zog sie näher zu sich. Er hatte gesiegt, er hatte seine widerspenstige Nichte dahin gebracht, wohin er sie haben wollte, glaubte er. So einfach würde sie es ihm nicht machen. Erst musste er noch ein bisschen Gift und Galle spucken.

Conrad Bertram verbreitete eine Rede, die wie Saalewasser nach der Schneeschmelze durch den Raum plätscherte. Er hielt Magdalene weiter an der Hand. Dieser Rehnikel lächelte, aber er sah nicht Herrn Bertram an. Er betrachtete Magdalene. Man hätte meinen können, er lächelte ihr zu. Sie glaubte, ihn allmählich zu durchschauen. Hinter seinem Lächeln taxierte er. Natürlich, er war ein Händler, und Händler müssen schlau sein wie Füchse. Er taxierte ihre Hand, die des Onkels Hand nicht griff, sondern die Arbeit des Festhaltens ihm überließ. Er taxierte ihre Brust, die sich unter ihrem Atem gleichmäßig und langsam hob und senkte, aber nicht langsam genug, um so gelassen zu atmen, wie sie wollte. Er taxierte die kleine Erhebung unter ihrem Hemd, wo das Amulett hing, das er nicht sehen konnte und von dem Onkel und Tante nichts wissen sollten. Als Conrad Bertram schon so lange geredet hatte, dass alle drei Menschen im Raum knietief im Wasser seiner Rede standen, gab es eine Pause. Der Händler hatte seinen Einsatz verpasst.

Er stand extra auf, um zu reden. Er brauchte nicht viele Worte, um sein Anliegen vorzutragen. Er würde Magdalene jetzt fragen, ob sie bereit wäre, seine Frau zu werden, und sie musste darauf antworten. Zuerst redete er von seinem Witwerstand und von seinem Handel. Spezereien. Fünfundvierzig Jahre alt. Himmel hilf! Er hätte bequem Magdalenes Vater sein können!

»Die Ehe ist die einzig wahre Verkörperung der göttlichen Liebe auf Erden«, sprach er in würdigem Ton. Magdalene kaute noch an diesem Satz, da erläuterte er, dass er den Hans legitimieren wolle. Herr Rehnikel würde im Taufregister als Vater eingetragen. Hans würde Hans Rehnikel werden, er war für ein paar Taler kein Bankert mehr, er konnte später das Bürgerrecht bekommen. Ein äußerst verlockendes Angebot. Der Händler sollte als Magdalenes Verführer herhalten. Magdalene musste wider Willen schmunzeln. Ob das jemand glaubte? Endlich die Frage: »Wollt Ihr mein Eheweib werden, vor Gott und den Menschen?«

Magdalene ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Sie stand auf und sah Herrn Rehnikel in die Augen. Ausnahmsweise überlegte sie jedes einzelne Wort. Die beiden Männer schauten sie mit einem zufriedenen Lächeln an, als hörten sie schon ein demütiges Ja und sähen ein braves Nicken.

»Ich bin noch nicht einmal achtzehn Jahre alt«, antwortete Magdalene stattdessen, »und jedermann weiß, dass es Mädchen in diesem Alter an Verstand und Reife für solche schwerwiegenden Antworten gebricht. Seid so freundlich, lieber Onkel, und antwortet an meiner Stelle. Für die bisherigen Verhandlungen habt Ihr mich nicht gebraucht, was wollt Ihr Euch wegen meiner Zustimmung bemühen?«

Sie starrten Magdalene an, als hofften sie beide, das Mädchen würde zu lachen beginnen. Magdalene lachte nicht, sie setzte noch hinzu: »Bitte, lieber Onkel! In Sachen der göttlichen Liebe und ihrer Verkörperung auf Erden, meine ich, ist ein angehender Kirchenvorstand kompetenter als ich.«

Conrad Bertram sprang von seinem Stuhl auf. Die beiden Männer standen einen Augenblick starr. Dem Händler kerbte sich eine steile Falte zwischen die Brauen. Er ging einen Schritt rückwärts und lehnte sich an die Wand, als mache ihm sein Alter zu schaffen. Herr Bertram schniefte, in seinen Pupillen wuchs der Zorn. Er packte seine Nichte am Oberarm, murmelte, er müsse noch einmal mit ihr reden, und schob sie durch die Tür ins Treppenhaus.

Draußen entließ er seine Gesichtszüge aus der Gewalt, presste die Zähne aufeinander und knurrte. Magdalenes Knie wurden weich. Sie hatte ihm Gift und Galle entlocken wollen, doch die Gegenwart des Besuchers sollte eigentlich die Strafe ersparen. Ein Kloß versperrte ihre Kehle, der sie fast erstickte. Der Onkel knurrte weiter, er hielt sie am Kragen wie einen kleinen Dieb und bellte in ihr Gesicht. »Du undankbare, dumme Göre«, schnaubte er in ihre Ohren. »Du wirst noch alles verderben. Es hat mich Mühe gekostet, dieses Arrangement zustande zu bringen. Ich habe es satt, für deine Dummheiten geradezustehen!«

Es war kein Kloß, der ihre Kehle versperrte, da hatte sie sich geirrt. Es war Conrad Bertrams Hand, die ihren Kragen zusammenzog. Er schien nicht zu merken, dass er dabei war, ihr die Gurgel zuzuschnüren. Magdalene spannte alle Muskeln an, riss den Mund auf, schnappte nach Luft und brachte krächzend hervor: »Meine Mitgift! Sie ist groß genug!«

Der Onkel stieß ein böses Lachen aus. »Welche Mitgift? Glaubst du, dass die Sachen deines Vaters einen Pfifferling wert waren? Weißt du, was man nach der schrecklichen Pestzeit für ein Haus bekommen hat? Niemandem saß das Geld locker in der Tasche!« Er kniff die Augen zusammen und senkte den Tonfall. »Was glaubst du überhaupt, wie dein Leben aussehen soll, wenn du nicht heiratest? Willst du mir mit deinem Bankert lebenslänglich auf der Tasche liegen?«

Magdalene zuckte die Schultern, eine Antwort konnte sie ihm nicht geben. Dafür redete der Onkel weiter. Er kniff die Augen noch ein bisschen mehr zusammen. Er sprach leiser und betonte seine Worte einzeln.

»Weißt du, ich dachte, es kommt mal jemand und erkundigt sich danach, wie es dir geht. Irgendein Kerl muss das Kind ja gemacht haben. Kinderkriegen ist eine gefährliche Sache. Es hätte sein können, du stirbst dabei. Diesem Menschen, wer immer das war, scheint es gleich zu sein, ob du lebst oder tot bist und ob du sein Kind zur Welt gebracht hast oder nicht. Was meinst du, Lene?«

Er löste sich von der Wand und nahm seine Hand von Magdalenes Schulter. Die Knie knickten dem Mädchen wider Erwarten nicht ein. Magdalenes Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Onkel hatte recht. Er hatte verdammt nochmal recht. Magdalene sah den Mann vor sich, der sich hätte erkundigen müssen, wenn es ihn interessiert hätte. Er wusste, wie sie hieß, er hätte bloß nach Halle hereinfahren und sich erkundigen müssen. Er hätte wenigstens fragen müssen, ob sein Kind lebte und sie auch. Aber einem Mörder war so etwas egal. Ihr Onkel hatte recht.

 

Sie senkte den Kopf. »Ich werde Herrn Rehnikel heiraten«, flüsterte sie. Sie blieb stehen und atmete. Die Abendsonne schien ungerührt durch das bunte Fensterglas, als wäre nicht eben eine neue Seite in ihrem Lebensbuch aufgeschlagen worden.

Der Händler stand einen Schritt von der Wand entfernt, als die beiden in die Stube zurückkehrten. Conrad Bertram lächelte freundlich, nur seine Unterlippe zitterte. Er bat den Mann, seine Frage zu wiederholen.

Herr Rehnikel lächelte nicht mehr. Er schwieg nachdenklich, im Raum lag die Luft schwer wie Blei. Er ging auf Magdalene zu, am Tisch vorbei, griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich vor das mittlere der drei Fenster. Sie hielt den Kopf gesenkt, sie mochte ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen. Unten auf der Straße liefen Menschen, alte und junge. Es waren Fußgänger, die vom Markt heimkehrten. Einer war dabei, der ging mit elastischen Schritten, das lange schwarze Haar wehte im Wind. Er ging, als käme er mit flatternden Mantelschößen einen Hügel hinauf, den Hügel zu einer Hütte. Es war niemand, den sie kannte. Es war irgendein Bauer, er zog einen Esel am Strick hinter sich her. Draußen dämmerte es. Niemand sah sich nach dem Mädchen am Fenster um, niemand schaute nach oben.

»Wollt Ihr mein Eheweib werden, vor Gott und den Menschen?« Magdalenes Blick blieb am Boden kleben. Nichts bleibt, wie es ist. Von dem Schwur, den jener Mann ihr geleistet hatte, war nichts mehr übrig. Es war der Schwur eines Mörders. Der galt nicht.

Sie atmete tief ein. »Es überrascht mich, dass es sich angehört hat, als hätte ich etwas gegen unsere Verbindung vorzubringen«, sie hob den Kopf und sah ihm gerade ins Gesicht, »diesen Eindruck hattet Ihr doch nicht, oder?«

Die Männer antworteten beide nicht. Der Onkel vier Schritte hinter ihr stieß ein warnendes Fauchen aus seinen Nasenflügeln. Der Händler schüttelte den Kopf.

»Nun«, fuhr sie fort, »das wäre auch nicht klug von mir gewesen.«

Conrad Bertram stand in ihrem Rücken, daher konnte er ihren Blick nicht sehen. Magdalene fixierte den Rehnikel. Sie schaute ihm direkt in die Augen. Herr Rehnikel senkte den Blick nicht vor ihr. Er bewegte sich nicht und blinzelte nicht, er erwiderte ihren Blick, bis sie das Zeitgefühl für dieses Schweigen verlor. Beide schwiegen so lange, bis es Magdalene als Erste nicht mehr aushielt. Sie öffnete den Mund, sie gab ihre Antwort: »Ich erkläre mich einverstanden.«

Sie sah in dem Augenblick, dass Herr Rehnikel den Atem angehalten hatte. Der Onkel schnaufte erleichtert. Er ging auf den Händler zu, schüttelte ihm die Hand und fing an, salbungsvoll zu reden.

Herr Rehnikel hob die Hand, Conrad Bertram schwieg augenblicklich. Magdalene sah, was er wollte. Der Händler zog ein Etui aus der Börse am Gürtel und öffnete es. Er ergriff ihre Rechte und steckte einen dünnen Ring auf den vierten Finger, golden mit einem kleinen roten Stein in der Mitte.

Magdalene konnte den Blick nicht von dem Schmuck wenden. Es war ein wunderschönes Stück, sie liebte es sofort. Herr Rehnikel tat das, was man bei Verlobungen üblicherweise tut. »Ich bin dein, du bist mein«, sprach er langsam die Formel, die die Kirche für die Gültigkeit verlangte. Sie warteten auf Magdalenes Antwort.

»Ich bin dein, du bist mein«, wiederholte sie diesem fremden Menschen ins Gesicht hinein. Es war ein Satz, der eher zum Mond und den Sternen gehörte als hierher. Eher war der Mond ihrer als ein nach Nelken und Zimt riechender alter Mann. Der Onkel fasste sie bei den Schultern, als wollte er sie umarmen, aber er zog sie nicht näher heran. Er gratulierte ihr mit blumigen Worten, dabei galt seine Gratulation dem eigenen Geschäft. Der Händler indessen beobachtete Magdalene. Er folgte mit seinen Blicken jeder Bewegung ihrer Hand mit dem Ring am Finger.

Das Mädchen bekam einen der drei Becher. Die Männer tranken ihr zu. Sie nippte vorsichtig von dem sauren, unverdünnten Wein. Das kam in Tante Dorotheas sparsamem Haushalt nicht oft vor. Mit einem Schlag ergoss sich die Familie ins Zimmer. Sie mussten draußen gewartet haben und stürzten sich jetzt auf Magdalenes rechte Hand, schüttelten sie, die Mädchen betasteten neugierig den roten Stein an ihrem Ring. Conrad Bertram redete über alle Köpfe hinweg und zog Bilanz, was er in den letzten neun Jahren aus Magdalene habe machen können, von einem mageren Kind zu einer gesunden, stolzen Braut. Sie musterten Magdalene wie einen Affen bei den Gauklern.

Zum Glück trat Anna in die Tür. Sie kam auf das Mädchen zu und umarmte es, Tränen glänzten in ihren Augen. Magdalene war froh, dass sie sich an ihrer Amme festhalten konnte. Sie plauderten alle mit dem Rehnikel; das verschaffte ihr Gelegenheit, Anna nach dem Hans zu fragen. Er schlief.

Anna wünschte ihrem Lenchen Glück. Das Mädchen verkniff sich die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Anna meinte, was sie sagte. Sie sagte, sie wünschte, Magdalenes Eltern und ihr Bruder könnten das erleben. Magdalene wünschte sich das nicht. Sie hätten es als Schande empfunden, ihre Tochter und Schwester an einen einfachen Händler verkauft zu sehen.

Tante Dorothea kam näher. Sie streckte Magdalene ihre rechte Hand entgegen, fing Magdalenes Rechte ein und schüttelte sie. Die Tante öffnete den Mund, blieb aber noch stumm. Einen Augenblick lang sah sie aus wie ein Fisch, weil sie sich mit offenem Mund von Magdalene wegwandte und erst dann, quer durch den Raum, dem Gast ihre Frage stellte. »Wann wird denn die Hochzeit stattfinden?«

Die Gespräche verstummten, sogar Magdalenes plappernde Basen waren augenblicklich still. Herr Rehnikel sah Conrad Bertram an und nickte ihm zu. Der richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er schwieg und genoss die Aufmerksamkeit einen Augenblick, bis er antwortete: »In einer Woche, am 15. Juni.«

Magdalene stieg nach oben in ihr Zimmer. Schon als Kind hatte sie hier oben gewohnt, direkt unterm Giebel, wo es im Winter eisig wurde und im Sommer so heiß, dass einem im Liegen der Schweiß von der Haut rann. Man konnte die Spatzen auf dem First tschilpen hören und die Mäuse an den Balken rascheln. Manchmal knackte es im Holz und zwischen den Schindeln. Der Raum besaß ein einziges kleines Giebelfenster, der Wind pfiff an den Dachbalken vorüber. Es war ihr Zuhause. Die Treppe war schmal und wackelig, und außer der Magd Anna kam niemand freiwillig hier hinauf. Magdalene verschränkte die Arme und ging leise, um den Hans nicht zu wecken, hinüber zum Spiegel, dem einzigen Luxus in ihrem Zimmer.

Auf ihre Schönheit war sie nicht stolz. An ihr gab es eine einzige Besonderheit, das war ihr Haar. Ansonsten war da nichts: ein kräftiger Wuchs, ein ovales, regelmäßiges Gesicht, große graue Augen, eine Haut von eher gelblichem Ton, zu dichte Brauen. Überhaupt fand sie ihr Gesicht zu grob, sich selbst derb und bäurisch. Doch auf das Haar war sie stolz. Es war dickes, kastanienbraunes Haar, unwillig gekraust und schwer in den Zopf zu bändigen. Seine Farbe unterschied sie deutlich von anderen Mädchen. Viele ringsum besaßen blondes Haar, was in jeder Schattierung zu sehen war, von einer Farbe wie Holzasche, wie Baumrinde, wie Lehmziegel, wie Straßenstaub. Manche hatten schwarzes oder schwarzbraunes Haar. Sehr wenige hatten feuerrotes Haar. Das war so gut wie alles. Dazwischen gab es ein einziges Mädchen mit Haaren in einer wirklich braunen Farbe, die nichts mit dem verwaschenen Dunkelblond zu tun hatte und nichts mit dem Schwarzbraun. Es war Magdalene mit ihrer Kastanienfarbe. Niemand, den sie kannte, hatte solches Haar, leuchtend braun und kräftig.

Seit sie denken konnte, trug Magdalene unterm Hemd an einem Lederband ihr Amulett, Annas Geschenk. Kein Zweifel, dieses Amulett war die Ursache dafür, dass Magdalene als Letzte ihrer Familie all die Schicksalsschläge überlebt hatte. Nur wusste sie nicht recht wozu. Der einzige Sinn in ihrem Leben war jetzt Hans. Es mochte sein, dass Gott sie bloß dazu ausersehen hatte, diesem Kind das Leben zu schenken. Sie streifte das Kleid ab und löste den Zopf, um ihr Haar zu kämmen.

Hans rührte sich. Er schlug die Augen auf, die wunderschönen dunklen Augen, ganz verträumt, und öffnete den Mund. Er besaß volle, rosige Lippen und wölbte sie suchend nach vorn. Magdalene hob ihn aus seinem Bett und hielt ihn auf dem Schoß. Er drehte den Kopf schon zur Seite, noch ehe sie das Hemd richtig gehoben hatte. Er trank genießerisch, in langen Zügen, und allmählich öffneten sich seine kleinen Fäuste. Seine Hände lagen weich auf Magdalenes Brust. Sein Gesicht war von einer bronzenen Färbung wie das seines Vaters, eine Spur dunkler als Magdalenes; man konnte das gerade noch als mütterliches Erbteil gelten lassen. Was bestimmt nicht von Magdalene stammen konnte, waren Hänschens dunkle Haare. Sie wuchsen vom ersten Tag an schnell und lockten sich allmählich. Sie strich gern über die feinen schwarzen Härchen seiner Brauen. Er besaß überall im Gesicht winzige Haare, sogar an den Ohrläppchen. Von Zeit zu Zeit kam es ihr vor, als schliefe er nicht, sondern hielte die Augen geschlossen, um das Streicheln besser zu genießen.

Magdalene hielt inne. Sie erinnerte sich, dass auch Hans’ Vater Haare an den Ohrläppchen gehabt hatte. Über die strich ihr Finger manchmal, über die gleichen dunklen Härchen, fein und ganz dicht. Auch die Form der Ohren war die gleiche, lang und schmal. Es war inzwischen dämmrig in der Kammer unterm Giebel. Die letzten Zipfel des Tageslichts hingen in den Ästen der Apfelbäume. Sie öffnete den Mund und flüsterte über das Bettchen ihres Sohnes: »Jean Philippe Pasquale de Morin.« Das war sein voller Name. Es war der Name, den ihr Sohn niemals nennen würde, wenn er von seinem Vater sprach. Er würde später sagen: »Mein Vater ist Georg Rehnikel«, ohne zu wissen, was seine Mutter ihm vorenthielt. Seine Mutter würde ihm noch mehr verschweigen. Denn sie wollte niemals zu ihm sagen müssen: »Hans, du bist der Sohn eines Mörders.«


3 . K A P I T E L


Hans regte sich im Schlaf. Seine Hände zuckten. Diese Regung der kleinen, drallen Finger stach Magdalene ins Mark. Sie wusste nicht, warum Jean seine Frau umgebracht hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er es getan hatte. Sie hatte gespürt, dass er hoffte, deren Gesicht zu sehen, wenn Magdalene sich zu ihm umdrehte. Bereute er den Mord? Hatte er gehofft, mithilfe von Magdalene seine schreckliche Tat vergessen zu können?

Magdalene streckte sich auf dem Bett aus, in Kleidern, so wie sie war. Sie schlief ein, die Müdigkeit steckte in jedem einzelnen Knochen. Wieder kehrte ihr Traum zurück, der Traum von Jean, der den steilen Weg von der Saale heraufkam und sie mit einem Lächeln fest im Blick hielt. An dieser Stelle erwachte das Mädchen jedes Mal, auch an diesem Abend, der der Abend ihrer Verlobung gewesen war.

Seufzend stand sie vom Bett auf und ging hinüber zur Fensternische, wo sie abends gern saß, wenn Hans schlief und die Hausarbeit getan war. Magdalene setzte sich auf den schmalen hölzernen Sims und lehnte ihren Rücken an den Fensterrahmen. Von dort aus schaute sie in den Garten hinab, hinter sich die leisen Atemzüge des Kleinen.

Draußen schwieg eine mondlose Nacht. Die Dächer der Stadt, die Bäume im Garten und die Mauern rings ums Geviert waren kaum zu erkennen. Sie konnte die kleinen, verschachtelten Gärten und Mäuerchen mit geschlossenen Augen sehen, das Muster der hellen und dunklen Backsteine in der einen und die Kerben im Lehm der anderen Mauer. Sie kannte jeden Apfel, der allmählich an den Bäumen ihres Blickfeldes wuchs. Sie kannte jedes Nachbarskind, das von den Mauern aus sehnsüchtig die Äpfel betrachtete. Wenn man die Tatsachen kennt, kann man sich ein Urteil darüber bilden, ob jemandem Recht widerfährt. Magdalene kannte keine Tatsachen. Sie wusste nichts weiter als das, was sie selbst erlebt hatte.

Sie musste mit aller Kraft den Gedanken von sich schieben, noch einmal nach Wettin zu reiten. Wie er wohl jetzt lebte? Allein wie früher, als sie noch nicht da gewesen war? Ob er es bedauerte, dass niemand mehr sein Essen kochte? War er froh, dass er das Kindergeschrei nicht ertragen musste? Ob er gesund war, ob es ihm überhaupt gut ging? Hatte er genug zu essen? Es machte sie wütend, dass er sich dasselbe zu ihr offensichtlich nicht fragte. Ihr Onkel hatte recht. Es interessierte Jean nicht, was Magdalene geschehen war, ihr und dem Kind, von dessen Geburt er nichts mehr erfahren hatte. Nein, er hatte nicht verdient, dass sie noch einen einzigen Gedanken an ihn verschwendete.

 

Manchmal brummte Anna in ihren Altweiberbart, Kinder seien eine schwere Last. Magdalene glaubte ihr nachts, wenn der Hans sie weckte und sie sich schnell, damit er nicht zu viel Lärm machte, über ihn beugte und ihn hochhob. Er besaß als Bett den Kasten, den sie tagsüber unter ihr eigenes Bett schob. Für ein zweites Bett, sei es noch so klein, wäre kein Raum gewesen. Die Truhe mit den Kleidern stand am Fußende, an der Wand hing der kleine Spiegel. Wenn der Kasten herausgezogen war und Hans schlief, hatte sie gerade noch Platz, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen.

Es mochte sein, dass sie, wenn sie mit diesem Händler verheiratet war, besser lebte als bisher. Sie stellte sich ein großes, schönes Zimmer vor, in dem sie mit ihrem Kind wohnen konnte, etwa wie die Bibliothek ihres Onkels, mit einem Ofen und drei großen Fenstern und einem richtigen Schrank für die Kleider. Hans könnte ein großes Bett haben, sie müsste aufstehen und zu ihm gehen. Sie müsste sich nicht sorgen, dass der Kleine die anderen mit seinem Weinen weckte. Vielleicht gab es sogar eine Magd für die Hausfrau und sie müsste nicht, obwohl der Kleine sie nachts aus dem Schlaf gerissen hatte, beim ersten Hahnenschrei aufstehen. Der Gedanke an ihr neues Leben, das bald beginnen sollte, verlor ein wenig von seinem Schrecken.

Magdalene ging am Morgen hinunter in die Küche zu Anna. Sie trug Hans auf dem Arm, den behielten sie tagsüber bei sich in dem warmen Raum. Er brabbelte vor sich hin und fuchtelte mit den Ärmchen. Wenn er einen Ton zu weinen anfing, konnte gleich eine der beiden ihn herzen und wiegen.

»Ach, mein liebes Lenchen«, empfing Anna sie heute, »dass du schon in einer Woche weg sein wirst, ist unfassbar!« Sie wackelte mit dem Kopf und tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Anna war eine erfahrene Amme und schon Magd im Haus ihrer Eltern gewesen, als Magdalene geboren wurde. In den letzten Jahren ergraute das Haar unter ihrer Haube, sie schlurfte behäbiger als früher und redete noch langsamer. Sie schniefte dauernd. Wenn sie redete, dann von früher. Immer war früher auch besser gewesen, das war schon in Magdalenes Kinderzeit so.

Magdalene sah sich um. Die enge Küche, die gemauerte Kochstelle, die Töpfe auf Borden und Stapel von Schüsseln, alles war ihr vertraut. Was sie dagegen in dem fremden Haus erwartete, wusste sie nicht. »Ich komme dich besuchen, ganz bestimmt.«

»So oft du kannst, ja?« Anna deutete mit dem Kinn auf den Kleinen. »Sie wachsen schnell. Du wirst sehen, es dauert nicht lange, bis er sich umdreht und du ihn nicht mehr alleine liegen lassen kannst.« Magdalene betrachtete das Kind, das sie mit offenen Augen ansah.

»Ach, es hat sein Gutes, dass alles schnell geht.« Anna seufzte. »Da kommt es noch in Ordnung.«

Magdalene schwieg, weil sie nicht recht verstand, was Anna meinte.

»Man hat allgemein gewusst, dass der Rehnikel ein seltsamer Kerl ist«, brummelte Anna weiter, »aber was er dir angetan hat, Kind, ist doch kaum zu glauben.«

»Was?« Magdalene war überrascht und begriff nicht gleich, was Anna damit sagen wollte.

»So ein Lüstling. Hält dich monatelang versteckt und tut sich gütlich an dir. Man hat gesehen, wie er dich zugerichtet hat. Du bist ihm abgehauen mit dem Kind, das war gut. Sonst hätte dein Onkel nichts für dich tun können. Er hat den Lüstling gezwungen, zu seiner Tat zu stehen! Der Herr Bertram ist ein guter Vormund!«

Magdalene blieb der Mund offen stehen. »Herr Rehnikel ist nicht schuld!«

Anna schüttelte den Kopf. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Ist der nun Hänschens Vater oder nicht?«

Magdalene holte tief Luft. Was sollte sie ihrer gutherzigen Anna sagen? Dass Hans nicht Herrn Rehnikels Sohn war, sondern der Sohn eines Franzosen, eines Ketzers, eines Mörders?

»Doch, Georg Rehnikel ist Hänschens Vater.«

»Na siehst du. Also hat er auch alles andere verschuldet. Wie hat er zulassen können, dass du dermaßen abmagerst! Hat er dir nichts zu essen gegeben? Und deine Kleidung, bloß einen zerrissenen Kittel hast du getragen! Hat er dich geschlagen? Ach Lenchen, ich kann verstehen, dass du nicht darüber reden willst. Du musst ihn nicht in Schutz nehmen, diesen Kerl. Ich mache mir Sorgen um dich. Dein Onkel meint, es käme alles in Ordnung, wenn du ihn heiratest, weil er auf diese Weise für sein Kind geradestehen muss. Ich denke aber, wenn er dich schon früher geschlagen hat, wird er es weiter tun!«

Magdalene fasste Anna bei den Oberarmen. »Anna, Herr Rehnikel hat mich nicht geschlagen. Das mit meinem Gesicht war ein … Unfall. Es wird mir gewiss gut gehen, ich werde seine Ehefrau.«

Anna nickte. Eine Träne tropfte ihr aus dem Auge. »Wenn es dir nur gut geht. Dass er dich heiratet, ist die einzige Lösung. Weißt du, der Rehnikel ist gerade erst vor einem Vierteljahr Witwer geworden. Als wir die Daten gesehen haben, haben wir verstanden, warum er das mit dir so gemacht hat.«

»Wer, wir?«

»Die anderen Mägde und ich.«

»Anna, redest du draußen über mich?«

Anna schlug ihre blauen Augen zu Magdalene auf. »Mein liebes Lenchen, was soll ich denn sonst tun? Ich war außer mir vor Kummer, als du verschwandst, und ich war auch noch schuld an deinem Unglück! Ich hatte dich hinausgehen lassen. Du warst all die Zeit bei dem Rehnikel. Er hat dich in irgendeinem Versteck festgehalten, dabei dachten hier alle, du wärst ertrunken. Sie haben in der Stadt geredet, es hieß, dein Onkel hätte nicht auf dich achtgegeben. In Wirklichkeit hat der Rehnikel seinen Spaß an dir gehabt und inzwischen so getan, als ob er dich selbst suchte. Das konnte er nicht anders machen, weil seine Frau noch lebte. Das haben wir jetzt verstanden. Dein Onkel hat sich angeboten, den Rat von einer Klage gegen den Rehnikel abzuhalten, wegen der Entführung. Hat er nicht ein gutes Herz, dein Onkel?«

Magdalene sank auf die Küchenbank und schüttelte den Kopf. Sie war nicht in der Lage, ein Wort zur Antwort zu geben. Ob dieser Herr Rehnikel das geahnt hatte, als er zur Heirat nickte? Ob der Onkel lange suchen musste, bis er einen fand, der samt Magdalene noch diese dumme Geschichte auf sich nahm? Noch sechs Tage, bis sie die Frau dieses Menschen war, der sie überhaupt nicht kannte. Der hatte sich ein Fischlein gefangen, das schwerer wog als das, was dem Jean de Morin ins Netz gegangen war.

Die sechs Tage bis zu ihrer Hochzeit verflogen wie der Sommerwind, der sich am Tag vor der Feier schlafen legte. Magdalene durfte das Haus nicht mehr verlassen, auch nicht vorm Haus mit den Leuten reden. Sie ahnte, warum. Zu gefährlich war es, dass sie sich zur Herkunft ihres Kindes verplapperte. Der Schneider brachte am Abend vor der Hochzeit das Brautkleid. Jetzt hing es griffbereit, die Falten glatt gelegt, über der Truhe. Es hatte noch den Geruch der Schneiderstube an sich, den ärmlichen Dunst saurer Gurken, der mit ein paar Tropfen Rosenöl zu vertreiben war.

Das Kleid, schwarz wie alle Brautkleider, schmiegte sich eng an ihre Haut. Eine zart geraffte Bordüre und eine Schleife verzierten den Ausschnitt ihrem Stand angemessen. Es saß knapp in der Taille, wölbte sich modisch über den Hüften und reichte genau bis zum Boden. Die Schnüre am Rücken konnte Magdalene ohne Hilfe nicht schließen. Deshalb schlich sie, die Arme überkreuz vor der Brust, zu dem kleinen Spiegel. Sie betrachtete sich, so gut es ging, von allen Seiten. Es war das wertvollste Kleid, das sie je besessen hatte, sie fühlte sich schön darin. Dennoch war es ein trauriges Kleid. Es erinnerte sie an den Schwur, den Jean und sie einander geleistet hatten. Vor Gott war sie bereits verheiratet.