Magdalenes Geheimnis

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Doch es war ein Schwur einem Mörder gegenüber. Solch einen Schwur musste man nicht halten. Sie erinnerte sich an das Lachen und Träumen mit den anderen Mädchen am Melusinebrunnen. Dort redete Magdalene von ihrer künftigen Hochzeit stets als ein großes, fröhliches Fest. In Wirklichkeit wurde ihre Hochzeit weder groß noch fröhlich. Die eine, die vor Gott, war eine heimliche Hochzeit gewesen, die zählte nicht. Die andere, die für die Leute, würde nur verschämt gefeiert werden.

Die Trauung verlief ohne großes Aufsehen. Der Onkel hatte beschlossen, die üblichen Hochzeitsspäße zu untersagen. Am frühen Morgen stand Magdalene auf und ging mit dem kleinen Hans hinunter in die große Stube, wo sie eingekleidet und geschmückt wurde. Ihre beiden Basen Elisabeth und Katharina, naseweise Mädchen, standen dabei und fühlten dauernd am Stoff und an den Nadeln, mit denen er gesteckt wurde. Tante Dorothea und Anna vollbrachten das Werk selbst. Sie steckten das Kleid eng um ihren Körper, flochten das Haar zu einem Kranz und befestigten die Brautkrone, ein filigranes Drahtgeflecht mit Bändern, obenauf. Anna stand alle Augenblicke vor Magdalene, die Hände gefaltet, und schluchzte: »Was für eine schöne Braut! Wenn das deine Mutter sehen könnte!«

Um neun Uhr morgens kam Georg Rehnikel mit seinen Begleitern, um sie abzuholen. Er trug einen neuen schwarzen Anzug und eine Perücke, unter der er noch dicker wirkte als zuvor. Magdalene betrachtete den Mann, der bereit war, sie samt dieser furchtbaren Gerüchte zu sich zu nehmen. Er schwitzte, er sah sie nicht an, seine Hände zitterten. Waren ihm die Folgen seiner Entscheidung erst nach der Verlobung aufgegangen und er bereute es längst?

Der Brautzug zur Ulrichskirche ordnete sich, ein kleiner, von allen Straßenecken gut beobachteter Zug. Georg Rehnikel führte mit seinen drei Schwägern – das waren andere Kaufleute aus seinem Viertel – den Zug an. Dahinter folgte Conrad Bertram mit Magdalene am Arm, dann die Tante mit ihren Kindern, weiter das Gesinde, allen voran Anna, die ständig schluchzte. Die Bänder der Brautkrone flatterten Magdalene ins Gesicht.

Dem Onkel entging die Neugier der Beobachter. Er spielte unerbittlich seine Rolle als Vormund der Braut. Er hielt Magdalene fest, als ihr mitten auf der Straße übel wurde, lächelte nach allen Seiten und führte sie mit festem Schritt zu ihrer Trauung. Es mochte sein, dass er glaubte, Magdalene wollte im letzten Augenblick kneifen, denn sie schwankte wie ein Grashalm im Wind. Als sie in die Kirche trat, fiel ihr ein, dass Jean gerade in sein Fischerboot stieg und zu den Reusen fuhr. Der Drang überkam sie, etwas Irrsinniges zu tun, etwa laut zu schreien oder die Röcke zu raffen und davonzurennen.

Sie tat nichts dergleichen. Der Onkel hielt sie die ganze Zeit starr am Arm. Er führte Magdalene bis vor Georg Rehnikel hin, der vor dem Altar wartete und sie mit seinen blanken dunklen Augen fest anschaute. Er war ein Anker in diesem Meer von Leibern. Viele unnütze Worte flossen an ihr vorüber und glitten durch die bunten Glasfenster hinaus in den Sommertag. Magdalene war, als stünde sie als einziger Mensch mitten in einem Ozean von nickenden Köpfen, geraunten Worten und staubtrunkener Luft. Sie fühlte sich einsam, so sehr, dass es schmerzte. Ihr Verrat an Jean, an dem Schwur, den sie ihm geleistet hatte, fühlte sich in dieser Stunde schwer an. Sie wurde zur Frau Rehnikel, doch sie wurde es nur mit Hilfe von Worten, nichts als Worten, von Menschen gesprochen, Menschen mit Sünden beladen. Magdalene spürte weder göttlichen Segen noch Fluch. Sie war deshalb die Rehnikelin, weil sich alle einig geworden waren und es in ein großes Buch schrieben. Heiraten ist ein großes Blendwerk, für die gemacht, die daran glauben, und diese Erkenntnis, so traurig sie auch war, erleichterte Magdalene ungeheuer.

Der Tag blieb anstrengend. Es war nicht nur das schwere siebengängige Mahl, das im Gasthof ›Zum Palmbaum‹ serviert wurde: Fasanensuppe, in Brühe geschmortes Wildbret und Pasteten, Fleisch von Rebhühnern, Tauben und Schnepfen, kleine gebackene Speisen vom Kalb mit Früchten, in Speck geschmorte Lachse, Forellen und Hechte, Fischpasteten und Krebsragout, gebackene, mit Zucker bestreute und gefärbte Eierspeisen und Mandelkonfekt. Man war der Stellung der Braut schuldig, dass es beim Essen an nichts fehlte. Als Magdalene am Abend, nach den nötigsten Gratulationen und dem Abtanzen der Brautkrone zum ersten Mal in ihrem Leben ihr neues Zuhause, das Rehnikelsche Haus, betrat, waren ihr die Glieder schwer wie Blei und die Lider brannten. Anstrengend an diesem Tag war die Luft, die um die Hochzeit herumschwebte, wie ein dichter Herbstnebel, beklemmend und unbarmherzig. Anstrengender noch waren das Getuschel, das hinter ihrem Rücken aufflammte, als wär’s die Spur ihres Weges, und die Unverschämtheit mancher Blicke.

Sie betraten das Grundstück durch einen Torbogen. Das Haus lag am Ende des Grasewegs, in der Nähe des Klaustores. Vom Gasthaus waren es ein paar Schritte, die gingen Georg Rehnikel und seine neue Frau nebeneinander. Magdalene spürte ihre Hand in seiner liegen und fühlte, dass er schwitzte. Sie sah, wie rot er war. Das würde die Vorfreude sein. Er glaubte, er ginge seiner Hochzeitsnacht entgegen. Magdalene dachte nicht daran, ihm heute Nacht irgendeine Freude zu bereiten. Das Herz klopfte ihr trotzdem. Links und rechts von ihnen stemmten sich die Pfeiler des mächtigen Torbogens in den Boden, Linien zu Mustern in den Stein gehauen, mit einem breiten umlaufenden Sims. Magdalene ging durch den Bogen, der in der Dunkelheit massig erschien, als wäre er von einem Riesen vor Urzeiten dorthin gepflanzt worden und bliebe bis zum Jüngsten Tage stehen.

Magdalene hatte, obwohl es ihr verboten gewesen war, in den letzten Tagen ein paar Mal mit Sybille sprechen können. Sie hatte sich jede Information über Herrn Rehnikel verschafft, die sie kriegen konnte, um den Preis von Sybilles Ungnade wegen ihrer unbefriedigten Neugier. Herrn Rehnikels Haus trug den Namen »Zu den drei Rössern«, den mochte man ihm gegeben haben, weil es einen Durchgang zum Innenhof besaß, breit genug für ein Fuhrwerk. Die Gasse unweit des Klaustores, an der das Haus lag, war mit buckligem Feldstein gepflastert. Viele Menschen zogen vor allem an den Markttagen durch, es war niemals still dort, eine quirlige, geschäftsträchtige Gegend. Das dunkle, zweigeschossige Gebäude an einer Straßenecke stand zwischen zwei höhere Bauten gepresst, die es mit ihren spitzen Giebeln niederzudrücken schienen.

Die Mauern des Hauses teilten sich deutlich in zwei Schichten. Das Untergeschoss, gemauert aus rauen, behauenen Quadern, war an manchen Stellen eine Armlänge dick. Die fleischfarbenen Steine lagen seit Generationen auf diese Weise aufeinandergeschichtet, und vor ebenso vielen Generationen war ihnen ein einziger großer Bogen als Einfahrt in den Hof gegeben worden. Luft drang durch schmale Schlitze in den Bau, so weit oben, dass kein Hochwasser sie bisher erreicht hatte, nicht einmal die große Flut vor fast hundert Jahren, von der die Alten sagten, es sei eine zweite Sintflut gewesen. Es gab zwei winzige quadratische Fenster in jeder Wand und zum Hof hin eine Tür. Vor wenigen Jahren hatte man erst ein richtiges Geschäft eingebaut, von außen zugänglich durch eine zusätzliche Tür. Obenauf saß wie ein Vogel im Nest ein Fachwerkgeschoss mit einem steilen Ziegeldach, mit verglasten Fenstern und einem Schornstein.

Magdalene war jetzt Herrin eines Haushalts, den sie noch nicht kannte und der viele Jahre lang gut ohne sie ausgekommen war. Magdalenes Füße wollten ihr nicht recht gehorchen und stehen bleiben wie die eines alten Weibes, das vom Gehen ausruht. Sie war noch nie hier gewesen, auch den bekannten Laden unweit der Saalebrücke hatte sie noch nie betreten. Nicht nur, dass die teuren Spezereien nicht von Bediensteten oder Unwissenden gekauft wurden, auch der Ruf des Händlers verhinderte den Besuch der neugierigen Mädchen. Herr Rehnikel war als komischer Kauz bekannt. Man wisperte hinter vorgehaltener Hand, er schließe sich abends in seine Kammer ein und braue Zaubertränke.

Er handelte mit allen Materialien, die ihm Gewinn brachten, er kaufte und verkaufte en gros. Im Laden allerdings bot Herr Rehnikel die Waren an, denen seine Vorliebe galt: den ausgefallenen Spezereien, seltenen Rinden, Wurzeln und Früchten. Herr Rehnikel war ein Liebhaber botanischer Seltenheiten. Sybille hatte ihr berichtet, dass man glaube, er wolle seine Schätze am liebsten behalten und gar nicht verkaufen; er wäre bloß von dem Wunsch getrieben, von allem und jedem ein Quäntchen zu besitzen, zu sammeln, um ein vollständiges Spektrum vorweisen zu können.

Georg Rehnikel führte Magdalene zu einer Tür links hinter dem eichenen Torflügel. Ein seltsam schwerer und würziger Geruch empfing Magdalene, als sie das Haus betrat. Es war derselbe Geruch, den sie an ihrem Mann bei der Verlobung wahrgenommen hatte. Herr Rehnikel wies mit der Hand auf die beiden anderen Türen im Erdgeschoss. »Da geht es in die Küche und auf der anderen Seite in den Laden. Das können wir uns morgen ansehen.«

Sie stiegen die Treppe hinauf ins Erkerzimmer, in dem ein kleines Kaminfeuer brannte. Vom Erkerfenster sahen sie herab auf die erleuchtete Straße und das Gewimmel vorm Gasthaus. Dort feierten die Hochzeitsgäste noch ausgelassen. Die Vornehmheit hinderte sie nicht, sich kräftig zu betrinken, einige grölten lautstark durcheinander. Magdalenes Onkel stand in der Tür und prostete jemandem zu. Es war eine klare, helle Nacht. Magdalene sah sein Gesicht, als stünde er mitten im Sonnenschein. Er lachte fröhlich und gelöst. Musikanten traten auf die Straße, einer fiedelte, einer stieß den Brummtopf. Die Leute begannen zu tanzen. Der Onkel erwischte einen Weiberarm, eingehakt sprang er wie ein Grünschnabel, in der Hand den Becher, aus dem die Gose schwappte.

 

Georg Rehnikel hielt noch immer Magdalenes Fingerspitzen. Mit dem anderen Arm fasste er sie und zog sie heran. Er kam ihr heute kleiner vor, seine runden grauen Augen sahen auf gleicher Höhe in ihre. Sein Mund näherte sich. Sie begriff, was er vorhatte, und senkte den Kopf. Seine Lippen trafen ihre Stirn.

Sie schwiegen lange. Magdalene hielt den Blick auf die Holzdielen geheftet, denn sie wollte nicht die Erste sein, die sprach. Sie hatten den Tag über keine Zeit gehabt, ein einziges Wort unter vier Augen zu wechseln. Herr Rehnikel nahm den Arm von ihrer Schulter.

»Wo ist Hans?«, fragte sie. »Man hat mir gesagt, dass sie den Hans hierher bringen würden.«

Georg Rehnikel nickte und wies mit der Hand auf eine Tür, die links der Eingangstür in einen weiteren Raum führte. Er ging vor, öffnete sie und schritt durch einen kleinen gefangenen Raum mit Schreibpult und Bücherschrank weiter in das nächste Zimmer. Das war das Schlafzimmer mit einem richtigen Kleiderschrank und zwei Truhen, einem großen Bett mit vier gedrechselten Säulen und einem Himmel aus Stoff.

Vor dem Fenster stand eine Wiege. Darin schlief tatsächlich Hans, ihr Sohn. Sie beugte sich über das Bettchen und strich ihm über die Wange. Sie hatte ihn den ganzen Tag nicht stillen können, ihre Brust spannte und sie war sicher gewesen, dass Hans vor Hunger schreien würde. Anna hatte sie noch am Morgen beruhigt und gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Anna wusste alles über kleine Kinder, sie hatte ihm eine Milch gemacht und ihn am Abend hierher gebracht. Magdalene war verletzt, dass das Kind so lange ohne sie ausgekommen war. Sie hob es vorsichtig aus der Wiege. Es seufzte im Schlaf, ließ sich in den Arm nehmen und schlief weiter.

Herr Rehnikel stand hinter ihr. Er sah zu, wie sie mit dem Kind hinüberging in das warme Zimmer. Dort in der Nähe eines großen Erkers standen zwei gepolsterte Stühle. Auf einem von denen ließ sie sich nieder und wiegte das Kind. Georg Rehnikel setzte sich auf den zweiten Stuhl. Er schaute ein Weilchen zu, wie sie dem Kind über die Wange strich. »Seid Ihr müde?«, fragte er. »Möchtet Ihr schlafen gehen?«

Magdalene schüttelte den Kopf.

»Dann darf ich Euch noch ein bisschen Gesellschaft leisten.«

Sie schaute auf. »Es ist Euer Haus, ich kann Euch nicht daran hindern.«

Er atmete aus und ein, bevor er antwortete. »Es ist auch Euer Haus. Ihr seid jetzt meine Frau.«

»Wie konnte ich das vergessen.« Magdalene hörte sich selber sprechen und spürte, wie bitter es klang. Das war der einzige Klang, den sie für den Rehnikel zu verwenden gedachte.

»Magdalene, Ihr seid jetzt wirklich und wahrhaftig meine Frau. Ihr werdet in diesem Haus die Herrin sein. Das werdet Ihr doch nicht ablehnen, oder?« Er beugte sich aus seinem Stuhl vor.

»Natürlich nicht. Ich kenne meine Verpflichtungen.«

Herr Rehnikel atmete ein bisschen und wurde lauter. »Ihr hättet nicht Ja sagen müssen zu unserer Heirat. Ihr habt Ja gesagt. Da kann ich ein bisschen Freundlichkeit von Euch erwarten.«

Magdalene wurde auch lauter, und es brach mehr aus ihr heraus, als sie eigentlich gewollt hatte. »So? Meint Ihr? Was Ihr erwartet oder nicht, ist mir völlig egal. Ich jedenfalls hatte keine andere Wahl als Ja zu sagen. Deshalb braucht Ihr Euch keinerlei Hoffnung machen, dass ich Euch das Bett wärme. Deshalb habt Ihr mich eingekauft, nicht wahr? Für den Spaß, den man mit jungem Fleisch haben kann? Das könnt Ihr Euch schenken. Schließlich weiß alle Welt, dass Ihr mich bereits verführt habt. Geht ruhig schlafen, ich komme später.«

Herr Rehnikel sank in seinen Stuhl zurück und schlug die Augen nieder. Die Hände ballte er zur Faust und sagte keinen Ton. Er stand auf und ließ sie allein. Sie hörte ihn im Schlafzimmer hin und her gehen. Erst als es still war, ging sie ihm nach. Sie legte Hans in seine Wiege und zog das festliche Kleid aus.

Als sie unter das Deckbett kroch, sah sie kurz zu Georg Rehnikel hinüber. Der hatte sich zur anderen Seite gedreht und hielt die Augen geschlossen, aber sie spürte, dass er nicht schlief. Sie rollte sich ein und legte sich auf die andere Seite. Obwohl sie ihm den Rücken zudrehte, hörte sie jede seiner Bewegungen. Sie hatte mehr als neun Monate im selben Bett mit Jean de Morin geschlafen. Nie waren ihr seine Geräusche so aufgefallen wie die von Georg Rehnikel. Der atmete, seine Hand schabte über das Leinen des Bettzeugs, er drehte den Kopf. Sie versuchte vollkommen still zu liegen und flach zu atmen. Schlafen konnte sie nicht.

Gegen Morgen fiel sie in einen Schlummer, aus dem sie sofort erwachte, als Hans in seinem Bettchen einen ersten Ton von sich gab. Sie holte das Kind zu sich herüber und begann es zu stillen. Herr Rehnikel in ihrem Rücken schlug das Deckbett zurück. Er sagte leise: »Guten Morgen!« und stand auf. Er zog seine Kleider an, die gewöhnlichen, und ließ diese furchtbare Perücke weg. Magdalene schaute beim Stillen auf den kleinen Hans. Die Tür hinter ihr klappte, Herr Rehnikel trappte die Treppe hinunter. Sie hörte seine Schritte, die ein wenig schlurften, und dachte darüber nach, wie viele Jahre das jetzt noch so weitergehen mochte, bis sie endlich Witwe war und es hinter sich hatte.


4 . K A P I T E L


Als Hans satt war, legte sie ihn in die Wiege und zog sich an. Die Geräusche des erwachenden Tages drangen undeutlich von draußen herein. Karrenräder polterten über das Buckelpflaster. Spatzen tschilpten, Holzschuhe klapperten vorbei. Sie kämmte ihr Haar und band es hoch. Endlich trug sie die Kopfbedeckung einer verheirateten Frau, eine neue weiße Haube. Einmal, ein einziges Mal hätte sie gern eine für Jean getragen. Aber das war vorüber.

Auch die Hochzeitsnacht war vorüber. Sie musste jetzt ihre neue Aufgabe beginnen. Alles, was sie bei Tante Dorothea gelernt hatte, diente dem Zweck, dass sie selbst eines Tages einen Haushalt führen konnte. Zwar war es bloß ein Händlerhaushalt, aber es war besser als eine Hütte am Saaleufer, in der man morgens nicht wusste, ob es am Tage überhaupt etwas zu essen gäbe.

Magdalene trat durch das Zimmer mit dem Schreibpult in den Raum, in dem sie am Abend zuvor gesessen hatten. Bei Tageslicht war es ein heller Raum, dessen Erker Eindruck machte. Von außen sah man ihn über der Gasse thronen, wenn man den Blick nach oben wandte. Die Fenster dieses Erkers waren zweigeteilt wie das Haus. Weiße, glatt geschliffene kleine Butzenscheiben füllten die untere Hälfte der Fensterrahmen, während die obere Hälfte an allen drei Erkerseiten mit gezogenem flachem Glas gefüllt war. Der Erker verlieh der Stube einen unruhigen Charakter. Magdalene konnte nicht aufhören, über die eigenartige Komposition zu staunen. Ansonsten überwog das sparsame Bauen. Keine Verzierung, kein modischer Schnörkel fand sich an den Wänden, den Türen und Fenstern. Der Erker war überhaupt das einzige Bauteil, das nicht einem streng ökonomischen Zweck diente. Rechts des Erkers, in die belebte Gasse zwischen Pforte und Markt weisend, saß noch ein zweites Fenster, das wegen seiner Schlichtheit neben dem großen Lichtquell kaum auffiel. Der weiß gekalkte Raum war nicht größer als eine gewöhnliche Stube. Modisch waren weder der Kamin noch der dunkle Esstisch oder die schweren Stühle. Das neueste Stück mochte ein Eckschrank sein, hinter dessen Glasscheibe ein silberner Becher und zwei farbige Vasen aus durchscheinendem Material blitzten. Die beiden Armlehnstühle in der Nähe des Erkerfensters waren aus ebenso dunklem Holz wie die anderen Möbel im Raum, die Sitze gepolstert und mit braunem Leder bezogen. Hier hatten sie am Abend gesessen.

Ihr Mann kam die Treppe hinauf. Er sah sie an, wie sie mitten im Raum stand. Kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. »Würdet Ihr so freundlich sein«, begann Magdalene zu sprechen, »und mir die Magd schicken, die bisher die Schlüsselgewalt innehatte? Ich werde jetzt meine Pflichten übernehmen.«

»Die Else ist das. Ich werde ihr sagen, dass sie heraufkommen soll.« Georg Rehnikel nickte, wandte sich zurück zur Tür und stieg die Treppe hinab. Magdalene würde sich Küche und Kammern zeigen lassen und sehen, wo ihr neues Leben anfing und wo es eines Tages enden würde. Ihre Blicke wanderten in alle Ecken, über die Fensterrahmen und hinauf zur Decke, wo die dunklen Balken auf sie hinunterschauten.

Die Magd Else trat ins Zimmer, eine große, schlanke Frau, in deren blondem Haar Silberfäden schimmerten. Sie trug ein dunkles grobes Wollkleid und eine leinene Schürze. Else mochte um die fünfzig Jahre alt sein, in Herrn Rehnikels Alter oder etwas darüber. Die Magd legte den großen Ring mit etlichen Schlüsseln auf den Tisch in Magdalenes Reichweite. Sie redete keinen Ton, doch es war aus ihren zusammengekniffenen Lippen herauszulesen, wie ungern sie es tat. Magdalene hob das Kinn. Ein feines Lächeln trat auf ihre Lippen, das erste in diesem Haus.

Sie griff nach dem eisernen Ring. Er war groß und schlicht, blank vom vielen Tragen, daran hingen etliche Schlüssel. Sie zählte: elf, zwölf, dreizehn. Dreizehn Schlüssel für Meister Rehnikels Haus.

Die Holzschuhe der Magd scharrten lustlos über die hölzernen Dielen. Von der Treppe aus, die Magdalene am letzten Abend hinaufgekommen war, führte eine weitere Tür zu einem offenen Gang, der auf der Rückseite des Hauses zum Hof lag. Von hier aus konnte man zu zwei Kammern und in das Dachgeschoss gelangen. Else zeigte auf eine Tür. Magdalene verstand erst, als Else auf die Schlüssel wies, dass sie selbst öffnen musste. Der Schlüssel drehte sich leicht, das Scharnier quietschte ein wenig, als sie die Tür aufzog.

»Das war das Krankenzimmer der verstorbenen Frau«, erklärte Else. »Sie hat im März da drin ihren letzten Atemzug getan.« Magdalene schaute in den kleinen wohnlichen Raum mit einem Bett, einer Truhe und einem dunklen Wandschrank mit geschnitzter Krone. Er war gut gelüftet, das Fenster ging zur Pforte hinaus, wo unten die Menschen vorbeiquirlten. Im Schein der Junisonne tanzten kleine goldene Pünktchen durch den Raum, von der frischen Luft aufgewirbelte Staubkörnchen. Das Schlüsselbund in Magdalenes Hand klimperte. Übermütig rüttelte sie ein wenig mehr, dass es rasselte und schepperte, und trat mit festem Schritt auf den Gang hinaus.

Die andere Tür barg den Eingang in das künftige Zimmer ihres Sohnes. Ein mit einem Baldachin überwölbtes Bett, kleiner als ein gewöhnliches, mit weichen Kissen übersät, auf den hölzernen Dielen ein Teppich, mehr befand sich nicht in dem Raum. Dennoch lag er warm und freundlich vor ihr. Man sah durch ein Fenster auf die Straße herunter, wo Wagen fuhren und Leute gingen. Mit Schwung schloss Magdalene die Tür hinter sich, dass es knallte und die Magd empört die Lippen zusammenkniff.

Eine schmale Stiege führte hinauf ins Dachgeschoss. »Die Mägdekammern«, erklärte Else vor den drei Brettertüren unter den schindelbedeckten Dachsparren.

»Habe ich hier auch einen Schlüssel?«, fragte Magdalene. Else nickte säuerlich. »Ihr seid die Hausherrin, natürlich.«

Magdalene lächelte strahlend in Elses Essigmiene hinein, rasselte mit den Schlüsseln und lobte Reinlichkeit und übersichtliche Ordnung des Haushalts. Sie stieg die Treppe hinab, ohne sich umzudrehen, und fand sich in dem offenen Gang draußen vor dem Haus, wo ein lauer Luftzug wehte. Sie drehte sich einmal um sich herum und nickte. Ohne ein weiteres Wort ging sie zur unteren Treppe, gefolgt von Else.

Unten führten vom Treppenabsatz drei Türen, eine auf den Hof, eine zum Laden und eine in die Küche. Die klinkte sie auf und ging an einer jungen Magd vorbei zuerst auf das Fenster zu, öffnete den Riegel und sah auf die Straße hinaus, auf der die Leute von der Pforte zum Markt zogen. All der Lärm, das Geschrei und Geschwätz und Gepolter und Gekreisch drangen herein. Man sah zu ihr hinauf, wie sie da im Fenster stand. Das Herdfeuer brannte, die junge Magd rührte die Suppe und auf den Borden blinkten die metallenen Platten, auf denen die Speisen aufgetragen wurden. Ein großer Spülstein in der Ecke war sauber gescheuert, hölzerne Eimer mit frischem Wasser standen bereit. Niemals, als sie da draußen am Saaleufer lebte, hätte sie sich träumen lassen, eines Tages solch eine herrliche Küche zu führen.

 

»Wie ist dein Name?«, fragte sie die junge Magd.

»Gertrud«, flüsterte das Mädchen und zwinkerte erschrocken. Magdalene lächelte ihr zu und wandte sich dem nächsten Raum zu, hinter der Tür auf der anderen Seite des Korridors.

Es war der Laden, das Geschäft für die Leute der Stadt, die hier ein paar Kleinigkeiten erwerben wollten. Von den Deckenbalken hingen getrocknete Pflanzen. Der kleine Raum war an zwei Wänden bis zur Decke mit Regalen eingerichtet, in denen Fläschchen, Gläser, Kisten und Körbe miteinander um Platz rangen. Auf dem Boden standen Krüge und Kiepen, jedem einzelnen Gefäß schien ein eigener Duft zu entsteigen. Magdalene tastete, als sie sich an das Dämmerlicht des Ladens gewöhnt hatte, mit ihren Blicken die Regale ab. Sie hatte solch eine Vielfalt an Gefäßen noch nie gesehen. Was war die Ordnung der Apotheke am Markt gegen die wunderliche Mischung von rätselhaften Materialien, wie Herr Rehnikel sie hier stapelte!

Hinter dem Tisch, der eine Waage trug, stand ein glatzköpfiger Mann im leinenen Kittel eines Gesellen. Er verbeugte sich leicht.

»Ich bin Magdalene Rehnikel«, erklärte sie mit einem Lächeln. Es war das erste Mal, dass sie ihren neuen Namen aussprach. »Und wer seid Ihr?«

Er eilte um den Tisch herum, der sie getrennt hatte, und klappte zusammen wie ein Scherenmesser. Unter der neuerlichen tiefen Verbeugung hervor antwortete er: »Ich bin Jakob Lichtenberg, der Geselle Eures Gatten, unseres lieben Meisters.«

Magdalene nickte und sah hinter dem Mann eine weitere offene Tür. Sie ging darauf zu, Else wie einen Schatten hinter sich. Es war ein Vorratslager. Einen Keller gab es hier nicht, das war Magdalene klar, wegen der Nähe der Saale und der häufigen Hochwasser. Was bei den Bertrams im Keller lagern konnte, war hier säuberlich in der Vorratskammer aufgestapelt: Fässer, Kisten, Tonkrüge, Stiegen. Auf einem kleinen Tisch drängten sich Flaschen und ein Kessel, an einer Wand lehnte ein Warenregal. Der Meister hatte offensichtlich von hier einen kurzen Weg und lagerte alles, was sich im Laden schnell verkaufte, in dieser Kammer. Das erklärte, warum die Vorratskammer einen Hauch von dem Duft besaß, der im Laden herrschte, jenem fremdländischen, schweren Atem der Gewürze. Die kleinen, Schießscharten ähnlichen Fenster weit oben füllten den Raum mit einem diffusen Licht. Von den dicken Mauern her wehte Kühle.

Ein einziges Mal stellte Else eine Frage. »Soll ich den Einkauf erledigen, das schwere Tragen, Fleisch und Gemüse?«

Magdalene schüttelte den Kopf. Stattdessen diktierte sie den Speisenplan für den nächsten Tag und fragte: »Wie hast du es bisher mit dem Geld gehalten?«

»Der Meister hat mir gegeben, was für den Haushalt nötig war«, gestand die Magd mit nach vorn gerecktem Kinn und dünner Stimme.

Magdalene zückte ihr Büchlein. »Von heute an, Else, wird hier alles aufgeschrieben, jeder Einkauf und jeder Verbrauch. Wir halten jeden Abend Rechnung, und wir werden gut zurechtkommen, nicht wahr?«

Elses Miene sprach Bände. Es fehlte nicht viel, und sie hätte die Zähne gefletscht.

Magdalene stieg nach oben, um nach dem Kleinen zu sehen. In ihrer Hand trug sie das Schlüsselbund. Es fühlte sich gut an, ein Schlüsselbund zu besitzen. Sie holte den friedlich schlafenden Hans aus seiner Wiege und trug ihn auf den Armen durch das Zimmer. Am Erkerfenster blieb sie stehen. Von hier konnte sie den Graseweg vom Klaustor bis hinauf Richtung Markt einsehen. Gegenüber befand sich die kleine Gastwirtschaft. Wenn sie sich dicht ans Fenster lehnte, sah sie in der anderen Richtung hinterm Tor die Saalebrücke und ein Stück vom Fluss. Die schmale, gepflasterte Straße war an diesem Markttag voller Menschen und Wagen.

Die junge Magd trat hinter ihr ein. Magdalene hörte die Türklinke quietschen und drehte sich um. Das Mädchen besaß ein blasses Gesicht und Haare von der Farbe nassen Strohs unter der strengen Haube. Sie trug auf einem Tablett eine kleine blaue Tasse, knickste und stellte das Geschirr auf den Tisch. »Ich soll Euch Kaffee bringen, Frau Meisterin«, erklärte sie schüchtern, »das hat Meister Rehnikel gesagt. Er hat ihn selbst gemacht.« Dabei betrachtete sie Magdalene aus dem Augenwinkel. Sie blieb stehen, die Hände vor dem Schoß zusammengelegt.

Offensichtlich gab sich Herr Rehnikel als weltgewandter Mann. Nicht einmal Conrad Bertram war bisher auf diese Moden gekommen. Weder wurde bei Bertrams zu Hause auf dem Tablett serviert, noch wurde geknickst und erst recht kein Kaffee getrunken.

Das Mädchen schien auf irgendetwas zu warten, aber sie war zu schüchtern, um selbst zu fragen.

»Wie alt bist du, Gertrud?«, fragte Magdalene, um die Kleine aufzumuntern.

»Dreizehn«, antwortete das Mädchen schüchtern.

»Und gefällt es dir gut hier im Haus?«

Gertrud nickte. »Die Arbeit in der Küche ist schwer, aber das macht mir nichts aus. Die Else ist ein bisschen streng«, flüsterte sie, »und der Meister und der Jakob sind wirklich gute Menschen.«

»Du musst vor mir keine Angst haben, Gertrud«, kam ihr Magdalene entgegen. »Du hast etwas auf dem Herzen, nicht wahr?«

Gertrud wurde rot und nickte. »Darf ich … darf ich das Kind sehen?«

Magdalene lächelte. Sie nahm den Hans von ihrer Schulter, an der sie ihn getragen hatte, legte ihn auf den großen Tisch und sagte: »Er muss sowieso neu gewickelt werden. Du könntest mir gleich dabei helfen.«

Gertrud begann zu strahlen. Magdalene schob die Tasse ein Stück zur Seite und zog die Nadeln heraus, mit denen Hans’ Tücher gesteckt waren. Gertrud öffnete den Mund staunend. »Er ist so klein«, flüsterte sie, »seine Finger sind winzig.« Hans streckte sich, als er die frische Luft an seinen Gliedern fühlte. Er begann die Beine zu bewegen, die sonst in den gewickelten Tüchern eng aneinander gedrückt waren, damit sie gerade wuchsen. Der Kleine öffnete die Augen. Er konnte schon sehen, wenn sich etwas vor ihm bewegte, und seit einigen Tagen hatte Magdalene stets das Gefühl, dass er ihr mit seinen Blicken folgte. Gertrud klatschte in die Hände. »Oh, er hat wunderschöne braune Augen! Genau wie der Meister Rehnikel!«

Magdalene lächelte. »Warum nicht?«

Gertrud meinte abfällig: »Die Else meint, das Kind könne nicht von Meister Rehnikel sein, weil der niemals so etwas getan hätte wie ein Mädchen irgendwo festzuhalten, um seinen Spaß an ihr zu haben.«

»So, meint sie das?« Magdalene richtete sich gerade auf.

»Ja, sie sagt, sie glaubt nicht, dass er in der Lage wäre, eine junge Frau wie Euch zu bezaubern.«

Magdalenes Stimme wurde weich, weil ihr Inneres hart geworden war. »Du kannst der Else berichten, dass der Kleine das Ebenbild meines lieben Mannes ist. Du kannst ihr außerdem sagen, dass mich der Meister nicht festhalten brauchte, weil ich freiwillig bei ihm geblieben bin, denn ich bin von ihm ganz hingerissen.«

Gertruds Augen rundeten sich vor Staunen. Sie sah zu, wie Magdalene den Kleinen putzte, ihm eine neue Windel umlegte und ihn in sein Tuch steckte. Unter einem neuen Knicks zog sie sich zurück.

Magdalene kostete von dem Kaffee, als die Magd gegangen war. Das dunkle Getränk roch merkwürdig und schmeckte bitter und verbrannt, deshalb ließ sie es auf dem Tisch stehen. Sie hob Hans auf und ging ans Fenster. Der mit den runden Butzenscheiben verglaste Streifen endete in Höhe ihrer Brust. Sie konnte ungehindert durch das schöne flache Glas sehen, in dem sich die Sonne spiegelte.

Von oben betrachtete sie das Treiben auf der Straße. Mädchen gingen lachend und kichernd vorbei. Sie gehörte nicht mehr zu denen, sie war jetzt eine verheiratete Frau. Auf den Stufen klangen Schritte. Magdalene konnte sie jetzt schon voneinander unterscheiden. Da kam Georg Rehnikel herauf, ihr Mann. Niemand sollte an der Geschichte zweifeln, die zu ihrer Heirat gehörte, ganz bestimmt nicht die Altmagd Else. Magdalene würde dafür sorgen.