Die Bluthunde von Paris

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„Nun, solange das Gras noch saftig ist und voller Kleeblätter und Löwenzahn, frisst Vraem recht vergnügt und vergisst die Welt um sich herum. Sie würde niemals fortgaloppieren.“

„Hmm!“, machte der junge Mann. „Und was ist mit dir? Würdest du am liebsten fortlaufen? Ich meine, vor deinem Elternhaus davonlaufen.“ Hungrig schob er sich Speck und Brot auf einmal in den Mund. Hastig schälte er das Ei und biss genussvoll hinein. Das Mädchen gewann den Eindruck, er habe seit Wochen nichts gegessen. Gebannt sah sie zu, wie er Speck und Eier vertilgte, das Brot regelrecht hinunterwürgte. Ganz in seinen Anblick vertieft vergaß sie völlig, selbst zu essen. Obwohl er eher wie ein Tier alles verschlang und nichts von der guten Kinderstube aufwies, die er als Kind aus adeligem Haus sicherlich hatte, fand das Mädchen ihn schön. Alles an ihm gefiel ihr. Die schmalen Hände, die hohe blasse Stirn, in die dunkle Locken fielen, die wachen Augen und dieser Mund, hinter dem alles Essbare verschwand. Sie hätte ihn den ganzen Abend, die ganze Nacht, ja ein ganzes Leben nur ansehen mögen. Ihr aufgerissener Blick irritierte den jungen Herrn.

„Starr mich bitte nicht so an! Iss und erzähle von dir, damit ich nicht ganz im Dunkeln tappe.“

Schüchtern griff Philippine zu. Sie nahm ein kleines Stückchen Speck, biss vom Brot, schälte ein Ei.

„Von mir gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin ein gewöhnliches Landmädchen.“

„Nun, so gewöhnlich bist du nicht. Du hast ein schönes Pferd, bringst üppig zu essen. Ich nehme an, dein Vater ist kein Hungerleider.“

Seufzend wischte er sich die Hände an der Hose ab und nahm vom Cidre. Er trank ihn aus dem Tongefäß.

Gläser gab es natürlich nicht. Ein zufriedenes Lächeln trat auf seine Lippen. Er lehnte sich im Stuhl zurück und sah das Mädchen eine Weile an, ohne etwas zu sagen. Unter dem durchdringenden Blick seiner dunklen Augen erschauderte Philippine. Es war nicht Furcht, eher furchtsame Erwartung eines unbekannten Ereignisses. Unerklärlicherweise fühlte sie sich zu diesem Fremden hingezogen. Nichts außer seiner Schönheit sprach dafür, ihm zu vertrauen. Er war auf der Flucht, er hatte Angst und es schwebte der Verdacht des Mordes über ihm. Im Bann ihrer Überlegungen war Philippine die Veränderung in seinem Blick entgangen. Sie bemerkte es erst, als er sagte:

„Was auch immer dein Vater für ein Handwerk betreiben mag, es hilft ihm, seine Familie gut zu ernähren. Später wirst du einen rechtschaffenen Mann heiraten und sollten sich die vermaledeiten Zustände unseres Landes verbessern, wird es dir recht gut gehen.“

„Werde ich mit diesem Fuß jemals einen Mann finden?“ Sie zeigte auf die Missbildung. Verblüfft warf der Jüngling die Arme hoch.

„Lieber Himmel, ein Mann schaut nicht auf deinen Fuß. Er schaut in dein Gesicht und das ist schön. Dein Haar ist herrlich. Noch bist du ein Kind, aber wenn du erst einmal zur Frau gereift bist ...“ Schelmisch zwinkerte er ihr zu. Dann schnellte er plötzlich hoch und rief:

„Es ist Zeit für dich heimzukehren. Der Abend ist sehr dunkel heute. Es wäre mir nicht recht, stoße dir etwas zu, denn ich erwarte dich morgen zurück. Verberge gut dein Haar und dein Gesicht.“ Er half ihr aus dem Sessel.

An der Tür zwirbelte Philippine ihr Haar zu einem Dutt und wickelte ein Tuch um Kopf, Kinn und Mund. Auf ihren leisen Pfiff hin tauchte Vraem aus der Dämmerung.

„Ein wirklich schönes Tier!“, bemerkte der Edelmann anerkennend.

„Und der beste Wächter. Würde jemand ums Haus streunen, wären wir sofort gewarnt.“

„Dann solltest du mir die Stute lassen, Landmädchen.“

„Das würde ich, wäre es möglich. Doch Vraem wird nicht bei Ihnen bleiben.“

„Schönes und treues Tier. Bis morgen!“ Er begleitete sie nicht bis zu ihrem Pferd, sondern blieb im Dunkeln hinter der Tür stehen bis sie aufgestiegen und fortgeritten war.

Fast täglich ritt Philippine zum Landhaus. Da die Tage kälter wurden und die Nacht früher hereinbrach, schleppte sie Decken und groben, warmen Vorhangstoff für die Fenster herbei. Auf seine Bitte hin brachte sie auch Kleidung. Denn am Brunnen im Garten wusch er sich nicht nur, er spülte auch seine Leibwäsche dort aus und hing sie am Kamin zum Trocknen auf. Als er nach einer Woche ausstaffiert war, fragte er nach Werkzeugen, um die kaputten Scheiben durch Holzlatten oder Bretter zu ersetzen. Gerätschaften und Holz transportierte Philippine in einem Leiterwagen herbei, vor den sie Vraem spannte.

„Es ist mir unerklärlich wie du das alles mit deinem Bein zustande kriegst.“

„Was man gerne macht, ist ganz leicht!“, antwortete sie lächelnd.

„Nun gut! Wie aber erklärst du deiner Familie oder den Nachbarn diesen Aufwand? Werden sie nicht misstrauisch? Stellen sie nicht Fragen, wohin du damit willst?“ Er wies auf die Bretter.

„Was ich mag möchte ich schützen. Also fallen mir Erklärungen ein, die keine Zweifel zulassen.“ Sie lachte strahlend. Vielleicht war es dieses Lachen, vielleicht auch der Glanz in ihren Augen, das den jungen Mann bewog, sie zu bitten, künftig schon am Nachmittag zu kommen, um mehr Zeit mit einander verbringen zu können.

„Bist du auch ein Kind niederen Ranges, so schätze ich deine Gegenwart. Deine Gedanken sind reif, dein Herz ist kein Kinderherz mehr, und dein Verstand verblüfft. In den letzten Wochen habe ich dich beobachtet und studiert. Und ich habe beschlossen, dir meine Geschichte zu erzählen. Allerdings musst du mir ein weiteres Mal auf das Leben deines Pferdes schwören, niemandem davon zu berichten.“

„Immer und immer wieder schwöre ich Ihnen leichten Herzens, lieber Herr. Bis heute habe ich niemandem verraten, dass ich in diesem Landhaus Zuflucht gefunden habe. Nun werde ich es erst recht nicht tun. Es soll auf immer unser Geheimnis bleiben. Möge auch Gott niemandem verraten, dass wir hier sind.“

„Ob Gott uns gnädig ist, mag ich bezweifeln. Aber dir will ich glauben. Trotz deiner Jugend bist du unerhört klug!“ Wie zu Anfang forderte er sie auf, ins Innere zu treten und im Sessel Platz zu nehmen. Während sie es tat, schürte er die Glut und gab einige Holzscheite hinzu. Schließlich setzte er sich ihr gegenüber. Es war ein sonniger Spätnachmittag, der Abend ließ auf sich warten, doch aufgrund der abgedunkelten Fenster war der Raum schummrig. Das Feuer im Kamin wiederum erzeugte ein gemütliches Licht und die aufzuckenden Flammen gaben den Gesichtern der beiden jungen Menschen einen faszinierenden Schmelz. Philippine saß still und wartete ergeben. Sie hätte sogar die Augen niedergeschlagen, aber sie konnte seinem Anblick nicht widerstehen. Der Edelmann beugte sich ein wenig vor und sah dem Mädchen intensiv in die Augen.

„Du heißt Philippine, und ich nenne dich auch so. Ich heiße Maxence. Du darfst mich so nennen. Vergesse aber niemals die Anrede Monsieur. Nenne mich Monsieur Maxence, hast du verstanden? Bei allem Vertrauen, das ich dir entgegenbringe, bleibt doch stets der Rangunterschied. Du musst ihn respektieren. Verstehe mich nicht falsch: Ich bin ein Mann des Fortschritts, du wirst es anhand meiner Geschichte erfahren. Ich hasse den Absolutismus, verabscheue die Arroganz des Hofes, unter der das Land leidet. Gleichzeitig glaube ich an den Unterschied des Blutes. Ich bin von edlem Geblüt und du von gemeinem Blut.“

Erst jetzt senkte Philippine die Lider. Sie wusste, dass sie im Vergleich zu ihm ein Nichts war, aber konnten nicht Empfindungen, große Gefühle das alles wettmachen?

„Sieh mich an!“

Das Mädchen gehorchte.

„Du willst also meine Geschichte hören?“

Es nickte heftig.

„Schwöre mir zum dritten Mal, beim Leben deiner Mutter, deines Vaters, deiner Geschwister und deines Pferdes, niemandem zu verraten, was du nun von mir hörst.“

Zärtlich ruhten die großen Augen des Mädchens auf dem Gesicht des Edelmanns. Leise und fast etwas enttäuscht wiederholte es, was es schon mehrmals beteuert hatte.

An der Art, wie es zu ihm sprach und auch an ihrem zärtlichen Blick, musste der Mann erkennen, dass dem Mädchen viel an seiner Person lag. Dementsprechend war die Aussage zu deuten, mit der er zu erzählen begann:

„Wenn du mich verrätst, erwartet mich der sichere Tod.“

Philippine zuckte zusammen. Deutlich hob sich das kräftige Grün ihrer Augen von der blassen Haut ab.

„Vorläufig bin ich hier sicher. Niemand aus meinem Bekanntenkreis wird sich an dieses alte Landhaus erinnern. Es gehörte einem älteren Freund meines Vaters, der sich hier mit seiner jungen Maitresse traf. Bevor er starb, vermachte er es der Maitresse, die jedoch nach seinem Tod wahnsinnig wurde und auf ihrem Schloss vor sich hinvegetiert. Solange sie lebt, kümmert sich niemand um das Liebesnest und niemand verspürt Lust, in diesen einsamen Ort Geld zu investieren, um ihn wohnlich zu machen. Wir brauchen nichts zu befürchten, wenn du schweigsam bist.“

„Ich schwöre es!“, flüsterte Philippine aufs Höchste gespannt.

„Kennst du Frankreichs Geschichte?“

Das Mädchen nickte zaghaft und erwähnte einige Episoden, die sie bei Pfarrer Roumanet gelernt hatte. Allerdings traue sie seiner Interpretation nicht ganz. Sie sei voller Wut und Hass auf das Königshaus. Dabei müsse man den König ehren. Maxence lachte spöttisch.

„Nein! Diesen König darf man nicht ehren. Er ist so schwach wie sein Vorgänger und so vergnügungssüchtig wie einst der Sonnenkönig.“

„Aber der Sonnenkönig war ein starker Mann. Er hat Versailles gebaut.“

„Und unzählige Kriege geführt. Willst du solche Könige ehren? Der Bau von Versailles hat Unsummen verschlungen und das Volk ausgehungert. Alles Salz ging an den Hof, die Menschen auf dem Land mussten darauf verzichten und wurden bucklig.“

„Es braucht großen Mut, die Könige anzuzweifeln. Sie sind wie Gott. Wir können nicht gegen sie ankämpfen. Wir dürfen es auch nicht, wenn uns unser Leben lieb ist. Sonst müssen wir so schrecklich leiden wie Damien, der unseren Ludwig XV ermorden wollte.“

 

„Unfug! Unsinn! Dummheit!“, rief Monsieur Maxence und seine Wangen röteten sich. „Der König ist nicht wie Gott. Merke es dir ein für allemal! Unser jetziger König ist ein gutmütiger Mensch mit einem einfachen Verstand. Nicht dafür geschaffen, einem Reich mit all seinen Schwierigkeiten vorzustehen. Er und seine kindische, nichtsnutzige Königin müssen verschwinden.“ Ein wilder Ausdruck verhärtete Maxence’ Gesicht. Wieder zuckte Philippine erschrocken zusammen. Ihre Lippen formten das Wort König und sie wurde blass.

„Nettes, ahnungsloses Mädchen, das du bist, wach auf! Du und deinesgleichen werdet klein und dumm gehalten, damit ihr es ja nicht wagt, euch aufzubäumen. Siehst du denn nicht wie verschwenderisch sie in ihren Schlössern leben? Gold, Silber, schöne Kleider, gutes Essen in Hülle und Fülle, während ihr euer Brot einteilen müsst, wenn ihr überhaupt welches habt.“

„Das ist in der Natur der Dinge, weil wir einfach sind und der König göttlich.“

„Göttlich! Ha!“

Aufgebracht schoss er hoch. Sein Zeigefinger schnellte durch die Luft und leidenschaftlich fuhr er fort: „Was ist in der Natur der Dinge? Dass der Mensch sich nur durch Bildung vom anderen unterscheidet und nicht durch das Blut!“

„Aber Sie sagten zuvor, ich sei von gemeinem und Sie von edlem Blut!“, wagte Philippine hoffnungsvoll einzuwerfen.

„Das war anders gemeint, altkluges Mädchen! Und vermeide es, mich frech zu unterbrechen.“

Streng sah er sie an. „Edles Geblüt bezieht sich auf die edle, jahrhundertealte Erziehung, die meine Familie genossen hat. Deshalb ist unser Blut edel. Deshalb hat sich unser Verstand verfeinert und deshalb sehen wir auch feiner aus als das niedere Volk. Das gilt ebenso für den König. Auch wenn er im Gegensatz zu meinesgleichen ein lahmer, nichtsnutziger Esel ist. Ich habe die großen Denker unseres Jahrhunderts studiert. Louis studiert außer den erlesenen Speisen auf seiner Tafel nur Hirsche. Vor deinem Gott jedoch sind wir alle gleich, und vor dem Gesetz müssen wir alle gleich behandelt werden. Hast du das verstanden?“

Unsicher nickte Philippine.

„Und bevor ich dir meine persönliche Geschichte erzähle – die übrigens sehr kurz ist – werde ich dir die lange Geschichte aller Könige Frankreichs lehren und du wirst erkennen, dass diese Menschen keine Stellvertreter Gottes sind. Eher sind sie Stellvertreter des Teufels, man denke an einige unter ihnen wie François I., der seinem Volk hohe Steuern abpresste, um seine Favoriten und Maitressen mit Schätzen zu überschütten. In seinem Reich blühten Wucher, Korruption und Hass auf Andersdenkende. Dann gab es Henri II, der jeden Calvinisten aufhängen ließ. Was hältst du von Henri de Guise und Catharina de Medici, diesen heimtückischen Kreaturen? Getrieben von der Gier nach Macht, zerfressen vom Hass auf alle, die ihre Pläne durchkreuzten, schlachteten sie in einer Nacht allein in Paris 3000 Hugenotten ab. Und die Glocken der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois läuteten das Massaker ein. Stell dir das Grauen bildhaft vor: Frauen und Kindern schlitzt man die Kehle auf, Tote füllen die Straßen, schwimmen in der Seine. Admiral Coligny, Anführer der Hugenotten, wird von Säbelstichen durchbohrt, aus dem Fenster geworfen, sein Körper niedergetrampelt, bevor man ihm den Kopf abschneidet und dem Königshaus schickt.“

Totenblass richtete sich nun Philippine auf. Sie bedeckte ihre Ohren mit den Händen.

„Bitte, Monsieur Maxence! Sagen Sie nicht so schreckliche Dinge. Sie machen mir richtig Angst.“

„Das soll es auch! Aber nach der Angst muss Wut, Zorn und geballte Kraft in dir wachsen, um diese Ungeheuer ein für alle Mal vom Thron zu stürzen. Deshalb erzähle ich dir die Schandtaten aller Potentaten. Deshalb, und damit du meine Geschichte besser verstehen kannst.“

Allmählich begriff Philippine, wovor der edle Herr auf der Flucht war. Ein eiskalter Schauder rieselte ihr vom Nacken aus den Rücken hinunter. Trotz der Bitte und ihrer großen Bestürzung fuhr Maxence wild gestikulierend in seiner Rede fort:

„Ja, durch Bildung unterscheiden sich die Menschen. Aus diesem Grunde muss jeder Mensch das Recht auf Bildung haben. Erst dann beginnt die Auslese, wer es zu Höherem bringt und wer nicht. Seit Jahrhunderten aber bestimmt das adlige Blut den Rang. Zwangsläufig wird das Volk von Kretins oder Bestien regiert, denn nicht immer ist adliges Blut auch edel.“

„Aber Monsieur Maxence. Ist der gemeine Mensch nicht schlimmer? Oft ist er wie ein Tier. Ich habe Angst vor ihm und wünsche mir am Hof leben zu dürfen. Unter schönen, gepflegten, ja auch gebildeten Menschen.“

„Der Hof wird täglich unwichtiger, lass es dir gesagt sein! Unter ihm bewegt sich der Boden. In ihm pulsiert wild das Blut des einfachen Mannes. Das Klopfen und Hämmern in den Adern der Erde wird so stark werden, dass der Thron zusammenbricht. Und ich ... ja ich, werde dazu beitragen, dieses morsche, korrupte Reich niederzubrennen. Und auf seiner Asche wird etwas Neues entstehen. Eine neue Form der Regierung, eine Gesetzgebung, die jeden Menschen gleich behandelt, eine Regelung, die Bedürftige beschützt. Die Republik! A bas la monarchie!“ Seine Faust sauste wie ein Säbel durch die Luft als wolle er sie durchschneiden. Dann plötzlich wurde es still. Durch die Schlitze der Stofffetzen an den Fenstern blitzte bläulich rosa ein letzter Tagesrest. Maxence bemerkte es beunruhigt, schöpfte neuen Atem und öffnete den Mund zum Sprechen. Bevor er jedoch ein weiteres Wort herausbrachte, fragte Philippine in die Stille hinein:

„Was ist eine Republik?“

Über ihre Frage erstaunt, blieb er einige Sekunden mit offenem Munde stehen und starrte sie an. Dann streifte sein Blick den Schlitz im Vorhang. Es war fast dunkel.

„Das erkläre ich dir morgen. Ich will dir alles beibringen, was dir hilft, unsere Welt, unsere Gesellschaft zu verstehen! Aber nun musst du rasch zurück reiten. In wenigen Minuten ist es Nacht.“

7. Kapitel

In all der Zeit, in der sich Philippine weiter bildete, in der sie ihren neuen Gesundheitsschuh angepasst bekam und die ersten aufwühlenden Regungen der Liebe empfand, waren Lea und Frieda im Hause des Verhörvollstreckers nicht untätig gewesen.

Frieda verrichtete mittlerweile ihre Arbeit so versiert, dass man sie im engen Kreis die geborene Hure nannte. La Putain war fortan ihr Name und er sollte sich innerhalb eines Jahres in ganz Paris herumsprechen. Sie beherrschte ein vollendetes Spiel der Verführung.

Manche dachten sie stände unter Drogen, wenn sie gierig mit der Zunge lockte, dabei die Augen verdrehte und aufreizend ihren Körper streichelte. Lechzend und sabbernd näherten sich dann die Kunden dem verlockenden Gesäß, durften es berühren, aber mussten sich plötzlich in höchster Not zurückhalten, weil Lea – die vom Fenster aus alles beobachtete – eintrat und zur Kasse bat.

„Jegliche Nahrung kostet Geld, mein Freund!“, sagte sie. „Und legst du etwas mehr drauf, darfst du es mit uns beiden treiben, wie es dir beliebt.“ Dabei fasste sie dem Kunden an die Hose und holte sich dabei sein winselndes Einverständnis.

Monatelang florierte das Geschäft im Haus des Verhörvollstreckers. Die Nachbarn – einfache, zum Teil geistig behinderte Leute – begriffen erst im Spätsommer, was sich dort zwischen drei Uhr Nachmittags und sechs Uhr Abends tatsächlich abspielte. Zunächst hielten sie die jungen Männer, die sich die Klinke in die Hand gaben, für Anwärter der äußerlich wenig ansprechenden Frieda und vermuteten, sie habe es nicht leicht, einen Mann zu finden. Deshalb das ständige Kommen und Gehen. Später führten sie die aus den Räumen dringenden Brunftlaute auf die Tatsache zurück, Frieda locke mit Vorzügen, die ihr Gesicht nicht bieten konnte. Im Monat September dann hatte ein Nachbar aufgrund der Laute einen bestimmten Verdacht und schlich sich in brennender Neugierde an eines der Fenster. Bevor er jedoch in den Genuss des Bildes kam, das ihm seine Ohren vorgaukelten, stand Lea neben ihm. Sie erkannte ihn als den älteren Bruder des Nachbarjungen, der vor Monaten hin und wieder mit Alberta geredet hatte.

„Na, lernt dein Bruder nun das Handwerk des Ebenisten?“

Der junge Mann zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um.

„Äh ... natürlich. Er ... er macht seine Sache ganz gut!“. Sein Atem ging rasch.

„Und du? Was lernst du für ein Handwerk? Glotzen? Schnüffeln?“

Sich entschuldigend wich der Bursche zurück. Er sah aus, als fürchte er Lea wie den Tod.

„Es ist unanständig, andere Leute zu beobachten!“, fuhr sie fort. „Meine Tochter will sich verheiraten, einen eigenen Hausstand gründen. Sie sucht einen großzügigen Freier, den sie großzügig bewirtet. Außer Kuchen und Wein gibt es Köstlichkeiten, die nicht jedes Fräulein anbieten kann. Hast du Heiratsabsichten?“

Der junge Mann verneinte.

„Und Geld hast du ohnehin nicht. Meine Tochter soll eine gute Partie machen. Das Leben ist schon hart genug.“

„Ja, aber ist sie denn eine gute Partie? Sie ist die Tochter des Verhörvollstreckers. Das habe ich meinem Bruder auch immer gesagt, als er um Alberta herumschlich.“

„Ist es ein Verbrechen, die Tochter des Verhörvollstreckers zu sein? Bist du auf den Kopf gefallen? Sie kann besser sein als manche Winzers Tochter. Vor allem in gewissen Dingen. Meine Tochter zum Beispiel lässt dich den Wein auf unschlagbare Weise kosten!“

„Wie denn?“, fragte er mit offenem Mund und sah dabei reichlich dumm aus.

„Verrätst du es auch niemandem?“ Der Kerl schwor bei Gott und allen himmlischen Heerscharen. Aber Lea stieß ihn lachend weg.

„Kann ich dir glauben? Dir, dem Sohn der geschwätzigsten Nachbarin? Lass dir eines gesagt sein: Hast du den Wein bei ihr gekostet, willst du nur noch sie und heiratest sie auf der Stelle. Da ich dich aber nicht zum Schwiegersohn will, erfährst du nichts. Und nun verschwinde und lass dich nicht mehr blicken, sonst sag ich es meinem Mann, dem Folterer.“

Die Idee mit dem Wein war Lea erst in dem Augenblick gekommen, als sie dem jungen Nachbarn davon erzählte. Gleich am nächsten Tag führte sie den Plan mit sprichwörtlich rauschendem Erfolg aus. Sie begoss die nackte Frieda tüchtig mit Wein und trieb den Freier an, ihn ihr vom Leib zu lecken. Unter der hechelnden Zunge des Freiers verlor Frieda den Rest von Hemmungen, der ihr trotz aller Ausschweifungen noch geblieben war. Rasend vor Begierde ließ sie sich verschlingen und verschlang ihrerseits. Indes goss Lea ständig Wein nach, bis sie eines Tages mit Entsetzen die haarsträubenden Nebenwirkungen dieser Maßnahmen feststellte. Frieda verlor neben allen Hemmungen auch den Verstand. Zwei oder drei Zungen leckten an jedem Zoll ihres Körpers, drangen in alle Öffnungen und trieben sie in den Wahnsinn. Lea merkte es, als ihre Tochter einem Freier in den Schwanz biss. Sie bohrte ihre Zähne tief in das empfindliche Teil, so dass der Mann vor irrsinnigem Schmerz laut hinausjaulte. In einem Sprung war Lea herbei, schlug ihre Tochter gewaltig auf den Kopf und zerrte sie an den Haaren, wodurch diese ebenfalls schmerzerfüllt brüllte und dabei den Mund aufriss.

„Dass mir das nicht noch einmal vorkommt, du Miststück! Schwöre beim Leben deiner Mutter und deiner Schwester Philippine, in Zukunft eine gute und vernünftige Hure zu sein. Eine brillante Hure, die beste von ganz Paris, von ganz Frankreich!“ Sie zwang Frieda auf den Boden und stellte ihren Fuß auf die Brust der jungen Frau. Unter hysterischem Schluchzen schwor es Frieda.

„Die beste auf Gottes Erdboden. La Putain! Unbezahlbar und köstlich. Von überall her sollen sie kommen, dich zu besteigen. Es muss ein Ereignis werden, dich reiten zu dürfen. Wollen wir das erreichen? Wollen wir es schaffen, du dummes, gieriges Stück? Falls du nicht alles dafür tust, weißt du, was dir blüht.“ Leas Gesicht loderte und Frieda wiederholte ihren Schwur.

Die Sache mit dem Wein war doch keine gute Idee gewesen, dachte Lea sich später. Sie war kostspielig und gefährlich für Friedas dummes Hirn. Besser ist es, sie lernt Lesen und Schreiben. Wer weiß wozu es gut ist.

*

An diesem Abend kam Philippine spät nach Hause. Frieda hatte schon zu Abend gegessen und schlief hinter dem Vorhang der Mädchenkammer. Da Philippine am nächsten Tag gleich nach ihrem Vater aufstand, ein wenig frühstückte, dann eine Stunde im Stall verbrachte und danach zum Unterricht nach Saint-Ouen ritt, bekam sie die Schwester auch an diesem Tag nicht zu Gesicht.

 

Obwohl ein Nachbar wissen wollte, warum Frieda den Tag zuvor so furchterregend geschrien habe, gelang es Lea, den Hurenbetrieb noch einige Zeit vor den anderen Familienmitgliedern zu verbergen. Karl kümmerte sich ohnehin nicht viel um die beiden Weibsbilder. Sie wurden ihm zunehmend fremd und waren ihm schließlich egal. Außerdem trug er Lea den Tod seiner Tochter Alberta nach. Hätte sich das Aas mehr um die Kleine gekümmert, wäre sie nicht auf so schreckliche Weise umgekommen, sagte er sich. Und so trödelte er oft nach seiner Arbeit in der Bastille, saß beim Kartenspiel mit anderen Folterern und kam spät nach Hause. Ein wenig trauerte er um Friedas Schicksal. Doch letztendlich interessierte sie ihn nicht. Hingegen fühlte er sich mehr und mehr zu Philippine hingezogen. Seit Albertas Tod hing er stärker an dem Kind.

Jeden Morgen, bevor er sich zur Arbeit aufmachte, verbrachte er einige Zeit neben dem Mädchen, das Vraem aus dem Stall holte und sie im Sonnenlicht herrichtete. Er beobachtete seine Bewegungen bei der sorgfältigen Pflege des Pferdes. Sein Gebrechen fiel kaum auf, so leicht tanzte es um das Tier herum, säuberte mit einer Stahlborste das Gröbste von Rücken, Bauch und Beine, bürstete und polierte mit einem weichen Lappen nach, kratzte die Hufe aus, reinigte und fettete sie. Dabei fiel auf, dass Vraem ihre Hufe ohne Philippines Hilfe in die Luft hielt, damit sie kratzen und sich nebenbei abstützen konnte. Schweif und Mähne behandelte sie besonders sorgfältig und lange. Karl schien diesen Augenblick zu genießen. Dabei rauchte er eine Pfeife, schaute verträumt und gewann nach einer gewissen Zeit sogar einen freundlichen Ausdruck.

„Du machst das gut. Das Tier muss doch spüren, wie schön du es herausputzt, nicht wahr?“

„Natürlich merkt es meine Liebe!“, antwortete Philippine dem Vater. Das Pferd habe auch niemand anderen als sie. Es habe sich so sehr an sie gewöhnt, dass es leiden würde, ginge sie eines Tages von ihm weg.

„Warum solltest du auch weggehen? Mittlerweile bist du mein Augenstern. Habe ich dich auch anfangs verflucht, weil deine verdammte Mutter ständig Geld für dich wollte, dich besser behandelte als die anderen, ja dir sogar dieses Pferd kaufte und schließlich diese klobigen Pantinen, so verstehe ich sie heute allzu gut. Das gerissene Weib hat erkannt, was in dir steckt. Du bist klug, schön und gewandt. Alles Geld will sie zusammenkratzen, um aus dir eine Prinzessin zu machen. Eine Prinzessin, die dann einen reichen Edelmann heiratet und der Mutter für ihre Fürsorge mit einer Eintrittskarte an den Hof dankt. Solche Hirngespinste hat deine Mutter. Schade, dass sie so dumm ist. Und so verbohrt, so eigensinnig und bösartig. Sie hätte es weit bringen können. Jedenfalls wird sie mir allmählich unheimlich. Deshalb wäre es mir lieb, du verlässt mich nicht. Stell dir vor ich müsste mein Leben mit den beiden seltsamen Frauenzimmern fristen.“

*

Mehr als drei Wochen brachte Lea damit zu, die Fäden neu zu spinnen. Der verletzte Kunde hatte in den düstersten Farben von der Hure aus Saint-Ouen erzählt, indessen der unbeschädigte Kunde Frieda zur besten Kokotte aller Zeiten hochstilisierte. Auf der Straße, bei seiner Arbeit auf dem Fleischmarkt und in Cafés erzählte er, was für ein Teufelsweib die Hure von Saint-Ouen doch sei. La Putain de Saint-Ouen, rief er prahlerisch und stieß Grunzlaute aus. Eskortiert von der gierigsten Hurenmutter unter der Sonne. Beide zusammen würden den Mannsbildern so tüchtig einheizen, dass sie vor Lüsternheit schmorten wie Braten in einer Pfanne. Seine Worte schürten besonders die Fleischeslust der Metzgergesellen und mit gestärkten Hosenläden eilten sie in besagte Gasse in Saint-Ouen. Dort hatte Lea die Tochter in der Zwischenzeit tüchtig aufpoliert. Ganz von der Idee besessen, mit Frieda unerhörte Summen zu scheffeln, hatte sie den Traum, aus Philippine eine Prinzessin zu machen, hinten an gestellt und für Frieda aus den gekauften Stoffen erotische Gewänder geschneidert. Ihre Phantasie sprudelte. Ständig erfand sie Neues, Gewagtes, Frivoles, Obszönes, nie Dagewesenes. Außerdem hatte Friedas wahnsinniges Verhalten an jenem verhängnisvollen Tag des Schwanzbisses einen verwegenen Gedanken in ihr reifen lassen. Warum sollte Frieda nicht zwei Kunden auf einmal bedienen und sich dabei betrachten lassen? Das brachte das Vierfache ein! Lea machte sich daran, den Plan zu realisieren.

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