Malefizkrott

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

4

Es waren nicht viele, die zwei Minuten vor acht aufrecht auf den Stühlen saßen. Fünfzehn Hanseln vielleicht, davon einer der Vater und der andere der Verleger. Die vordere Reihe war frei geblieben. Richard und ich hatten uns in die Mitte gesetzt. Ganz hinten saß ein Weißhaariger, der Bücher aus dem Regal holte und darin blätterte, bis seine Frau ihn anrunkste. Dann hätte Vater Schrader beinahe den Beginn verpasst. Mit der Hand am Hosenstall kam er die Treppe herabgefußelt. Schwache Blase. Der Vater war eindeutig uncooler als die Tochter.

Lola Schrader setzte sich hinter einen Tisch mit Lämpchen und Wasserglas. Den Haarvorhang hatte sie noch halb zugezogen. Ihr rot geschminkter Mund konnte nicht stillhalten und erzeugte Grübchen in den Backen. Sie schluckte. Auf einmal grinsten wir uns an. Es war nicht ihre erste Lesung, aber die erste, bei der sie selbst hinter dem Tisch mit dem Wasserglas saß. Bisher hatte sie Autoren, die dort saßen, für berühmte Persönlichkeiten gehalten. Nun erkannte sie, dass es eine Lüge war.

Für mich war es auch nicht die erste Lesung, bei der ich im Publikum gesessen hatte, immer im Auftrag einer Zeitung. An Christa Wolf noch vor der Wende bei Wittwer erinnerte ich mich, dem damals einzigen Buchkaufhaus von Stuttgart, eine Betonsünde am Schlossplatz, von der inzwischen ein gläserner Museumswürfel ablenkt. Die Amazone hatte mich geschickt, weil ich Wolfs Selbstversuch gelesen hatte. Marie – wir hatten auch eine schöne kluge Marie gehabt, die später ihren eigenen Krieg führte4 – hatte mich mit dem germanistischen Vokabular gefüttert. Auf meinem Zettel stand: »Das Identitätsparadigma der klassischen Novelle, vom Scheitern her erzählt. Anspruch der Frauen, von Männern, die sie lieben, als Individuum erkannt zu werden. Männer sind unfähig zu dieser Art von Liebe.« Weshalb die weibliche Versuchsperson das Projekt des Geschlechtertauschs abbricht, entsetzt über den Verlust der Fähigkeit zu lieben. »Patriarchale Dichotomie, in Klammern Zweiteilung, die den Mann als eigentlichen Menschen sieht und die Frau als das andere Geschlecht«, hatte ich mir notiert. »Erst aus der Differenz der Geschlechter entsteht Individualität.«

Was ’n Schafscheiß!

Damals hatte ich erwogen, es für wahr zu halten und die Abwesenheit meiner Individualität meiner unterentwickelten Geschlechtsidentität zuzuschreiben und für therapiebedürftig zu halten. Ich weiß nicht mehr, was ich die berühmte Autorin fragte, als wir endlich fragen durften. Aber ich erinnere mich, dass sie mich kaum anschaute und ins Publikum sagte: »Lesen Sie meine Bücher, da finden Sie die Antwort.«

Seitdem wusste ich: Autoren sind immer dümmer als ihre Bücher. Zumindest, wenn sie reden sollen, weshalb sie lieber schreiben. Da bläst ihnen keiner seinen Atem ins Gesicht und verwickelt sie in Gespräche. Das ist die Dichotomie von Autor und Leser. Autoren schreiben, Leser lesen, eine Begegnung ist sinnlos.

Das Publikum war damals von Studenten durchsetzt gewesen. Bei Ursprung saßen vermutlich dieselben Menschen, nur zwanzig Jahre älter geworden. Neue Leser wuchsen nicht mehr nach. Und in dreißig Jahren verschwanden sie auf einen Schlag wie die Bambuswälder in China. Dann starben auch die Pandas aus.

Der einzige Mensch unter dreißig in Ursprungs Keller war ein Junge mit Hüfthosen, schwarzweiß kariertem Blouson, einer großen Postman-Tasche am Riemen quer über dem Leib und einer Windstoßfrisur. Die Haare rutschten ihm beständig in die Augen, weshalb er mit schrägem Kopf darunter hervorlinsen musste. Vermutlich war er ein Klassenkamerad Lolas und in Liebesdingen hier, nicht in Sachen Literatur.

Zwei Minuten nach acht trat Durs neben den Tisch, an dem Lola Schrader mit inzwischen geöffnetem Haarvorhang saß und blicklos ins Publikum blickte wie eine große Schriftstellerin.

»Früher hat Durs nie mehr als ein Dutzend Worte gesagt«, informierte mich Richard wispernd. »Guten Abend, ich habe Interesse …«

»Guten Abend«, sagte der Buchhändler. Er redete übrigens nicht, er stammelte: »Ich habe Interesse an Dingen, von denen ich annehme, dass sie neu sind. Und Sie haben es auch, wie ich sehe. Ich begrüße Lola Schrader. In Zeiten des Bloggens ist es keineswegs selbstverständlich, dass eine junge Autorin das Buch als Veröffentlichungsweg wählt. Sie hat es getan, und jetzt wollen wir sehen, ob es wohlgetan war. Lola Schrader.«

»Ich sag’s gleich«, sagte sie mit nun überraschend leiser Stimme, »die Schülerwettbewerbe schöner Vorlesen habe ich immer verloren.« Sie lachte anfreundelnd.

»Lauter!«, rief der Weißhaarige von hinten.

Setz dich doch nach vorn!, dachte ich und langweilte mich jetzt schon.

Lolas Problem war weniger ein Mangel an Stimme – sie setzte sie nur aus irgendeinem Grund nicht ein – oder ihre Lese-Rechtschreib-Schwäche, sondern der verfickte Text selbst, der sich im Mund einer Siebzehnjährigen querstellte. »Arkan und Bettie bürsteln im Elternbett. Petra krallt mir die Hose samt Slip vom Hintern. Ein Single-Jersey-Ärmel mischte sich drunter, eine Socke. Kinderzimmersex. Sie stopft mir einen Ärmel in die Möse! Arki platzt rein. Stör jetzt nicht, hau ab, kreischt sie. Knallt ihm ein Brett vor die Eier.«

Richard wechselte unbehaglich den Beinüberschlag. Er gehörte zu den Männern, die von jungen Frauen erwarteten, dass sie nett aussahen und öffentlich vom Weltfrieden sprachen. Dasselbe erwartete er natürlich nicht privat und auch nicht in Büchern. Da durfte sie gern auch mal ein geiles Luder sein. Allerdings sprach man nicht darüber. Es musste ihn irritieren, dass eine Gymnasiastin aus gutem Haus Worte im Mund herumdrehte, die direkt auf seinen Affen zielten.

Lola irritierte es auch, je länger, desto mehr verhaspelte sie sich. Das machte es für uns peinsam. Öffentlich in die Hosen der Zuhörer fassen will gelernt sein.

Der Roman handelte – soweit ich das abschätzen konnte – von einem halben Dutzend zivilisationsgelangweilten Schülerinnen und Schülern, die in den Ferien von Stuttgart nach Barcelona trampen, in besetzten Häusern umsonst Sex haben, hinter Supermärkten containern gehen und jede Menge Drogen und Perversionen ausprobieren. »Guppi hält Nasebohren und Ohrengrubeln im Schulunterricht für Gruppensex.« Schließlich klauen sie vor einem Supermarkt in La Grande Motte ein dreizehnjähriges Mädchen.

Ein Mann halb hinter mir ächzte. Es trug schwarze Hosen, schwarzes Hemd, schwarzen Gürtel, schwarze Schuhe und hatte schwarze Haare, in denen sich schon graue Fäden zeigten. An seinen Stuhlbeinen lehnte eine große schwarze Ledertasche. Ich schätzte ihn auf erfolglosen Lyriker und ambitionierten Blogger Mitte dreißig.

Was hatte er erwartet? Richard und er kannten doch den Geheimcode, mit dem die alten Herren des Feuilletons sich die Tipps zusteckten. Sprachmacht und Stilmix bedeutete: Wichsvorlage! Ungefähr so, wie man bei Nacktfotos nicht Porno sagte, sondern Ästhetik. Und wenn sonst nichts dagegensprach, warum nicht auf das Zucken im Gemächt hören? Aber die Freundin mitnehmen. Die ist auch nicht ganz sauber. Und nachher auf einen Kaffee noch mit hoch. Lola Schrader würde ihren Weg machen, senkrecht nach oben. Das stand schon mal fest.

Auch wenn der Anfang noch holperte.

Fragen wollten, als sie endete und Durs Ursprung mit unergründlichem Lächeln aufstand und uns zu Äußerungen aufforderte, nicht recht aufkommen. Wir mussten erst mal unsere virtuellen Hände aus den Hosen nehmen. Schließlich fragte die Frau des Weißhaarigen mit forscher Stimme voller Brüche: »Was bedeutet der Titel Malefizkrott?«

Lola fabrizierte das Grübchenlächeln, auf das Richard eine Stunde lang gewartet hatte. Ich spürte, wie er ausatmete.

Lola auch, denn sie schaute ihn direkt an. »Tja, ich bin halt selber so eine Malefizkrott!«

Richard atmete wieder ein. Die Krott verstand zu flirten wie eine österreichische Filmdiva.

»Malefiz … das Spiel, das kennen Sie? Ravensburger. Da konnte ich als Kind schon nicht genug von bekommen. Ich habe jedes Au-pair damit genervt. Das Spiel heißt übrigens so, das habe ich kürzlich gelesen, weil die Frau von dem, wo das Spiel erfunden hat, Maier hieß der, glaube ich, zu ihm gesagt hat ›Du bist ein Malefiz‹, als er alle ihre Figuren rausgeworfen hatte. Das ist Latein … aber fragen Sie mich nicht … In Latein habe ich null Peilung.«

Entzückend!

»Von maleficus«, besserwusste Richard prompt, »übel handelnd, gottlos.«

»Danke«, sagte Lola und schenkte Richard einen charmanten Blick. »Und Krott, das ist schwäbisch für Kröte. Sonst noch Fragen?«

Nein, keine. Doch! Der erfolglose Lyriker streckte die Hand. Die beiden Frauen, die bereits nach den Schirmen am Boden gegriffen hatten, richteten sich wieder auf.

»Ja, bitte«, sagte Durs Ursprung.

In der Stille, kurz bevor der Mann genug Luft geholt hatte, ertönte oben im Laden leise das Bimmeln der Türglocke. Ruben Ursprung, der neben dem Treppenaufgang saß, erhob sich und stieg knielahm hinauf.

»Was Sie uns vorgetragen haben, Frau Schrader …«, begann der schwarz gekleidete mutmaßliche Lyriker.

Lola verbiss sich ein Grinsen. Sie war es offenbar noch nicht gewöhnt, mit Frau Schrader angeredet zu werden.

»… klingt versiert, das ist gut geschrieben, Sie beherrschen die Grammatik …«

»Danke schon mal. Denn was jetzt kommt, wird schätzungsweise weniger erfreulich.«

Gelächter.

Der Mann holte noch mal tief Luft. »Was man nicht von allen Ergüssen sagen kann, die man von Jugendlichen vornehmlich im Internet findet …«

Du arroganter Leberkäs, dachte ich. Muss das sein? Das Mädel ist siebzehn!

 

»… und die ich übrigens auch von Ihnen schon im Hippenblog gelesen habe.«

Lola verzog peinlich berührt das Gesicht. »Jugendsünden!«

Richard schnaubte väterlich amüsiert.

Oben hörte man Ruben fluchen. Ein Bücherstapel flog um.

»Und so muss die Frage erlaubt sein«, der schwarze Lyriker schaute gegen die Decke, »wo Sie das alles herhaben, was Sie uns da verkaufen als Erlebnisse siebzehnjähriger Schüler …«

»Wie?« Lola sah aus, als hätte sie die Frage nicht verstanden.

»Sie beschreiben hier, wie …«, setzte der Schwarze neu an.

In diesem Moment ertönte oben ein Schrei. Die Türglocke bimmelte. Es rumpelte. Dann brüllte Ruben: »Feuer!« Es klang erstaunt. Dann panisch: »Feuer!«

Wir sprangen auf, Lola griff nach ihrem Wasserglas. Der Vater kämpfte sich durch Stühle nach vorn und packte sie. Das Wasserglas fiel ihr aus der Hand. Durs sagte mit Panik in den Augen: »Ruhe bewahren!« Eine der beiden Frauen stolperte. Michel Schrader zerrte seine Tochter zur Treppe und schubste mich beiseite. Richard kümmerte sich um den Weißhaarigen und seine Frau, die am Stock ging.

Bücher stürzten uns auf der Treppe entgegen. Hitze prallte auf uns herab. Der erfolglose Lyriker rutschte auf einem Buch aus und schlug der Länge nach hin. Ich hörte einen Knochen krachen. Da brannte die Wand hinter der Kassentheke bereits lichterloh und ungesunder Rauch sammelte sich unter der Decke.

Richard kam zurück, rannte die Treppe hinunter, kam mit Durs Ursprung wieder herauf und zerrte ihn hinaus.

»Stehen Sie auf!«, sagte ich zu dem Mann am Boden.

»Ich kann das Bein nicht bewegen!«, stöhnte er.

Jemand kam mir zu Hilfe. Gemeinsam zogen wir den Lyriker hoch, wobei er brüllte vor Schmerzen, und schleppten ihn mit baumelndem Bein zur Tür.

Schon fielen die Flammen in die Bücherregale der Seitenwand ein, der Teppich qualmte zum Treppenabgang hinüber, die Holzplatte der Theke knallte und bog sich nach oben. Die gesamte zum Verkauf vorgesehene Lieferung Malefizkröten sprang in Sternschnuppen vom Tisch und verteilte Funken, noch röter und bissiger als das Cover. Sie zündelten die Büchertürme hinauf, während in den brennenden Regalen Buchrücken schmatzend vom Deckel platzten und sich wie Schillerlocken kringelten. Das Feuer flüsterte Thomas Mann, wisperte Marx und Grimmelshausen, rezitierte ein letztes Mal »En un lugar de la mancha«, »Habe nun, ach, Philosphie«, »Wer baute das siebentorige«, »da reist ich nach Deutschland hinüber« und »Das Vergangene ist nicht tot« und knisterte ein letztes Mal »Judenbuche«, »drei Guineen«, »Winnetou« und »Mr Darcy«, bevor es zum bösen Rauschen anschwoll, sich auf die Zeitschriften warf und konkret, Emma und Argument vernichtete. Dann waren die Kochbücher dran. Am längsten hielten die Regionalkrimis stand. Aber als das Schaufenster barst, fegte es sie nach draußen, wo sie wie Partyfackeln auf dem Fußweg in der noch lichten Julinacht liegen blieben und jedes für sich niederflackerten.

Mein Helfer und ich zogen den Verletzten die Straße hinauf und legten ihn auf den regenfeuchten Fußweg. Die anderen hatten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt.

Als die Feuerwehr kam, war schon alles zu spät. Binnen Minuten war die Buchhandlung Durs Ursprung ein Raub der Flammen geworden.

5

Der Buchhändler stand klein und still im Nieselregen, der seine Hemdschultern dunkelgrün färbte. Das Lächeln schien ihm eingewachsen in die Mimik, in seinen Augen stand Galle.

»Da war einer im Laden! Es war Brandstiftung!«, erklärte Ruben Ursprung der Polizei. »Definitiv, es war jemand im Laden!«

Die Türbimmel hatten wir alle gehört.

Als er hinaufgekommen sei, habe er aber nur noch die Tür zuschwingen sehen, erzählte er immer wieder, auch als die Polizei schon lange nicht mehr zuhörte. Er habe auf die Straße geschaut und eine Gestalt gesehen, wie sie um die Ecke in die Christophstraße bog: Jeans, schwarze Lederjacke, Kapuze eines Hoodys überm Kopf. Er habe noch überlegt, ob er ihm nachlaufen solle. Ständig werde geklaut bei ihnen. Die Leute meinen, als linke Buchhändler müssten sie dafür Verständnis haben. In den Achtzigern habe es regelrechte Raubzüge bei ihnen gegeben. Studenten aus Tübingen und Frankfurt hätten mit den bei seinem Vater geklauten Büchern ihren Lebensunterhalt bestritten, er könne da Namen nennen, einige seien heute Politiker …

Ich schaute Richard an. Auch er konnte Namen nennen, würde es aber niemals tun. »Was ist mit dem Verletzten?«, erkundigte er sich stattdessen leise.

»Vermutlich Oberschenkelhalsbruch, nicht lebensbedrohlich.«

Ich hatte ihm meine Lederjacke unter den Kopf geschoben. Als ich hochblickte, war der Helfer verschwunden und es gelang mir nicht, ihn wiederzuentdecken, weder im Grüppchen der Verschreckten auf der anderen Straßenseite noch unter den Schaulustigen, die vom Café Eberhard und aus den umliegenden Geschäften und Wohnungen gekommen waren. Außerdem bat mich der Verletzte um mein Handy, um seine Freundin anzurufen, denn seines war ihm aus der Hemdtasche gefallen und verbrannte im Laden. »Du, Schatzi, mir ist da was Dummes passiert.«

Damit befand sich ihre Telefonnummer in meinem Besitz, und als die Sanitäter seinen Status abfragten – »Wann haben Sie zuletzt was gegessen?« –, erfuhr ich auch seinen Namen: Matthias Kern.

Als ich zu den anderen stieß, erzählte Ruben zum dritten oder vierten Mal seine Geschichte: »Wie ich so an der Tür stehe, hat es hinter der Kassentheke eine Verpuffung gegeben. Eine Explosion. Und wie ich mich umdrehe, sehe ich eine Stichflamme. Ich sofort hin, aber da hat es schon richtig gebrannt. Ich mit dem Feuerlöscher drauf, aber da hat das halbe Regal schon gebrannt, und ich musste an die Gäste im Keller denken und sie warnen.«

»Brandstiftung?«, fragte ich Richard, als wir gegen Mitternacht in seiner Limousine über die Stadtautobahn rollten. »Glauben wir das?«

»Ich halte einen Kurzschluss für wahrscheinlicher«, antwortete er. »Wer weiß, was für einen Kabelsalat der hinter der Theke hatte.«

»Außerdem zahlt die Versicherung bei Brandstiftung nicht.«

»Doch. Sie muss dann halt den Brandstifter in Regress nehmen. Nur wenn der Eigentümer der Brandstiftung überführt wird, dann zahlt sie nicht.«

»Dann sollte man also Ruben besser nicht überführen.«

In Richards Mundwinkel drückte sich das Desillusionshäkchen des Staatsanwalts, der Lügengebäude zur Verdeckung einer Straftat zur Genüge kannte. Ihr auffälligstes Merkmal war der Mangel an Varianz beim mehrmaligen Erzählen.

An der Staatsgalerie lachte er plötzlich verwundert auf. »Nicht zu fassen! Da halte ich nach über dreißig Jahren plötzlich wieder dieses Buch in den Händen, das mir so viel Kopfzerbrechen bereitet hat, und eine Stunde später ist es Asche. Als ob es nur auf mich gewartet hätte.«

»Irrtum, Richard!« Ich griff in meine Bikerjacke und hielt das Buch hoch.

»Oh.« Er langte danach. Aber ich war schneller. Das Auto schlingerte.

»Ich habe es gerettet. Es gehört mir. He! Stopp! Rot!«

Er trat in die Eisen. Die große Kreuzung am Neckartor breitete sich in die Nacht. Ein Raser querte.

»Warum hast du es zurückgelegt?«, fragte ich.

Richard ließ den Wagen in die Neckarstraße rollen. Drei Ampelanlagen Schweigen. Links Autohäuser, das Rote Kreuz, die Staatsanwaltschaft, rechts gelbe Backsteinfassaden mit kleinen Läden, Sparda Bank, Sparback und Bioladen und im dritten Stock meine Wohnung. Wenn ein Mann nicht antworten will, wird er zum Jäger. Richard sah die freie Parkbucht, ehe sie sichtbar wurde. Sie gehörte zu denen, die nur vortäuschten, fürs Parken gemacht zu sein. Darüber drohte ein eingeschränktes Halteverbot, das allerdings in der Nacht nicht galt. Er parkte. Für Richard gehörte es zum Luxus einer beständigen Beziehung, dass er eine solche Entscheidung nicht mit mir abklärte.

»Warum hast du es mitgenommen?«, fragte er, als wir die knarzenden Treppen hochstiegen.

Ich lachte nur. Was hatte er denn gedacht? Ich drehte das Buch um und zeigte ihm die Rückseite. »Deshalb!« Der Pappdeckel hatte ein veritables Loch, nicht groß genug, um meinen Mittelfinger einzulassen, wohl aber meinen kleinen Finger, und zwar bis über den Fingernagel. »Sieht aus wie ein Einschussloch, findest du nicht?«

»Hm. Oder nach sonst irgendeinem sachfremden Gegenstand, mit dem es malträtiert wurde.«

»Hast du das nicht gemerkt, als du es in der Hand hattest?«

Richards Blick blitzte mich in dem Moment an, als die Treppenhausbeleuchtung ausging. Sie reichte nie drei Stockwerke. »Doch, ich habe es gemerkt«, antwortete er. »Wie es wohl zustande gekommen ist?«

Du Schlawiner!, dachte ich.

Cipión veranstaltete Begrüßungstheater. Seine Freude war um ein Vielfaches größer, wenn er sich Richard zu Füßen werfen konnte. Das Freudenprogramm provozierte auf Richards Gesicht zuverlässig ein aus der strengen Seele sich befreiendes Lächeln. Endlich richtete er sich auf, zog sich den Schlips aus dem Kragen, öffnete den obersten Hemdknopf, legte das Jackett ab und wandte sich in die Küche, um den Kaffeeautomaten anzustellen. Ich startete derweil meinen Klappcomputer. Meistens waren beide Maschinen gleich schnell betriebsbereit. In der Küche kreischte das Mahlwerk, und ich schickte Google auf die Suche nach Marie Küfer. Erstaunlich: Es gab kaum hundert Einträge und keiner, der exakt traf. Eine Marie Kuefer war vor 1860 in die USA ausgewandert.

Richard kam mit dem Kaffeebecher aus der Küche, spitzte die Lippen und blies sich zu einem ersten knappen Schluck durch den Schaum. Ich tippte »geb. Küfer« in die Googlezeile. Zehn Ergebnisse. Aber keine Marie darunter.

»Tja, das Internet hat seine Schwächen«, bemerkte Richard, stellte den unnütz heißen Kaffee auf dem Kneipentisch ab, trat an meine Computereinheit am Fenster zum Hinterhof heran und fingierte einen Blick auf meinen Bildschirm. Ein Mann auf Schmusekurs. Selbst am Ende eines Tages war der Geruch seines Pflegemittels nach Zeder und Zibet noch zu spüren. Besonders der von Zibet.

Ich tippte mich in die Gegenwart: »Das Zibet (aus dem arab. Zabad = Moschus) ist ein stark und im natürlichen Zustand äußerst unangenehm riechendes Sekret aus den Analdrüsen der Zibetkatze«, informierte mich Wikipedia. »Es dient ihr zur Markierung ihres Reviers. Nach entsprechender Verdünnung entfaltet dieser Stoff einen angenehm moschusartig, ledrig wohlriechenden Duft, welcher zur Parfümherstellung verwendet wird. Heute werden zur Gewinnung dieses Rohstoffs fast nur noch künstlich hergestellte Ersatzduftstoffe verwendet.« Richard konnte es vermutlich selbst herstellen. Ich hakte meinen Finger in seinen Hosenbund. Er hatte abgenommen und sah besser aus denn je. Aber das war nur seinem Alltagswahnsinn von Arbeit, Sport und Nikotinkonsum zu verdanken. Vermutlich befand er sich nur noch einen Tacken vom Totalabsturz entfernt.

»Und wie hat dir das Fräulein Schrader gefallen?«

»Ach, Gott.«

Ich zupfte ihn am Bund zu mir. »Die macht ihren Weg! Hat sie dir nicht gefallen?«

Er zog die Brauen hoch. »Der Text oder die Person?«

»Na, geflirtet hat sie ja ordentlich mit dir.«

»Geh mir fort.« Er pflückte meinen Handhaken aus seinem Hosenbund und strebte dem Kaffee zu. Ich stand auf und folgte ihm auf Tuchfühlung.

»Magst du keine Grübchen?«

»Lisa! Ich könnte ihr Va…« Er biss das vertrackte Wort von der Zunge und schluckte Bitterkeit. »Ich könnte ihr Großvater sein.«

»Sei froh, dass du es nicht bist. Sahneschnittchen wie sie sind ein Fluch für die Väter.«

»Lisa! Du bist ungerecht. Du kennst sie doch überhaupt nicht!«

»Immerhin kenne ich ihre schmutzige Fantasie.«

»Was nicht gleichbedeutend ist mit ihren Wunschvorstellungen, Lisa. Der Text ist eine Überspitzung. Daraus spricht keine Zustimmung, sondern eher Entsetzen und Verachtung.«

»Na ja, aber ausgedacht muss sie es sich schon haben. Also mindestens einmal durch ihren Kopf musste es durch. Nicht wahr?«

»Vielleicht dient es als … als Therapie. Sie ist siebzehn. Sicher hat sie erste sexuelle Erfahrungen, und vielleicht haben sie ihr Angst gemacht, vielleicht beunruhigt sie das Paarungsspiel. Mit Sicherheit hat ihr Vater sie nicht auf eine solche Reise nach Barcelona gelassen. Aber sie … nun, sie hat Fantasie. Man kann das Schreckliche auch benennen, um mit der Furcht davor fertigzuwerden. Es sind Bilder für etwas, was jeden halbwegs sensiblen jungen Menschen erschrecken muss. Der Egoismus der eigenen Altersgruppe, der unvermutet in Brutalität umschlägt und jeden jederzeit zum Opfer macht.«

 

Wir starrten uns in die Augen. Beide hatten wir es erst unlängst erlebt. Meine Wohnung roch noch nach Ruß und frischer Farbe. Und Richard hatte den letzten Rest seines fragilen Glaubens verloren, dass irgendetwas auf der Welt den richtigen Kurs nahm.

»Hast du das Buch gelesen?«

»Nein. Werde ich auch nicht.« Er nahm den Kaffee wieder hoch. »Es sind mir dann doch zu viel Feuchtgebiete. Ich will auch gar nicht wissen, was diese Ungeheuer mit dem 13-jährigen Mädchen anstellen, das sie in La Grande Motte entführt haben, auch wenn es nur Fiktion ist. Ich wollte nur zu bedenken geben, dass Lola Schrader nicht notwendigerweise irgendetwas gemein haben muss mit diesen auf Sex und Drogen versessenen Luxusjugendlichen, die sie beschreibt.«

»Aber sie gefällt dir!«

»Lass gut sein, Lisa. Und wenn schon.« Seine Augen blitzten schräg. »Für einen Mann in meinem Alter sind alle Mädchen unter zwanzig entzückend.«

Ich lachte.

Ein winziges Lächeln huschte ihm durch die Mundwinkel.

»Und im Grunde fasziniert uns Sex und Gewalt immer!«, behauptete ich und zupfte die Knöpfe seiner Weste auf. »Wenn der Gorilla die Gorilline packt und sich ihr Hinterteil vornimmt.«

»Hm«, grunzte Richard diskussionsmüde und nahm einen Schluck Kaffee.

Ich knöpfte weiter. Es ist alles ein Spiel. Man muss sich nur auf die Regeln einigen. Richard ergriff niemals die Initiative. Er wusste, ich konnte es nicht ausstehen, wenn Männer an mir herumfingerten, um meine Paarungsbereitschaft zu testen. Deshalb klappte es bei mir auch so schlecht mit den Männern. Sie fingerten immer, meist verbal, manchmal auch digital, immer suchten sie das Löchlein. Und allein mit einer Frau im Fahrstuhl bedauerten sie, dass die Zivilisation zwar Fahrstühle hervorgebracht hat, nicht aber zugleich die Erlaubnis, den Moment der Zweisamkeit mit einer Möse auszunutzen.

Ich löste Richards Gürtelschnalle. Er erwartete, dass frau seine Barrieren überwand, beispielsweise die Knöpfe von Weste und Hemd. Nicht, weil er sich nicht für attraktiv hielt – dazu tat er zu viel, um gut auszusehen –, sondern weil er Machtmensch war. Mit dem Zucken einer Augenbraue entschied er, ob bei einer internen Besprechung gelacht wurde oder nicht. Seine Berufswelt hatte er im Griff, privat war er gern passiv bis zur Handlungsunfähigkeit. Deshalb klappte es bei ihm auch nicht mit den Sahneschnittchen, die ihm ihren Hintern hindrehten.

Die einzige für eine Partnerschaft geeignete Qualität, die er besaß, war unwandelbare Treue. Ansonsten konnte er nichts bieten, weder Interesse noch Aufmerksamkeit. Er hörte nicht zu, er wollte nicht wissen, was ich dachte oder fühlte. Er vertraute mir, aber er vertraute mir nichts an. Er redete nicht gern, schon gar nicht über sich und seine Gefühle. Das unterschied ihn nicht von anderen Männern, aber im Unterschied zu ihnen wusste er es, und er wusste sogar, dass Frauen das hassten. Nur ich nicht.

Ich langte ihm in den Schritt an den Knüppel. Richard zuckte zusammen und knurrte. Der Kaffee schwappte ihm über die Hand. Ich nahm ihm den Becher weg und stellte ihn auf den Kneipentisch ab, dem Flecken nichts mehr ausmachten.

Richards Affe frohlockte.