Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule

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Katzenbach entfaltet seine Überlegungen zu Inklusion vor diesem Hintergrund und grenzt sich so von programmatischen Überlegungen ab, wie sie beispielsweise von Hinz (2009) formuliert werden, nämlich im Rahmen von Inklusion auf jegliche Form der Kategorisierung zu verzichten und davon auszugehen, dass alle ‚per se‘ dazugehören. Wenngleich eine solche Perspektive der Reifizierung, also einer Vergegenständlichung von Differenz und damit verbundener Stigmatisierungen und Benachteiligungen, vorbeugen kann, blendet ein pauschaler Verzicht auf sie die Komplexität und Ungleichheit gesellschaftlicher Verhältnisse aus (Haas 2012). Zentral ist hierbei, dass ein Verzicht auf Kategorisierungen, wie z. B. die des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs, bestehende Benachteiligungen und Formen sozialer Ungleichheit weiter verschärfen könnte, wenn sie nicht mehr thematisierbar wären – auch in verwaltungsrechtlicher Hinsicht, da hier über die Gewährung von Nachteilsausgleichen und / oder zusätzlicher Unterstützung, z. B. in Form von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, entschieden wird. Ein solches Risiko geht mit einer Verschleierung von Ungleichheit und damit verbundenen Benachteiligungen einher (Herz 2010).

Spannungsverhältnisse

Katzenbach (2015b) schlägt entlang der Kritischen Theorie vor, schulische Inklusion als doppeltes Spannungsverhältnis zu verstehen, das sich einerseits durch die Pole Thematisierung und De-Thematisierung von Differenz auszeichnet und andererseits durch das Verhältnis von egalitärer, d. h. auf Gleichheit gerichteter, und meritokratischer Differenz, also einer auf Leistung basierenden, hierarchischen Unterscheidung. Beide Spannungslinien, so Katzenbachs Vorschlag, sind miteinander auszubalancieren anstatt einseitig zu bearbeiten. Es ist v.a. der Verweis auf das meritokratische Prinzip, mit dem er hervorhebt, dass Schule im Kontext einer Leistungsgesellschaft angesiedelt ist, die Ungleichheit hervorbringt und die ihrerseits nicht allein durch normative Appelle an Gleichheit (im Sinne egalitärer Differenz) zu überwinden ist. Mit der skizzierten Denkfigur, insbesondere dem zweiten Spannungsverhältnis, eröffnet Katzenbach die Möglichkeit einer verbindenden Betrachtung von Unterschiedlichkeit und Ungleichheit, die im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen – die nicht allein durch pädagogisches Handeln zu überwinden sind – reflektiert werden können (Katzenbach 2015b). Vor diesem Hintergrund versteht er den Begriff der Inklusion als Werkzeug zur „Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Organisation von Teilhabe und Ausschluss“ (Katzenbach 2015b, 31). In der Konsequenz der Überlegungen und der Prämissen der Kritischen Theorie ist dieses begriffliche Werkzeug nicht allein auf den Gegenstand – hier auf den Anspruch, Schule inklusiv zu gestalten – gerichtet, sondern zugleich auf die wissenschaftliche Praxis, die ihrerseits eingebunden ist in gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse. Es gilt entsprechend auch für diagnostische Handlungen.

Wendet man diese Überlegungen auf die aktuelle Situation inklusiver schulischer Bildung an, so wird unmittelbar ersichtlich, dass der formale schulische Rahmen durch widersprüchliche Bezüge gekennzeichnet ist. Während die KMK-Empfehlungen von 2011 und die UN-BRK, auf die auch in bildungspolitischen Dokumenten Bezug genommen wird, für eine egalitäre Konzeption von Differenz stehen, also für die gleichberechtigte Anerkennung der Einzelnen, steht das nach Leistungserwartungen und -anforderungen gegliederte Schulsystem für die hierarchische Unterscheidung entlang der binären Unterscheidung „besser / schlechter“ (Luhmann 2002, 64). Das letztgenannte findet ein Pendant in der Unterscheidung von Lehramtsstudiengängen entlang von Bildungsgängen und Schulformen, sowie in der kategorisierenden Zuordnung der SchülerInnen zu diesen. Beide Bezüge umrahmen sowohl das Handeln von LehrerInnen als auch das der SchülerInnen in Schule und Unterricht. Innerhalb dieses widersprüchlichen Kontextes ist der Auftrag der Inklusion umzusetzen. Dieser Aspekt wird auch in diagnostischen Prozessen relevant, was Schuck zugespitzt auf den Punkt bringt:

„Qualitätshaltige Diagnostik ist im Kern zunächst unabhängig von den Begrenzungen durch Schulsystembedingungen. Nur ärgerlich ist es schon, wenn die Realisierbarkeit wohl begründeter Konzepte an den Systemgrenzen scheitert“ (Schuck, 2004, 359).

Der Fokus dieses Buchs liegt darauf, diese qualitätshaltige Diagnostik, wie sie in unterschiedlichen Fachdiskursen der Erziehungswissenschaft und den Fachdidaktiken diskutiert wird, für inklusive, unterrichtliche Kontexte zu konkretisieren. Diesem Vorhaben liegt die Idee zugrunde, die pädagogischen Möglichkeiten zur Initiierung von Lehr-Lernprozessen zunächst zu erkennen und zu verstehen, bevor die Behinderung ihrer Umsetzung durch schulsystembedingte Rahmenbedingungen reflektiert wird.

2.2 Diagnostik – Lernprozesse beobachten und verstehen

Der zentrale Gegenstand pädagogischer Diagnostik und diagnostischen Handelns von LehrerInnen sind die Beobachtung, die Beschreibung und das verstehende Nachvollziehen der Lernprozesse von SchülerInnen. Das Vorhaben dieses Kapitels ist es, diesen Gegenstand in zwei Schritten zu konkretisieren: Zu Beginn soll aufgezeigt werden, dass Diagnostik in pädagogischen Zusammenhängen immer theoriegeleitet und ohne Selbstzweck erfolgt – Diagnostik wird nicht zum Zweck der Diagnostik praktiziert, sondern entlang erziehungwissenschaftlicher und bildungstheoretischer Prämissen, die neben fachlichen Aspekten auch soziale umfassen (Kap. 2.2.1). Die unterschiedlichen diagnostischen Konzeptionen, die sich in schulischen und unterrichtlichen Zusammenhängen finden lassen und die ihrerseits in verschiedenen theoretischen Zugängen verankert sind, werden anhand einer Abbildung vorgestellt, erläutert und miteinander verglichen (Kap. 2.2.2).

2.2.1 Diagnostik – eine theoriegeleitete pädagogische Praxis

Wie eingangs skizziert, ist Diagnostik seit Langem ein zentraler Begriff innerhalb des sonderpädagogischen Diskurses, der durchgängig kritisch und kontrovers diskutiert wird und wurde. Die nachfolgenden Ausführungen greifen diesen Diskurs auf, da er zentrale Konfliktlinien sowie die Möglichkeiten diagnostischen Handelns für pädagogische Zielsetzungen in Schule und Unterricht thematisiert. Die Auseinandersetzungen ranken sich dabei v.a. um die theoretischen Bezüge, mit denen innerhalb pädagogischer Zusammenhänge Diagnostik praktiziert wird. In den Ausführungen lassen sich folglich Parallelen zur Auseinandersetzung mit dem Behinderungsverständnis erkennen. Wenngleich die nachfolgenden Ausführungen die sonderpädagogische Auseinandersetzung illustrierend ins Zentrum stellen, sei hier darauf hingewiesen, dass sich auch in den fachdidaktischen Diskursen vergleichbare Diskurslinien finden lassen, wie z. B. in Bezug auf verpflichtende Sprachstandserhebungen für SchülerInnen bei der Einschulung (Kap. 3.2.1).

Diagnostik und Behinderung

Während Diagnostik – die an ein essentialisierendes Verständnis von Behinderung anknüpft – ihre theoretischen Bezugspunkte in der naturwissenschaftlich geprägten Medizin hatte, wurde diese Perspektive in pädagogischen Kontexten erst von psychologischen, dann von genuin erziehungswissenschaftlichen Bezugstheorien abgelöst. Die begrifflichen und theoretischen Entwicklungen innerhalb der Psychologie in den 1960er- und 1970er-Jahren zeichnen sich als Distanzierung von einer deterministischen zugunsten einer subjektbezogenen Perspektive auf den Menschen aus; letztgenannte ist anschlussfähig an erziehungswissenschaftliche Überlegungen und findet ihren Ausdruck in der begrifflichen Verschiebung von einer Status- hin zur Förder- und pädagogischen Diagnostik (Haas 2016; Schuck 2000). Letztgenannte stellt eine zentrale Grundlage für die Gestaltung eines differenzierten und adaptiven inklusiven Unterrichts dar.

Die Konzeption der Förderdiagnostik – die seit den 1970er-Jahren in Abgrenzung zur Selektions- und Statusdiagnostik – entwickelt wurde, stellt wesentliche Vorarbeiten für das heutige Verständnis einer pädagogischen Diagnostik dar. Im Gegensatz zur bis dahin vorherrschenden psychologisch fundierten Diagnostik, die losgelöst von Bildungs- und Erziehungskonzepten operierte, und sich, wie unten dargelegt wird, an der Ermittlung von als stabil angesehenen Persönlichkeitsmerkmalen bzw. Eigenschaften orientierte, positionierte sich nun die an Erziehung, Lernen und Bildung im schulischen Kontext orientierte Förderdiagnostik. Diese Bezüge sind in die diagnostische Praxis zu integrieren. Sie stellen gegenüber Merkmalen und den dahinterstehenden Konstrukten, die untersucht werden sollen (v.a. Intelligenz), diagnostische Erkenntnisse bereit, die für die Gestaltung von Lehr-Lernsituationen unmittelbar nutzbar sind (Jetter et al. 1983). Entlang dieser Überlegungen entwickelte sich eine bildungszielorientierte Diagnostik, die sich v.a. von der testbasierten Psychodiagnostik abgrenzt und die stattdessen fachdidaktisches Wissen als Referenzen heranzieht (Überblick bei: Probst 1999). Diagnostik wird so unmittelbar mit pädagogischen Intentionen und Handlungen verknüpft.

 

pädagogische Diagnostik

Im Begriff der pädagogischen Diagnostik konkretisiert sich das Prinzip, diagnostisches Handeln entlang erziehungswissenschaftlicher Bezüge auszurichten, ähnlich wie im Begriff der Förderdiagnostik. Dabei hebt Schuck (2000, 233) hervor, dass sonderpädagogische Diagnostik sich nicht von pädagogischer Diagnostik unterscheidet, da sie ihre Bezüge in den gleichen, an Bildung und Erziehung orientierten Zielsetzungen hat und hieraus ihre Begründung erhält. Als solche sind die Vorstellungen von Bildung, Erziehung, Lernen und Sozialisation – im Kontext gesellschaftlicher Organisationen – wesentliche Bezüge diagnostischen Handelns. Als empirische Erkenntnistätigkeit bedient sich Diagnostik dabei sozialwissenschaftlicher methodischer Herangehensweisen (Schuck 2007, 147) und wird entsprechend nicht losgelöst von pädagogischen Handlungen verstanden, sondern als

„[...] eine allen pädagogischen Handlungen immanente Erkenntnistätigkeit zur Gestaltung und Begleitung institutioneller und außerinstitutioneller Prozesse der Entwicklung, des Lernens, der Erziehung und Bildung [...]“ (Ricken / Schuck 2011, 110).

Diagnostik als pädagogisches Handeln

Ricken und Schuck verstehen Diagnostik als Teilaspekt pädagogischen Handelns, der als solcher dem Ziel verpflichtet ist, Lern-, Bildungs- und Entwicklungsprozesse zu begleiten und möglichst gezielt pädagogisch zu unterstützen. In Verbindung mit dem im vorherigen Abschnitt dargelegten sozialwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung lässt sich Diagnostik in Schule und Unterricht als pädagogische Handlung beschreiben, die daran ausgerichtet ist, behindernde Bedingungen in Lehr-Lernsituationen zu erkennen, mit dem Ziel, diese abzubauen und Lernmöglichkeiten zu eröffnen.

„Die pädagogische Diagnostik ist seit je her ein Kristallisationspunkt der Professionalität von Pädagogen / -innen mit dem Erfordernis der Koordination unterschiedlicher Konzepte über Menschen, Schule und Gesellschaft, Erziehung und Bildung“ (Schuck 2000, 233).

Die Erkenntnistätigkeit, die in der Diagnostik aufgerufen wird, erhält ihre Zielsetzungen dabei nicht aus sich selbst heraus, sondern aus der Absicht, einen möglichst fundierten Beitrag zur Überwindung und Vermeidung behindernder Bedingungen von Lern-, Bildungs- und Entwicklungsprozessen zu leisten. Entsprechend bedarf sie theoretischer Vorstellungen und Ideen, wie dies gelingen kann. Diese, so hebt Schuck (2000) hervor, sind aber nicht die einzigen Bezugspunkte diagnostischer Handlungen, sondern auch die schulischen Rahmenbedingungen und damit aufgerufene Verwertungszusammenhänge charakterisieren diagnostisches Handeln. Je nachdem, welche konkreten theoretischen Bezüge und Vorstellungen herangezogen werden, nimmt pädagogische Diagnostik unterschiedliche Formen an (Kap. 2.3).

diagnostische Werkzeuge

Auch den Werkzeugen und Instrumenten, die im Rahmen der Diagnostik verwendet werden (z. B. standardisierte Testverfahren oder Leitfäden für diagnostische Gespräche, Kap. 4.2.3), liegen theoretische Vorstellungen über Lernen, Bildung, Entwicklung und Sozialisation zugrunde. Der Sinn und Zweck sowie die begründete Auswahl von Instrumenten, die in diagnostischen Handlungen herangezogen werden, liegt aber nicht bei den Instrumenten allein, sondern bei den jeweiligen diagnostisch tätigen Personen, die die Materialien einsetzen, sowie dem konkreten Verwertungszusammenhang diagnostischer Zielsetzungen. Mit anderen Worten, diagnostisch tätige Lehrpersonen sind aufgefordert zu prüfen, ob die theoretischen Prämissen, die einem diagnostischen Werkzeug zugrunde liegen, anschlussfähig an ihre eigenen pädagogisch-didaktischen Vorstellungen und Überzeugungen sind. Denn, so formuliert Schlee (1985b, 258), es ist nicht „der Test als solcher, welcher etwas erhellt oder ausdifferenziert, sondern das in seiner Konstruktion und Anwendung enthaltene theoretische Konzept“. In der Folge heißt dies, dass bei Nicht-Passung der Konzepte der Lehrperson und der im Instrument implizierten theoretischen Aspekte andere, passende Instrumente heranzuziehen und / oder selbst zu entwickeln sind.

Diagnostik und theoretische Bezüge

Schlee (1985b, 258) bezeichnet diagnostisches Handeln zugespitzt als „theoriegetränkte Tätigkeit“ und konstatiert, dass

„die Qualität der diagnostischen Tätigkeit und der diagnostischen Ergebnisse [...] nicht besser ausfallen [kann], als es die Qualität der zugrundegelegten Theorien zulässt“ (Schlee 1985b, 258, Hervorh. i. O.).

Dies bezieht sich gleichermaßen auf die theoretischen Konzepte und Vorstellungen, auf die Lehrpersonen ihr Handeln stützen, sowie auf die Werkzeuge und Instrumente, die sie in dem Prozess heranziehen. Entsprechend wird Diagnostik immer aus einer bestimmten – zu explizierenden, intersubjektiv nachvollziehbaren – Perspektive vorgenommen. Die jeweilige Sicht ist damit letztlich auch den Erkenntnissen inhärent, die generiert werden. Die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven ist vergleichbar zu den theoretischen Bezügen in der Wissenschaft: von der jeweiligen wissenschaftstheoretischen Position, die eingenommen wird, ist abhängig, was gesehen und erkannt wird bzw. werden kann (Prengel 2016, 50). Diagnostik ist mithin das Mittel, das zum Zweck gezielter und begründeter pädagogischer Handlungen herangezogen wird und als solches unmittelbar mit dem Ziel der Initiierung von Lern- und Bildungsmöglichkeiten verbunden.

2.2.2 Diagnostik – Tätigkeit im Kontext von Erziehung, Bildung und Unterricht

Diagnostisches Handeln, das einen Teilaspekt pädagogischen Handelns darstellt, ist didaktischen Prämissen nach- bzw. untergeordnet und zugleich unmittelbar mit diesen verbunden (Ziemen 2016, 39). Didaktik umfasst Theorien vom Lehren und Lernen, von Bildung und Erziehung in Schule und Unterricht (Terhart 2009). Als Erkenntnistätigkeit innerhalb des Lehrprozesses ist diagnostisches Handeln auf theoretische Bezugssysteme angewiesen. Sie stellen die Grundlage für Handlungsentscheidungen dar. Die Auswahl der konkreten Instrumente und Werkzeuge, anhand derer die Diagnosen generiert werden, hat eine zentrale Bedeutung für die pädagogischen Perspektiven, die anschließend generiert werden können. Je nachdem, welche Vorstellungen von Lernen, aber auch von dem Unterrichtsgegenstand existieren, wird der / die LehrerIn entscheiden, wie er / sie sich dem didaktischen Erkenntnisinteresse annähert (Kap. 3 und 4).

Einheit diagnostischen und pädagogischen Handelns

Schuck (2004) und Kornmann (1985) begreifen pädagogisches und diagnostisches Handeln als Einheit. Schlee (1985a) argumentiert hingegen, dass die Didaktik der Diagnostik vor- bzw. übergeordnet ist. Er begründet dies in kritischer Auseinandersetzung mit dem Ansatz der oben genannten Förderdiagnostik. Die Ziele von Förderung, also die Ideen für zukünftige pädagogische Handlungen, ergeben sich nicht aus dem diagnostischen Prozess selbst, sondern erst durch deren Interpretation entlang der jeweiligen Bezugstheorien, so Schlee. Die von Ricken und Schuck (2011, 110) proklamierte immanente diagnostische Erkenntnistätigkeit bezieht sich dabei auf die konkrete Praxis pädagogischer Handlungen, die ebenfalls auf der Folie immanenter Vorstellungen von Bildung und Erziehung, Lernen und Entwicklung im organisatorischen Zusammenhang der Schule Bezug nimmt. Dabei favorisiert Schuck (2004) ein Bildungsverständnis, das über die (unreflektierte) Übernahme kultureller Erfahrungen, Normen und Werte hinausweist. Förderung ist in diesem Sinne so zu verstehen, dass sie der Selbstbestimmung, Autonomie und Teilhabe der SchülerInnen verpflichtet ist – ein Verständnis, das stark an dem skizzierten Bildungsverständnis orientiert ist. Entsprechend ist es die Aufgabe von Lehrpersonen, die SchülerInnen in diesen Prozessen als aktive AkteurInnen anzuerkennen und ihre reflexive Auseinandersetzung mit den sozialen und materialen Lebensbedingungen zu unterstützen. In dem Zusammenhang setzt Schuck sich auch kritisch mit dem Begriff des Förderns auseinander, der durch die KMK-Empfehlungen von 1994 einerseits sowie durch den Begriff der Förderdiagnostik andererseits in einen engen Zusammenhang mit Diagnostik gebracht wurde. Dabei plädiert er für ein Verständnis von Förderung, das den Bildungszielen verpflichtet ist (Schuck 2006, 84) und grenzt sich ebenso wie Speck (1995) von einem behavioristischen Verständnis von Fördern ab. Letztgenanntes versteht Fördern wesentlich als aktive Tätigkeit der Lehrperson, die nicht nur über die Art und Weise, sondern auch über die normativen Vorstellungen und Wissensbestände, die erreicht werden sollen, entscheidet und die SchülerInnen an diese heranführt, während diese selbst passiv bleiben.

Diese zwei zunächst widersprüchlich erscheinenden Perspektiven auf das Verhältnis von Didaktik und Diagnostik lassen aber Gemeinsamkeiten erkennen, wenn man die begriffliche Verwendung von Didaktik bei Schlee und die übergeordneten Bildungs- und Erziehungsziele bei Schuck betrachtet. Was Schlee als didaktische Prinzipien und Grundannahmen beschreibt, die dem diagnostischen Prozess vorausgehen, findet sich bei Schuck als übergeordnetes Bildungsziel sowie als zugrunde liegendes Menschenbild. Gemeinsam ist den beiden Perspektiven auf Diagnostik weiter, dass sie die didaktischen bzw. bildungstheoretischen Prämissen als handlungsleitend im Prozess der Auswahl diagnostischer Fragestellungen sowie der Instrumente und Methoden, mit denen Daten erhoben werden, betrachten. Dabei betonen beide die Notwendigkeit der Kongruenz zwischen den jeweiligen didaktischen Annahmen und Vorstellungen und den diagnostischen und pädagogischen Entscheidungen. Lehrpersonen müssen sich darüber im Klaren sein, welches Verständnis von Lernen, Bildung, Erziehung, Sozialisation, Unterricht und Fachgegenstand sie ihrer Arbeit zugrunde legen wollen – und reflektieren, wie diese im Verhältnis zu den formalen, schulischen Anforderungen an sie als Lehrpersonen und ihre Tätigkeit stehen. Die übergeordneten Bezugspunkte zeichnen sich durch die allgemeinen Bildungsziele, curricularen Festlegungen sowie Entwicklungs- und Persönlichkeitsvorstellungen aus, so schrieb bereits 1985 Schlee (1985a, 157). Heute, mehrere Jahrzehnte später, lässt sich an diese Überlegungen anschließen, wenngleich sich curriculare Vorgaben zugunsten von Bildungsstandards verändert haben.

In dem gleichen Zeitraum sind auch differenzierte Erkenntnisse der schulischen und unterrichtlichen (Re-)Produktion von Benachteiligungen und sozialer Ungleichheit generiert worden. Hierzu zählt u.a. die Mittelschichtsorientierung (Nohl 2014, 183ff.), die sich wesentlich in den Lern-und Leistungserwartungen der SchülerInnen findet sowie der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 2008) der Schule. Letztgenannter verweist auf die Vorstellung, dass ‚die SchülerInnen‘ einsprachig seien. Diese (implizite) Annahme findet ihren Ausdruck bspw. in der Gestaltung eines Lese- und Schreibunterricht, der Herausforderungen, die mit Mehrsprachigkeit einhergehen, nicht aufgreift. Ein unterrichtliches Beispiel, in dem Mehrsprachigkeit als Bedingung des Schriftspracherwerbs berücksichtigt wird, findet sich in Kapitel 3.3.

 

Hieran anknüpfend können diagnostische Handlungen aktuell als Erkenntnistätigkeit beschrieben werden, die dem Ziel verpflichtet sind, individualisierte Lehr-Lernperspektiven für die einzelnen SchülerInnen zu erkennen, um darauf aufbauend Unterricht für sie und ihre MitschülerInnen zu gestalten. In dieser Perspektive ist diagnostisches Handeln keine punktuelle Tätigkeit, wie es im Begriff der Diagnose zum Ausdruck käme, sondern eine, die Lehr-Lernprozesse beobachtet, beschreibt und kontinuierlich evaluiert.

2.3 Diagnostisches Handeln in Schule und Unterricht – ein Überblick

Schuck (2000) hat ein Modell erstellt, mit dem sich unterschiedliche diagnostische Vorgehens- und Verfahrensweisen miteinander vergleichen lassen. Die Unterschiede entstehen durch die theoretischen und schulorganisatorischen Bezüge, denen die jeweiligen Vorgehensweisen verpflichtet sind. Die verschiedenen Perspektiven sind in dem Modell analytisch voneinander getrennt, während sie in der schulischen und unterrichtlichen Praxis eng miteinander verknüpft sind. Dies liegt daran, dass pädagogische Handlungspraxis in Schule und Unterricht nicht von den Anforderungen, Erwartungen und den damit einhergehenden Verwertungszusammenhängen – also dem Rahmen, in dem sie stattfindet – loszulösen sind.

Die von Schuck (2000) entwickelte Abbildung 1 greift v.a. (sonder-) pädagogische Sichtweisen auf Diagnostik auf. Dies wird u. a. an dem für ihn zentralen Gegenstandsverständnis deutlich. Hierzu zählt er einerseits das Menschenbild und hier v.a. die Vorstellungen von Lernen und menschlicher Entwicklung, und andererseits die Zielsetzungen diagnostischer Tätigkeiten. Das fachliche Gegenstandsverständnis – das im Kontext fachdidaktischer Verständnisse von Unterricht und Diagnostik ebenso zentral ist wie für das Selbstverständnis der Fachdidaktiken – ist in der Original-Abbildung nicht explizit ausgewiesen. Indirekt findet es sich im rechten unteren Quadranten, da die diagnostischen Perspektiven, die hier verortet werden – und in diesem Buch im Zentrum stehen – sich dadurch auszeichnen, dass sie Bezüge zum fachlichen Lehr-Lerngegenstand und seiner Fachdidaktik aufweisen bzw. sich durch diese auszeichnen. Um diesen Fokus auch in der Grafik hervorzuheben, haben wir den Quadranten rechts unten in der Abbildung entsprechend schraffiert.

Unterschiedliche erziehungswissenschaftliche Positionen auf Diagnostik stellt Schuck in der Grafik als Pole eines Spannungsverhältnisses dar, die einander gegenüberliegen. Beide Spannungslinien werden in Abbildung 1 in ihrer Bedeutung für diagnostische Prozesse in pädagogischen Zusammenhängen vorgestellt.


Abb. 1: Diagnostische Tätigkeit und pädagogisches Handeln in Bildung und Erziehung, angelehnt an Schuck (2000, 234).

2.3.1 Gesellschaftlicher Rahmen: Fachwissen und schulische Regeln

Konstitutiv und rahmend für die Perspektiven und die Verortung diagnostischer Ansätze und Vorgehensweisen in Schule und Unterricht sind zwei zentrale Bezüge, die auch alle anderen pädagogischen Handlungen auszeichnen: zum einen der Stand bzw. die Konstitution des Schul- und Unterrichtssystems mit seinen formalen Regeln. Diese lassen sich zusammenfassen als Rahmenbedingungen professionellen Handelns. Sie sind verbunden mit Erwartungen an die Rolle der Lehrperson und der SchülerInnen. Weiter zählt hierzu die konstitutive Mehrgliedrigkeit des Schulsystems. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Bildungsgängen und Schultypen erfolgen formal nach dem Leistungsprinzip. Ein weiterer Bezugspunkt stellt das fachliche Wissen dar. Wissen aus der Erziehungswissenschaft, der (Entwicklungs-)Psychologie, der Soziologie, den Fachdidaktiken und den (Unterrichts-)Fächern werden aufgerufen. Beide Perspektiven, die des schulischen Rahmens und die des theoretischen Wissens, können in Schule und Unterricht im Widerspruch zueinanderstehen. Dies ist z. B. der Fall, wenn Lehrpersonen ihren Unterricht am Primat einer adaptiven Gestaltung ausrichten, sie zugleich aber selektive Entscheidungen treffen müssen, also anhand erbrachter Leistungen die Wiederholung eines Schuljahres und / oder den Wechsel des Bildungsgangs zu legitimieren. Letztgenanntes erfordert den Vergleich der SchülerInnen miteinander bzw. gegenüber gesetzten Erwartungsnormen und geht mit der Unterscheidung „besser / schlechter“ einher. Ein anderes Spannungsfeld ergibt sich dadurch, dass die Ergebnisse diagnostischer Beobachtungen nicht allein zur Formulierung gezielter pädagogischer Unterstützungsangebote genutzt werden können, sondern immer auch in den schulischen Verwertungszusammenhang der Legitimation von Selektions- und Allokationsentscheidungen herangezogen werden können. Ein weiteres Spannungsfeld findet sich in der Aufforderung, insbesodere an SonderpädagogInnen, im Rahmen sogenannter Überprüfungsverfahren mithilfe vorgeschriebener diagnostischer Verfahren zu arbeiten, da nur Ergebnisse, die mit diesen Instrumenten generiert wurden, die Grundlage für die Gewährung von Ressourcen sind; finanzielle, sachliche und / oder personelle Ressourcen, die für die Arbeit mit dem / der SchülerIn notwendig sind. Entsprechend ist es wichtig, dass Lehrpersonen über theoretische Kenntnisse verfügen, um diagnostische Verfahren und Vorgehensweisen einordnen und bewerten zu können.

In diagnostischen ebenso wie in anderen pädagogischen Kontexten, z. B. im Unterricht, sind Lehrpersonen aufgefordert, beide Bezüge, den des gesellschaftlich-schulischen Rahmens und den des fachlichen Erkenntnisstands zu bedienen und – wenn sie im Widerspruch zueinander stehen – eine Balance zu entwickeln.


Eine australische Studie zeigt auf, dass Lehrpersonen, die die Option haben, SchülerInnen auf unterschiedliche Bildungsangebote und -gänge zu verteilen, diese auch nutzen. In der Folge wird der Unterricht wenig adaptiv gestaltet. LehrerInnen, die in Systemen tätig sind, die dies nicht eröffnen, entwickeln andere pädagogische Ideen, wenn sie mit ihren bisherigen didaktischen Arrangements nicht bei allen SchülerInnen Lernprozesse initiieren können (Petriwskyj 2010).


Selektionsstrategie

Lange Zeit war es Aufgabe der Sonderpädagogik, die Entscheidung des Übergangs in eine Sonder- resp. Förderschule bzw. die sogenannte Sonderschulbedürftigkeit von SchülerInnen festzustellen. Diagnostische Prozesse, die mit diesem Ziel durchgeführt werden, verfolgen eine Selektionsstrategie. Sie unterscheiden sich von der in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten Idee, Diagnostik als eine kontinuierliche Tätigkeit pädagogischen Handelns zu verstehen. Vielmehr stellt Selektionsdiagnostik eine punktuelle Tätigkeit dar. Vergleichbare Entscheidungen treffen Lehrpersonen auch im sogenannten Regelschulsystem, wenn sie auf Grundlage ihrer Kenntnisse der Lernprozesse der SchülerInnen Versetzungen vorschlagen, empfehlen bzw. legitimieren.

Mit dem in Folge der Ratifizierung der UN-BRK proklamierten Anspruch auf eine adaptive Unterrichtsgestaltung, die alle SchülerInnen in inklusiven, schulischen Settings anspricht, verschieben sich zwar die (sonder-)pädagogischen Notwendigkeiten zur Selektion, sie werden aber nicht gänzlich aufgehoben. So wird der sonderpädagogische Unterstützungsbedarf nach wie vor überwiegend individuell statt systemisch zugeschrieben. Das heißt, nicht die Schule als Organisation hat Förderbedarf, da sie ihrem Auftrag ohne nicht gerecht werden kann, sondern die SchülerInnen. Ebenfalls erhalten bleibt die grundsätzliche Idee eines Schulsystems mit unterschiedlichen Bildungsgängen. Mit anderen Worten, Diagnostik zeichnet sich – wie andere pädagogische Tätigkeiten auch – durch widersprüchliche Bezüge aus: einerseits, einen adaptiven Unterricht zu gestalten und andererseits, SchülerInnen entlang ihrer (Miss-)Erfolge, die sie unter vergleichbaren Bedingungen erreichen, zu unterscheiden. Dieses Spannungsfeld ist konstitutiv für das Schulsystem, mit Folgen nicht nur für pädagogische Handlungen, wie Schuck aufzeigt:

„Der Schüleralltag bei uns wird bestimmt durch die allgegenwärtigen Selektionsbedrohungen und die damit verbundene gesellschaftliche Deklassierung.“ (Schuck 2004, 358)

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