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Merkmale der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10, F60.81)

• Größengefühle in Bezug auf die eigene Bedeutung ( z. B. übertreiben die Betroffenen ihre Leistungen und Talente, erwarten ohne entsprechende Leistungen als bedeutend angesehen zu werden)

• Beschäftigung mit Fantasien über unbegrenzten Erfolg, Macht, Scharfsinn, Schönheit oder ideale Liebe

• Überzeugung, besonders und einmalig zu sein und nur von anderen besonderen Menschen oder solchen mit hohem Status (oder von entsprechenden Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen zusammen sein zu können

• Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung

• Anspruchshaltung; unbegründete Erwartung besonders günstiger Behandlung oder automatischer Erfüllung der Erwartungen

• Ausnutzung von zwischenmenschlichen Beziehungen; Vorteilsnahme gegenüber anderen, um eigene Ziele zu erreichen

• Mangel an Empathie; Ablehnung, Gefühle und Bedürfnisse anderer anzuerkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren

• häufiger Neid auf andere oder Überzeugung, andere seien neidisch auf die Betroffenen

• arrogante, hochmütige Verhaltensweisen und Attitüden

Neuere Untersuchungen zum Verlauf der Erkrankung bei Narzisstischen Persönlichkeitsstörungen haben die in der ICD 10 erwähnten diagnostischen Unsicherheiten bestätigt. Die Instabilität narzisstischer Psychopathologie im Verlauf stellt die Konstruktvalidität der diagnostischen Kategorie »Narzisstische Persönlichkeitsstörung« ebenso wie das Konstrukt des pathologischen Narzissmus infrage (vgl. Ronningstam, zitiert nach Hartmann 2006, S. 19).

Das ›Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders‹ (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen – DSM) ist ein Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Vereinigung) und wurde 1952 zum ersten Mal in den USA herausgegeben. Seit 1996 gibt es die deutsche Publikation des DSM-IV. Aktuell liegt die Version DSM-IV-TR vor, Stand März 2007. Der Inhalt des DSM wird von Experten festgelegt, um Diagnose und Heilung zu erleichtern. Es wird in Kliniken und bei Versicherungsgesellschaften angewandt. Dem gegenwärtigen DSM liegt das klassische medizinische Modell zur Beschreibung von Geisteskrankheiten zugrunde – fußend auf Kraepelin.

Im DSM-IV wird die Narzisstische Persönlichkeitsstörung durch insgesamt acht Merkmale charakterisiert. Mindestens fünf der folgenden acht Kriterien müssen erfüllt sein:

Merkmale der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (DSM-IV)

• Der Betroffene hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (übertreibt z. B. die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden)

• ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe

• glaubt von sich, besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können

• verlangt nach übermäßiger Bewunderung

• legt ein Anspruchsdenken an den Tag, d. h. übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen

• ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch, d. h. zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen

• zeigt einen Mangel an Empathie: ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse der anderen zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren

• ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie; zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen (vgl. Saß, et al. 2003)

Auch psychologische Testverfahren sind für die klinische Diagnostik wichtig. Aussagekräftige Fragebögen zum Narzissmus sind das Narzisstische Persönlichkeitsinventar (NPI) und das Narzissmusinventar (NI).

Robert Raskin und Calvin Hall von der University of California in Santa Cruz veröffentlichten 1979 einen Kurzartikel in den Psychological Reports, der den Titel »A narcisstic personality inventory« trug.16 Der Fragebogen orientierte sich an den Kennzeichen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wie sie im DSM-III – dem Vorläufer des DSM-IV, der zu der damaligen Zeit aktuell war – dargestellt wurden. Der Fragebogen wurde so konzipiert, dass sich die befragte Person jeweils entscheiden muss, welche von zwei Alternativen auf sie eher zutrifft. Durch eine Auswahl der am besten geeigneten Aussagen wurde die Anzahl der Vorgaben von erstmals 223 auf 80 Paare verringert. Die Veröffentlichung der Studie von Raskin und Hall muss als Beginn einer systematischen Narzissmus-Forschung betrachtet werden. 1988 wurde von Robert Raskin und Howard Terry eine revidierte Fassung des NPI vorgelegt, die auf 40 Paaren von Feststellungen beruht (vgl. Raskin, Terry 1988). Von diesem Fragebogen liegt eine deutschsprachige Fassung vor, die von Astrid Schütz, Bernd Marcus und Ina Sellin entwickelt wurde (vgl. Schütz, Marcus, Sellin 2004). Für die deutschsprachige Version wurden sechs Dimensionen des NPI identifiziert:

1. Führungspersönlichkeit: sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wohl fühlen, sich selbst Führungsqualitäten zutrauen

2. Physische Eitelkeit: sich im Spiegel anschauen, den eigenen Körper gerne zeigen

3. Anspruch/Dominanz: hohe Erwartungen an andere stellen, Machtansprüche haben

4. Überheblichkeit/Überlegenheitsgefühl: sich selbst für eine bedeutende Persönlichkeit halten, sich selbst für etwas Besonderes halten

5. Ehrgeiz/Führungswille: Bereitschaft, Eigenverantwortung zu übernehmen und eine Führungsrolle auszuüben

6. Kompetenzüberzeugung: andere beeinflussen können und eigene Fähigkeiten hoch einschätzen

35 Prozent der Gesamtvarianz des NPI lässt sich dabei durch den ersten Faktor erklären. Außerdem fand sich, dass jede der Subskalen positiv mit dem Generalfaktor korrelierte (vgl. Schütz, Marcus, Sellin 2004, S. 207).

Wenn heute unter Persönlichkeits- und Sozialpsychologen von Narzissmus die Rede ist, dann ist wohl die normale Persönlichkeit gemeint, deren Ausprägung durch den NPI erfasst wird. Menschen, die sehr hohe Werte im NPI aufweisen, können, müssen aber nicht eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben (vgl. Bierhoff, Herner 2009, S. 109).

Ein dynamisches Verständnis des Narzissmus ist schon in den Vorstellungen über Narzissmus von Kernberg enthalten. Das von Friedrich-Wilhelm Deneke und Burkhard Hilgenstock an der Universitätsklinik in Hamburg entwickelte und 1989 veröffentlichte Narzissmusinventar (NI) entspricht diesem dynamischen Verständnis von Narzissmus (vgl. Deneke, Hilgenstock 1989). Das NI ist ein Verfahren, das zur Selbstbeurteilung dient und das in der Originalfassung 163 Aussagen umfasst. Narzissmus wird als Selbstsystem aufgefasst, das sich in dynamischer Weise organisiert und reguliert. Im Einzelnen werden vier allgemeine Ziele unterschieden:

1. das Befriedigen von vital-körperlichen und erotisch-sexuellen Bedürfnissen,

2. das Befriedigen von Sicherheitsbedürfnissen,

3. das Aufrechterhalten des Selbstwertgefühls und

4. die Sinngebung.

Wenn diese Ziele erreicht werden, weist das Selbst einen Zustand von Gleichgewicht auf. Das Selbst kann aber bei der Verfolgung dieser Ziele auch in einen Zustand des Ungleichgewichts geraten oder zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht oszillieren. Tritt keine Balance ein, kommt das Selbst in einen kritischen Zustand der Bedrohung und es treten Ängste auf. Gleichzeitig werden Motive geweckt, die wahrgenommenen Gefahren abzuwehren, indem sich das Selbst neu organisiert und reguliert (vgl. Bierhoff, Herner 2009, S. 99 f.).

Deneke und Hilgenstock unterscheiden faktorenanalytisch vier kritische Dimensionen des Selbst:

– das bedrohte Selbst, welches sich auf die Instabilität des Selbst bezieht

– das klassisch »narzisstische« Selbst, welches sich auf Kohuts (1977) Selbsttheorie bezieht

– das idealistische Selbst, welches zum Teil an Kernbergs (1975) Beschreibungen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung erinnert

– das hypochondrische Selbst, welches sich auf den Körper konzentriert

Die Autoren gehen von einem lebenslang wirksamen, sich komplex regulierenden und vielfältig verknüpften Selbstsystem aus, welches motivational durch zwei gegensätzlich wirksame Prinzipien (Streben nach spannungsfreier Ruhe und Streben nach Stimulierung oder Unruhe) bestimmt wird. Die vier Dimensionen des Narzissmus-Inventars ermöglichen dabei eine umfassende Beschreibung der widersprüchlichen Persönlichkeitszüge, die mit Narzissmus in Zusammenhang stehen.

Das Narzissmus-Inventar ist mittlerweile wiederholt in empirischen Studien eingesetzt worden und hat seinen Nutzen für Theorie und Praxis unter Beweis gestellt.17 Das dem Narzissmus-Inventar zugrunde liegende dynamische, selbstregulatorische Modell des Narzissmus entspricht der Sichtweise, die in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie vorherrscht. Im Unterschied zur klinischen Perspektive wird in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie der normale Narzissmus thematisiert (vgl. Bierhoff, Herner 2009, S. 104).

Es wurde in diesem Abschnitt deutlich, dass Narzissmus als Konstrukt viele verschiedene Ausprägungen der Erlebens- und Verhaltensweisen hat und in verschiedenen Schweregraden auftreten kann. Um diese verschiedenen Ausprägungen und Schweregrade eines (gesunden, pathologischen oder malignen) Narzissmus besser zu verstehen, ist es notwendig, sich mit der Entstehung von Narzissmus zu befassen. Dies soll im nachfolgenden Abschnitt über die Entwicklungstheorien zum Narzissmus erfolgen. Dieser Abschnitt ist wiederum Grundlage für den dann folgenden Abschnitt über die Behandlung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.

 

Festzuhalten bleibt aber aus diesem Abschnitt über das Spektrum narzisstischer Verhaltensweisen für den weiteren Fortgang des Buches in Anlehnung an eine Aussage von Almaas, dass alle Individuen mindestens eine Form des Narzissmus aufweisen und niemand narzisstischen Störungen gänzlich entkommt. Der Narzissmus stellt eine so grundlegende Basis der Ich-Erfahrung dar, dass das Selbst des durchschnittlichen Menschen zutiefst und fundamental narzisstisch ist. Das Äußerste, was Psychotherapie oder Psychoanalyse leisten können, ist, dass es dem Individuum möglich wird, den »Narzissmus des Alltagsleben« zu erreichen (vgl. Almaas 1996, S. 26 ff.).

4. Entwicklungstheorien des Narzissmus

Es gibt eine Vielzahl an Entwicklungstheorien zum Narzissmus und eine lange und umfassende Diskussion um diese Entwicklungstheorien. Den meisten dieser Theorien ist gemeinsam, dass sie ein tiefes Verständnis der Psychoanalyse, ihrer Theorie und ihrer Fachterminologie erfordern. In dem hier vorliegenden Buch werden diese Entwicklungstheorien nur insofern angesprochen, wie sie für den weiteren Fortgang der Arbeit notwendig erscheinen. Es gilt, ein notwendiges Grundverständnis für das Entstehen und die dahinterliegende Dynamik narzisstischer Verhaltensweisen zu erarbeiten und darzulegen. Dieses Grundverständnis ist notwendig, um die nachfolgend dargestellten Behandlungsmethoden zu erklären und zu verstehen, die im dritten Teil auf ihre Übertragbarkeit in einen Coaching-Prozess unter Berücksichtigung narzisstischer Phänomene hin überprüft werden.

Verfolgt man den historischen Diskurs über die Entwicklungstheorien zum Narzissmus, so fällt auf, dass fast alle in der Psychoanalyse diskutierten metapsychologischen Konstrukte in diesem Diskurs auftauchen. Die Metapsychologie enthält die theoretischen Grundannahmen der Psychoanalyse. Dabei soll eine konstruierte Modellvorstellung ermöglichen, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben.18 Nicht die psychischen Phänomene als solche und ihre Bedeutung für das Individuum stehen dabei zur Debatte, sondern die Konzeptualisierung ihres Zustandekommens mithilfe theoretischer Konstrukte, wie z. B. der Dynamik von Trieb und Verdrängung, der topischen Zuordnung zu den Systemen Unbewusst, Vorbewusst und Bewusst oder Es, Ich, Über-Ich sowie z. B. der ökonomischen Betrachtung nach dem Lust-, Unlustprinzip, dem Realitäts- oder dem Nirwanaprinzip (vgl. Schmidt-Hellerau 2008, S. 467).

Freud ging es im Rahmen der Diskussion über eine Metapsychologie um die Entwicklung eines letztlich logisch-mathematischen (quantifizierten) Modells, welches auf Psyche und Soma gleichermaßen anwendbar sein soll und das normale psychische Funktionieren – wie auch dessen Störungen – zu beschreiben in der Lage ist. Zu diesem Zweck konstruiert er einen psychischen Apparat, dessen Organisation darauf ausgerichtet ist, einen Zustand dynamischer Stabilität aufrechtzuerhalten. Dies bedeutet, jede Zufuhr an Erregung von außen (Reiz) oder von innen (Trieb) stört den zuvor bestehenden Gleichgewichtszustand innerhalb dieses psychischen Apparats und verursacht eine Spannung, die als Unlust empfunden wird. Dies drängt das System zu Maßnahmen im Dienst der Homöostase, nämlich entweder zur Abfuhr der (Trieb-) Erregung oder zu ihrer Verdrängung. Damit legte Freud die Grundpfeiler für die Triebtheorie19 und die Strukturtheorie. Diese beiden theoretischen Konstrukte waren auch die Grundlage für seine Konzeptualisierung des Narzissmus.

Bevor darauf unter der Überschrift primärer vs. sekundärer Narzissmus näher eingegangen wird, sollen zunächst noch weitere theoretische Konstrukte genannt werden, die im Rahmen des theoretischen Diskurses über das Konzept Narzissmus genannt bzw. entwickelt wurden. In historischer Reihenfolge können die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorie und die Selbstpsychologie genannt werden. Durch die Öffnung der Psychoanalyse zu ihren Nachbardisziplinen wie Entwicklungspsychologie, Säuglingsforschung, die Philosophie, die Sozialpsychologie und die System- und Kommunikationstheorie entstanden weitere Entwicklungstheorien, wie beispielsweise die interpersonellen und intersubjektiven Entwicklungstheorien.

Ebenfalls in historischer Reihenfolge seien die wesentlichen Vertreter der verschiedenen Entwicklungstheorien erwähnt. Als Erster sei natürlich Sigmund Freud genannt, der die Konzeptualisierung des Narzissmus auf seiner Trieb- und Strukturtheorie aufbaute und um die Libidotheorie erweiterte. Sandor Ferenczi war einer der engsten Mitarbeiter und in den frühen Jahren ein enger Freund Freuds und entwickelte ein regressives Modell des Narzissmus als Verlust und Wiedergewinnung des intrauterinen Paradieses. Er nahm viele Ideen der erst später ausgearbeiteten Objektbeziehungstheorien in seinen Schriften vorweg. Zu seinen Analysanden zählen Melanie Klein und Michael Balint, die die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie – untergründet mit der Triebtheorie – ausarbeiteten. Als weiterer Vertreter der Objektbeziehungstheorien gilt insbesondere Otto F. Kernberg, aber auch William R. D. Fairbairn und Donald Winnicott.

Als Vertreter der Ich-Psychologie gelten Anna Freud, Heinz Hartmann und David Rapaport. Als Neo-Freudianer wurden Karen Horney und Erich Fromm bezeichnet, die einerseits Narzissmus als Ausdruck tiefsitzender Angst verstehen und die auf die Prägung des Individuums durch die Gesellschaft hinweisen. Als führende Vertreter der Selbstpsychologie gelten Heinz Kohut sowie Anna und Paul Ornstein. Als Vertreter der interpersonellen Entwicklungstheorie können Harry Stuck Sullivan, Stephen Mitchell, Stavros Mentzos und Daniel N. Stern aufgeführt werden. Wegbereiter einer intersubjektiven Entwicklungstheorie waren Robert D. Stolorow, B. Brandchaft und G. E. Atwood und im deutschsprachigen Raum Martin Altmeyer.

Primärer und Sekundärer Narzissmus nach Freud

Sigmund Freud benutzte den Begriff Narzissmus je nach Kontext in vielfältigen Bedeutungen. Freuds Narzissmustheorie ist dabei keineswegs konsequent, sondern neigt in ihrer Entwicklung zu Widersprüchen, und es fehlen dem Außenstehenden eine klare Linie und Begrifflichkeit.

Narzissmus ist für Freud 1910 zunächst noch die Bezeichnung für eine Perversion, bei der der eigene Körper wie ein Sexualobjekt behandelt wird. Bereits in der ersten Begriffsanwendung auf die Homosexualität, in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« wird diese Eigenliebe mit einer frühen passiven Liebesfantasie assoziiert: Der narzisstische Homosexuelle liebt den gleichgeschlechtlichen Partner, wie seine Mutter ihn geliebt hat (vgl. Freud 1905, S. 56).

Ab 1911 benutzt Freud den Begriff auch zur Bezeichnung eines regulären Entwicklungsstadiums der Libido und spricht von Narzissmus als einem Zwischenstadium zwischen Autoerotismus und Objektliebe. Die zunächst ziellosen Sexualtriebe haben mit dem Ich ein Objekt gefunden. Ich-Triebe und Sexualtriebe sind in dieser Phase noch nicht unterschieden. Autoerotismus wird zuerst in »Totem und Tabu« (1913) näher definiert. In den ersten Lebensmonaten, solange der Säugling noch kein einheitliches Ich besitzt, sei jede noch ungeschiedene Triebkomponente auf Lustgewinn aus, deren Befriedigung im Anschluss an lebenswichtige, der Selbsterhaltung dienende Vorgänge (Stillen, Stuhlgang) am Körper stattfindet. Freud nennt dieses Stadium das des Autoerotismus, weil hier der eigene Körper auch das einzige Befriedigungserlebnisse produzierende Liebesobjekt sei. Abgelöst werde dieses Stadium von dem der Objektwahl.

»Es hat sich beim weiteren Studium als zweckmäßig, ja als unabweisbar gezeigt, zwischen diese beiden Stadien ein drittes einzuschieben. (…) In diesem Zwischenstadium haben die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer Einheit zusammengesetzt und auch ein Objekt gefunden; dieses Objekt ist aber kein äußeres, sondern es ist das eigene, um diese Zeit konstituiert sich das Ich. Mit Rücksicht auf später beobachtete Fixierungen heißen wir das neue Stadium Narzissmus. (…) Wenn uns eine genügend scharfe Charakteristik dieses Narzissmus noch nicht möglich ist, so ahnen wir doch bereits, dass die narzisstische Organisation nie mehr völlig aufgegeben wird. Der Mensch bleibt in gewissen Maßen narzisstisch, auch wenn er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat.« (Freud 1913, S. 94)

Im Stadium des Autoerotismus wird somit der Körper wie ein Liebesobjekt behandelt, im Stadium des Narzissmus findet dahingegen eine libidinöse und sexuelle Besetzung des rudimentären, sich allmählich entwickelnden Ich/ Selbst statt.

1914 schreibt Freud seine grundlegende Abhandlung zum Narzissmus, deren wesentliche Aussagen später nur wenig ergänzt und modifiziert werden. Aus seinen Beobachtungen Schizophrener gewinnt Freud die These, deren Größenwahn komme auf Kosten der Objektlibido zustande. »Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden, so dass ein Verhalten entstand, welches wir Narzissmus heißen können.« (Freud 1914, S. 142) Vom Größenwahn der erwachsenen Schizophrenen aus lasse sich auf ein psychogenetisch früheres Stadium schließen, den primären Narzissmus, über welchem sich durch spätere Einbeziehung von Objektbesetzungen der bei den Kranken konstatierte sekundäre Narzissmus aufgebaut habe. Wenn das Kind diesen primären Narzissmus nicht überwinde, in dem es später libidinöse Beziehungen zur Außenwelt aufnehme, wende es seine Libido also erneut dem eigenen Ich zu, so sei an ihm ein sekundärer Narzissmus diagnostizierbar. Diesen fasste Freud, wenngleich jeder Mensch zeitlebens gesunde narzisstische Züge beibehalte, als krankhafte Entwicklung auf.

Mit der »Einführung des Narzissmus« wird die triebtheoretische Definition spezifiziert. Der Narzissmus ist nun die libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes. Begrifflich wird eine »Ich-Libido« oder »narzisstische Libido« von der »Objektlibido« unterschieden. Beide Formen der Libido sind Triebenergien gleicher Natur, sie unterscheiden sich durch das Ziel der Besetzung und sind durch Besetzungsverschiebung miteinander konvertierbar (vgl. Altmeyer 2000, S. 43).

Eine entscheidende Umformung seiner Libidotheorie unternimmt Freud 1923. Aufgegeben wird die These, das Ich sei ursprüngliches Reservoir der Libido, vielmehr gilt jetzt als ihr Topos das Es. Das Ich bedient sich der Libido, die es von Objekten abzieht und als desexualisierte Energie für seine eigene Bildung verwendet: Narzisstische Libido ist desexualisierte oder sublimierte Sexualität (vgl. Freud 1923 zitiert nach Altmeyer 2000 S. 45).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Freud dem Narzissmus-Begriff mindestens vier Konnotationen gibt:

– In klinischer Hinsicht wird damit eine sexuelle Perversion charakterisiert, bei der der eigene Körper als Sexualobjekt benutzt wird.

– Aus genetischer Perspektive wird damit ein Stadium der Entwicklung beschrieben.

– Hinsichtlich der Objektbeziehungen werden damit verschiedene Typen der Objektwahl (Anlehnungstypus, narzisstisch) und die Art und Weise der Beziehung zur Umwelt (Mangel an Beziehung) bezeichnet.

– Letztlich soll die Regulation des Selbstwertgefühls damit beschrieben werden.

Mit diesen vier Bedeutungen sind die Grundlagen für viele der nachfolgenden Narzissmus-Theorien im Kern schon angedacht (vgl. Hartmann 2006, S. 7).