Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

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Der von Metz postulierte Zeitindex wird greifbar im Geschehen von Erinnerung und Hoffnung, zumal in apokalyptischen Traditionen der Bibel: „Die Apokalypse biblischer Traditionen, so schwer sie für uns heute in der Tat zu vermitteln ist, ist keine nervöse oder neugierige Berechnung des Zeitpunkts vom Ende der Welt, sondern ein Wahrnehmen der Welt im Wissen um ihr Ende. Ich meine, daß die mit apokalyptischer Schärfe entwickelte Eschatologie die eigentliche, auch kulturell beschreibbare Mitgift des biblischen Geistes ausmacht. […] Umgehen mit dem Ende heißt ja nicht Resignation. Resigniert wird der Mensch vielmehr dann, wenn er vermutet, daß es überhaupt kein Ende mehr gibt. Wenn er also in seinem Lebensgefühl davon ausgeht, daß er und überhaupt alles hineingerissen ist in das Gewoge einer anonymen, endlosen Weltzeit, die schließlich jeden von hinten überrollt wie die Flut das Sandkorn am Meer.“215 Dieser Zeitindex steht, mit Johann Baptist Metz gesprochen, für den Einbruch der unverfügbar anderen Zeit Gottes, die in das menschliche Leben als „vertikale Unterbrechung“216 einfällt und dort eine apokalyptisch gedrängte, auf das baldige Kommen Gottes gerichtete Virulenz freisetzt.217 Dieses apokalyptische Zeiterleben und -verstehen bewegt den Fundamentaltheologen durchgängig: „Und ich schließe diese Überlegungen mit ihr“, nämlich der Apokalyptik, „ab, weil sie mich über die Jahre beschäftigt hat, weil sie gewissermaßen Saum meines theologischen Entwurfes bildet, ohne daß ich je überzeugend und konsistent von ihr zu reden gelernt hätte.“218

Einer Besinnung auf das Gebet kommt insofern grundlegende Bedeutung zu, als dieses eine Sprachgestalt219 ist, in der der leidende Mensch seine Subjektwerdung erfährt, die sich einer Systemeinholung verweigert, was jedoch in modernen Gesellschaftssystemen zunehmend drohe.220 Im denkend-betenden Vollzug, auch dem der Sprachlosigkeit, wird dieses Systemdenken unterbrochen und das hoffnungsbetonte Ausgerichtetsein auf Gott zur Praxis. Metz sieht somit in der Sprachlosigkeit eine fundamentale „Unterbrechung“. In dieser Kategorie findet er eine Kurzformel für das, was mit Beten gemeint ist: „Genau das habe ich gemeint, daß ein Stück Sprachlosigkeit zu wünschen wäre. Die Spracharmut, ja, die haben wir zwar als gefühlte, aber die wirkt so, wie wenn man durch den Wald läuft und aus Angst pfeift. So wird bei uns weitergeredet aus Angst, daß man in die Grube der Sprachlosigkeit fallen könnte. Dadurch wird meines Erachtens in unserer Gebetstradition gerade eine der großen und, wie ich meine, für uns heute wichtigen Traditionen des Betens immer wieder verdeckt: jene Tradition nämlich, die uns z.B. lehrt, daß Beten zunächst nicht eine rasche Überwindung von Angst ist, sondern erst einmal Zulassung von Angst; daß Beten nicht immer ein Gesang der Seele ist, sondern gar oft ein sprachloser Schrei. Für mich ist die kürzeste Definition von Gebet ganz einfach: ‚Unterbrechung‘, Unterbrechung aller Plausibilitäten, in denen wir leben, und das macht zunächst einmal – sprachlos.“221

Betend manifestiert sich so eine bestimmte Kultur des Umgangs mit Zeit und zugleich eine bestimmte Gottesauffassung, nämlich einer, bei der Gott ein Geheimnis bleibt, dem mit der Erwartung der Rettung begegnet wird. Mit Blick auf die Gebetssprache222 führt Metz in diesem Sinne aus: „Sie verurteilt den unaussprechlich Angesprochenen nicht zur Antwort, nicht zum vertraulichen Ich-Du. Sie ist keine Unterhaltungssprache. Sie kann weder als Dialog noch als Kommunikation in dem uns vertrauten Sinn beschrieben werden, kann also weder diskurstheoretisch noch kommunikationsphilosophisch durchschaut werden. Sie bleibt die Heimstatt negativer Theologie, bleibt praktiziertes Bilderverbot, bleibt wehrlose Weigerung, sich von Ideen oder Mythen trösten zu lassen, bleibt Gottespassion, sehr oft nichts anderes als ein lautloser Seufzer der Kreatur. Oder, um es nun doch mit einem von Rahner häufig gebrauchten Wort zu sagen: ein Schrei nach dem Licht Gottes.“223 Die Grundanliegen von Johann Baptist Metz aufnehmend, versucht die vorliegende Studie in einer betonten Besinnung auf den geschichtlichen Standort und die in der Biographie der Edith Stein überdeutlich erkennbaren leiderfüllten Momente zu achten. In diesem Sinne sieht sich die angestrebte Darstellung des Gebets bei Edith Stein dem Metzschen Programm einer in seinem Verständnis „nachidealistischen“ Theologie nahestehend. Die Aufnahme der Beiträge von Johann Baptist Metz stellt auch den Versuch dar, der Dimension des Zeitlichen in den Gebetsäußerungen der Edith Stein zu entsprechen, die ein von apokalyptischem Welterleben gefärbtes Kolorit klar erkennen lassen. So wird entsprechendes Zeiterleben sehr deutlich im geistlichen Text „Tabernaculum dei cum hominibus“224 artikuliert oder auch im Beitrag zur Gelübdeerneuerung „Braut des Lammes“225, sowie in den Gedichten „St. Joseph, sorg!“226 und „O hohe Mutter, dich umkleidet“.227 In allen genannten Belegstellen, die exemplarisch für weitere stehen, nimmt Edith Stein vielfältig Bezug auf Stellen der Offenbarung des Johannes. Sie bringt ihr sehnsuchtsvolles Erwarten ins Wort, mit der sie nach der offenbaren Präsenz des endzeitlichen Christus Ausschau hält, dessen Kommen erwartet wird. Der Mensch in seiner Verfasstheit als zwischen Bedrängnis und Sehnsucht auf Rettung und Erlösung ausgespannte Existenz wird von ihr somit durchgängig und in verschiedenen literarischen Gattungen konturiert.

Die vorliegende Studie versucht vor dem Hintergrund des Dargelegten, dem Geheimnis des Abgründigen zu entsprechen, das sich in der Tragödie der Shoa geschichtlich unhintergehbar manifestiert hat, und das als Irritation und Vor-Gabe nicht mehr aus der Theologie zu entfernen ist. Eine Gebetstheologie des 21. Jahrhunderts, die dessen eingedenk bleibt, ist in einem wertvollen Sinne traditionell, weil sie das geschichtlich Überkommene nicht ignoriert, sondern als geistlich zu entschlüsselnden Fingerzeig in die Gottesrede integriert und diese davon orientieren lässt – und zwar besonders orientieren lässt von der Sprachgestalt der Gebete der Opfer. Bei allem, was zur Gestalt des Betens bei Edith Stein im folgenden formuliert wird, und was bei der Auslegung der geistlichen Texte Edith Steins ins Wort kommt, mögen diese grundlegenden Überlegungen in Erinnerung bleiben.

183 Waaijman, K.: Handbuch der Spiritualität. Formen, Grundlagen, Methoden. Band 3: Methoden, Ostfildern 2007, S. 74.

184 Vgl. ihre Übersetzung der quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin (ESGA 23 und 24) und ihre anthropologischen Entwürfe in „Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie“ (ESGA 15).

185 Vgl. ESGA 11/12.

186 Gerl-Falkovitz, Unerbittliches Licht, S. 165.

187 Vgl. Schärtel, T.: Artikel „Entelechie“, in: Franz, A./Baum, W./Kreutzer, K. (Hg.): Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg 2003, S. 112–113, hier S. 112.

188 Vgl. ESGA 11/12, S. 206. Entsprechend formuliert Edith Stein mit Blick auf Aristoteles und das Ziel, das die Ursache einer Bewegung ist: „das Bewegte strebt nicht nur darauf zu, sondern wird dadurch in Bewegung gesetzt, gleichsam von dort aus gezogen.“ (ebd. S. 212). Zur Verwendung und Bedeutung des Begriffs Entelechie bei Edith Stein vgl. Müller, A. U.: Grundzüge der Religionsphilosophie Edith Stein, Freiburg 1993, S. 258–277, sowie Knaup, M.: Artikel „Entelechie“, in: Edith Stein-Lexikon, herausgegeben von Marcus Knaup und Harald Seubert unter Mitwirkung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Martin Hähnel und René Raschke, Freiburg 2017, S. 99–101.

189 Hemmerle, K.: Die geistige Größe Edith Steins. in: Elders, L. (Hg.): Edith Stein. Leben, Philosophie, Vollendung, Würzburg 1991, S. 275–290, hier S. 281.

190 Vgl. Dobhan, U.: Edith Stein die Karmelitin, in: Edith-Stein-Jahrbuch 12 (2006), S. 75–124, hier S. 80.

191 Vgl. Schandl, Ich sah aus meinem Volk die Kirche wachsen, S. 86–87.

192 Edith Stein-Lexikon, herausgegeben von Marcus Knaup und Harald Seubert unter Mitwirkung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Martin Hähnel und René Raschke, Freiburg 2017, S. 7.

193 Ihre Nichte, Susanne Batzdorff, bemerkt, dass ihre Tante in jungen Jahren der Schulzeit „unmissverständliche Anzeichen von Stolz auf ihre Leistungen, die an Einbildung grenzen“ erkennen lies. „Edith lernte gerne, aber liebte es auch, mit ihren Kenntnissen zu prahlen.“ Batzdorff, S. M.: Edith Stein – meine Tante, Würzburg 2000, S. 46. Dazu passt auch ein bisweilen elitärer Zug in der Form, dass Edith Stein in frühen Studienzeiten die Mitstudierenden als zu vernachlässigende Größe ansah, an denen sie vorbeiging, um sich bei Vorlesungen in die erste Reihe zu setzen. Von ihr propädeutisch betreute Studierende in Anfangssemestern in Philosophie nennt sie „Kindergarten“. Dass unsere Autorin bis ins vierte Lebenjahrzehnt hinein „ziemlich hochmütig, eigensinnig und ausgesprochen ehrgeizig“ war, führt auch Beat Imhof an. Vgl. dazu Imhof, B.: Edith Steins philosophische Entwicklung, Basel 1987, S. 29. Es ist angesichts der merklich überheblichen Züge der jungen Edith Stein umso beachtenswerter, wenn Mitschwestern des Kölner Konvents Jahre später von der Novizin Edith Stein berichten werden, dass sie es gar nicht bemerkt hätten, dass ihnen eine hochgebildete, promovierte Philosophin gegenüber trat: „Viele ahnten nichts von der Stellung, die Edith Stein in der Welt inne gehabt hatte, und erfuhren erst nach ihrem Tod von ihrer Bedeutung im öffentlichen Leben.“ (Kölner Selig- und Heiligsprechungsprozess, S. 66). Eine betonte Selbstzurücknahme der Sr. Teresia Benedicta bis ins Sprechen hinein muss stattgefunden haben. Diese lässt auf einen Wandel in der Persönlichkeit schließen und auf erworbene Achtsamkeit dafür, andere durch die eigene Bildung und Eloquenz nicht zu beschämen. Dieser Wandel ist auch schon in den Speyerer Jahren erkennbar, als sie sowohl mit den Schülerinnen als auch mit den jungen, des Lateins unkundigen, Ordensschwestern sehr hilfsbereit und einfühlsam umgeht. Ein innerer Wandel lässt sich desgleichen nach außen hin am Schriftbild erkennen, an der feinmotorischen Körpersprache eines Menschen, die sich im Lebensverlauf der Edith Stein deutlich verändert. Vgl. dazu die Einführung von C. M. Wulff zu ESGA 8, S. XXVI: „Die Lateinschrift Steins in den 30er Jahren ist kleiner und ausgeschriebener“ als in den Manuskripten zu ihrer Studie ‚Einführung in die Philosophie‘, die „spätestens 1921 vollendet war“.

 

194 Reck, Theologie nach Auschwitz, S. 193.

195 Tück, J.-H.: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg 2016.

196 Ebd. S. 29.

197 Dienberg, T.: Ihre Tränen sind wie Gebete. Das Gebet nach Auschwitz in Theologie und Literatur, Würzburg 1997, S. 6.

198 Lenzen, V.: Sprache und Schweigen nach Auschwitz, in: Lesch, W.: (Hg.): Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Theologie und Kunst, Darmstadt 1994, S. 183–200, hier S. 199.

199 Zitiert bei Lenzen, Sprache und Schweigen nach Auschwitz, S. 198.

200 Vgl. dazu Verena Lenzen: „Adorno ist bewegt von Furcht und Sorge, daß die Deformierungen und Verletzungen an den Opfern sich fortsetzen könnte, in der ästhetischen Gestaltung des Grauens, das sich einer tröstend versöhnlichen Konnotation nie gänzlich zu entziehen vermag.“ Lenzen, Sprache und Schweigen nach Auschwitz, S. 193.

201 Müller, G.-L.: Das Kreuz in Auschwitz: Gedanken zum Martyrium von Edith Stein, in: Christliche Innerlichkeit 22 (1987) S. 173–178.

202 Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Publikationen des Autors. Es kann durchgängig aufgewiesen werden, was an den angeführten Belegstellen des Zeitraums von 1962–1997 ersichtlich ist.

203 Edith Stein und Johann Baptist Metz kommen auch darin über ein, dem Thema „Solidarität“ hohe Bedeutung zuzuschreiben. Vgl. dazu Robson, J.: Toward a spirituality of solidarity with Johann Baptist Metz and Edith Stein, in: Teresianum 65 (2014) S. 235–262.

204 Metz, J. B.: Theologie als Theodizee? in: Oelmüller, W. (Hg.): Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, S. 103–118, hier S. 104–105.

205 Eine verdichtete Übersicht über sein frühes Denken findet sich in einem Sammelband von Bauer: Metz, J. B.: Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie. in: Bauer, J. (Hg.): Entwürfe der Theologie, Graz 1985, S. 209–233, besonders S. 217–218.

206 „Im Zuge dieses Ausweichens entsteht ein Christentum – und ich sage das nicht denunziatorisch, sondern mit einem Anflug von Trauer und Ratlosigkeit – nach Art einer bürgerlichen Heimatreligion, die der Gefahr ledig ist, aber auch des Trostes.“ Ebd. S. 226.

207 Metz, J. B.: Kirche nach Auschwitz. Mit einem Anhang für anamnetische Kultur, Hamburg 1993. Metz spricht sich entgegen einer „Verblüffungsfestigkeit“ (ebd. 28) und mit „Scham über ein Beten mit Rücken zu Auschwitz“ (ebd. 8) dafür aus, die „Leidensgeschichte nicht idealistisch aufzuheben“ (ebd. 23).

208 Schuster, E./Boschert-Kimmig, R.: Trotzdem hoffen: Mit Johann Baptist Metz und Elie Wiesel im Gespräch, Mainz 1993, S. 17.

209 Metz, J. B.: Plädoyer für mehr Theodizee-Empfindlichkeit in der Theologie. in: Oelmüller, W. (Hg.): Worüber man nicht schweigen kann: Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1992, S. 107–160, hier S. 128–129.

210 Metz, J. B.: Im Eingedenken fremden Leids: Zu einer Brückenkategorie zwischen Theologie und Ethik, zwischen Religion und Moral, in: KatBl 122 1997, S. 78– 87, hier S. 82.

211 Metz, J. B.: Religion, ja – Gott, nein. in: Metz, J. B./Peters, T. R. (Hg.): Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg im Breisgau 1991, S. 14–67, hier S. 40.

212 „So kommt es unbedingt darauf an, den Primat der Leidensmoral einzuklagen. Schließlich steht im Zentrum christlicher Verkündigung eine memoria passionis.“ Metz, J. B.: Kirche in der Gotteskrise. in: Amery, C. (Hg.): Sind die Kirchen am Ende?, Regensburg 1995, S. 158–175, hier S. 168.

213 „Ich beginne mit einer Mutmaßung über das Wort gefährlich, das für mich in der Formulierung ‚gefährliche Erinnerung‘ zentral wurde. […] Es ist gefährlich, Jesus nahe zu sein, feuergefährlich, brandgefährlich. […] ‚Gefahr‘ ist offensichtlich eine Grundkategorie zur Wahrnehmung seines Lebens und seiner Botschaft und zur Bestimmung christlicher Identität.“ Metz, Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S. 225.

214 Metz, J. B.: Plädoyer für mehr Theodizee-Empfindlichkeit, in: Oelmüller, W.: Worüber man nicht schweigen kann: Neuere Diskussionen der Theodizeefrage, München 1992, S. 107–160, hier S. 137.

215 Schuster/Boschert-Kimmig, Trotzdem hoffen, S. 46–47.

216 Metz, Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S. 225 f.

217 Metz, J. B.: In der Spur des Lebens: von Johann Baptist Metz. in: Arnold Angenendt und Herbert Vorgrimler (Hg.): Sie wandern von Kraft zu Kraft: Aufbrüche, Wege, Begegnungen. Festgabe für Bischof Reinhard Lettmann, Kevelaer 1993, S. 292–299, hier S. 299.

218 Metz, Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, S. 225.

219 Das Gebet ist Metz zufolge eine ’„Sprache des Aufschreis“ (ebd. 18), eine „Leidens- und Hoffnungssprache“ (ebd. 15), eine „leidenschaftliche Rückfrage“ an Gott (ebd. 19), eine „Sprache leidvoll gespannter Erwartung, dass Gott an seinem Tag sich selbst rechtfertigen möge angesichts der dunklen Leidensgeschichte der Welt. Protest mischt sich in die zutrauliche Klage, und die Zärtlichkeit dieser Sprache verleugnet nicht ihre Trauer“ (ebd. 19). Metz, J. B.: Ermutigung zum Gebet, Freiburg 1977, S. 15–19.

220 Metz, Kirche in der Gotteskrise, S. 163–164.

221 Metz, J. B.: Voraussetzungen des Betens: Ein Gespräch mit Johann Baptist Metz, in: HerKorr 32 (1978) S. 125–133, hier S. 132.

222 Vgl. dazu auch Dienberg, Ihre Tränen sind wie Gebet, S. 89.

223 Metz, J. B.: Karl Rahners Ringen um die theologische Ehre des Menschen, in: Stimmen der Zeit 119 (1994, S. 384–392, hier S. 389.

224 ESGA 20, S. 42–44.

225 ESGA 19, S. 135–143.

226 ESGA 20, S. 187–189.

227 ESGA 20, S. 192–193.

4 Begriffliche Klärungen

4.1 Zum Begriff Gebet

4.1.1 Grenzen einer Gebetsdefinition

Eine Darstellung und Sichtung verschiedener (interdisziplinärer) Konzepte, die dem betenden Geschehen nahekommen wollen, finden sich in entsprechenden Lexikabeiträgen,228 Handbüchern229 und spezielleren Abhandlungen.230 Dabei variiert die Perspektive, unter der das Gebet allein in systematisch-theologischer Hinsicht gesichtet wird, deutlich.

So beschreibt beispielsweise Karl Rahner im „Lexikon für Theologie und Kirche“ das Gebet 1960 eher von einem fundamentaltheologischen Zugang her, der seine transzendentaltheologischen Denkwege231 erkennen lässt232, während Hans Schaller in der 3. Ausgabe des gleichen Lexikons 1995 eine Herangehensweise wählt, die sich dem Ereignis des Betens direkt von der Trinitätslehre und einer spirituellen Christologie und Ekklesiologie her nähert.233 Somit wird schon innerhalb verschiedener Auflagen eines Lexikons die große Diversität und Multiperspektivität erkennbar, die bereits innerhalb einer christlich-theologischen Fachdisziplin mit dem Thema Gebet verbunden wird. Diese Spannbreite vergrößert sich erst recht, wo Verfasser von Beiträgen aus der Sicht der Systematischen Theologie andere Disziplinen und interreligiöse Perspektiven einbeziehen, um das Thema zu konturieren.234

Es würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, an dieser Stelle eine integrative Sichtung dieser Perspektiven zu versuchen. Um den größeren Gedankengang der Studie an dieser Stelle nicht aus den Augen zu verlieren, wird auch darauf verzichtet, die verschiedenen Akzentsetzungen zu skizzieren, unter denen die betende Begegnung zwischen dem Menschen und seinem wie auch immer im Einzelnen zu verstehenden übermenschlichen „Gegenüber“ in verschiedenen (religions-) wissenschaftlichen Kontexten konzeptionalisiert werden kann.235 Die Bedeutung des jeweiligen Gottesbildes bzw. religiösen Verhältnisses für ein darauf basierende Gebetsverständnis sei nur erwähnt, ohne darauf im Einzelnen näher eingehen zu können.

Als durchgängig anzutreffendes Merkmal aller wissenschaftlichen Darstellungen im Bereich der systematischen Theologie kann immerhin die große inhaltliche Breite und eine tiefgehende konzeptionelle Verschiedenheit angesehen werden, unter der gesichtet wird, was im Phänomen „Beten“ in unterschiedlichen Epochen und religiösen Kontexten zur Erscheinung gelangte und weiterhin bis heute gelangt. Diese Diversität findet sich auch im christlichen Kontext: „Wer sich mit der Gebetsliteratur beschäftigt hat, wird verwirrt sein über die bunte Vielfalt der Möglichkeiten“.236 Aktuell ist insgesamt eine Tendenz zu erkennen, das Geschehen des Gebets entweder sehr breit auszulegen oder aber sehr eng zu fassen. Dazu bemerken Ingo Dalferth und Simon Peng-Keller: „In der theologischen Rede vom Gebet finden sich zwei gegensätzliche terminologische Neigungen: die Verengung des Betens auf nur eine Form des Betens oder die Ausweitung des Betens auf das ganze Leben des Glaubens.“237 In dieser Feststellung spiegelt sich der Sachverhalt, dass innerhalb der Fachdisziplinen eine Unsicherheit darüber herrscht, was und unter welcher Hinsicht unter dem Wort „Beten“ inhaltlich versammelt und konzeptionalisiert werden soll. Das hält auch F. Wulf bereits 1903 fest, der die Schwierigkeit einer Gebetsdefinition ausdrücklich ins Wort bringt: „Aus diesem Überblick mag ersichtlich geworden sein, warum es so schwer ist, das Gebet zu definieren. Es ist in seinem christlichen Wesen so vielschichtig, daß es kaum mit einem einzigen Satz zureichend erfaßt wird. Die in der Frömmigkeitsgeschichte vorkommenden Begriffsbestimmungen des Gebets leiden überdies bisweilen darunter, daß sie zu sehr von zeitbedingten philosophischen Anschauungen geprägt sind.“238

Im Folgenden versuchen drei Annäherungen gleichwohl dem nahe zu kommen, was von der Sache her im Blick ist, wo Edith Stein als betende Frau in Erscheinung tritt. Die Annäherungen sind bewusst zurückhaltend bei der Frage, das zu untersuchende Geschehen im Vorhinein in Begriffen feststellend zu erfassen. Darin mag der Leser dieser Studie eine Sensibilität entdecken, die sich zum einen von der radikalen Entzogenheit des göttlichen Relationspols mit Blick auf das menschliche Erkennen und Verstehens zu denken geben lässt, wie es deutlich in den Spätwerken Steins zu Pseudodyonisius Areopagita und zu Johannes vom Kreuz begegnet. Zum anderen findet die vom definierenden zum beschreibenden Habitus hingewandte Diktion darin Anhalt und Begründung, dass jede Definition unvermeidlich etwas ausschließen muss. Wo das Gebet aber facettenreich gerade die Berührung mit einem Umfassenden in den Sinn des Verstehens hebt, dort legt sich dem entsprechend nahe, im ersten Verstehenszugang zu diesem Ereignis alles Grenzziehende zurückhaltend zu verwenden bzw. gerade das über Grenzen und damit Definitionen Hinausweisende aktiv zu beachten und hermeneutisch von vorne herein zu integrieren. In drei Annäherungen wird nachfolgend versucht, dem zu entsprechen.

4.1.2 Erste Annäherung: Unabschließbare Antwort auf eine innere Berührung

Schon der Versuch, in einem grenzziehenden Begriff umfassend definieren zu wollen, was mit dem Wort „Beten“ auch nur in einem christlichen Kontext bedeutet wird, stößt in jedem Fall auf zwei grundlegende Schwierigkeiten. Die erste besteht in der unhintergehbaren Transzendenz gleichermaßen des Menschen wie auch des göttlichen Parts des Geschehens und deswegen auch des gesamten Gebetsgeschehens selbst. Die zweite Schwierigkeit besteht in der Anachronie des gesuchten Begrifflichen gegenüber dem lebendigen Ereignis des Betens. Beten läuft dem Definitorischen zeitlich uneinholbar voraus und überholt den Begriff immer wieder aufs Neue. Während der Begriff festzuhalten sucht, strömt und läuft das zu Definierende fortlaufend weiter. Bevor gleichwohl eine klärende Formulierung gesucht wird, die den Leser der Studie informiert, was unter „Beten’“ im Verlauf der Untersuchung verstanden wird, soll zunächst den beiden benannten Schwierigkeiten Beachtung geschenkt werden. Anhand dieser mag die Problematik ersichtlich werden, die mit dem Versuch einer wie auch immer zu formulierenden Gebetsdefinition unvermeidlich verbunden ist. Corona Bamberg OSB kommt daher zu dem Schluss, dass keine Umschreibung zureichend ist, um das christliche Gebetsgeschehen umfassend als Definition ins Wort zu bringen: „Im Laufe der christlichen Frömmigkeitsgeschichte hat man oft versucht, Gebet zu definieren. Man könnte hier vieles aufzählen. Aber keine Definition faßt wirklich, was Gebet ist. Oft sind solche Begriffsbestimmungen zu zeitbedingt. Speziell christliches Gebet ist zu vielschichtig, als dass es mit einem Satz oder gar Wort zureichend umschrieben werden könnte.“239

 

Die erste Schwierigkeit besteht näherhin betrachtet darin, dass das abgrenzende und in begrifflichen Kategorien denkende Zugehen auf das Gebetsgeschehen damit konfrontiert ist, dass sowohl das göttliche Gegenüber als auch der Mensch und somit das gesamte Gebetsgeschehen sich einer definitorischen Festlegung und abschließenden Bestimmung prinzipiell, und nicht nur graduell, im Sinne einer bloß aktuell noch nicht exakt zutreffenden Definition, verschließen. Diese Entzogenheit für das begriffliche Erfassen ist Ausdruck der jeweiligen Transzendenz, die sowohl den Menschen als auch das göttliche Gegenüber zuinnerst und bleibend auszeichnen.240 Weil Gott und Mensch wesentlich „Geheimnis“ sind, muss auch ein Umgreifenwollen dessen, was im Gebet als dem wie auch immer noch genauer zu qualifizierenden „Dazwischen“ sich zuträgt, scheitern. Karl Rahner bringt es so ins Wort: „Wenn wir beten, dann ist das, was wir sagen und in unserem sogenannten Ich davon merken, nur wie das letzte Echo aus unermesslichen Fernen kommend, des Rufens, in dem Gott sich selber ruft, des Jauchzens, in dem Gott selbst selig ist über die Herrlichkeit seiner Unendlichkeit, der Selbstbehauptung, mit der der Unbedingte von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst gründet.“241

Weil nämlich das Gebetsgeschehen als Relation zum göttlichen Gegenüber an der Unbegreiflichkeit dessen Anteil hat, zu dem im Gebet vielgestaltig eine Relation gesucht wird, deswegen kann dieses Geschehen prinzipiell nicht und auf keine Weise abschließend in Begriffe eingeholt werden. Jean Greisch führt mit Bezug auf Emmanuel Levinas bezüglich der bittenden Haltung im Gebet aus: „Die ursprüngliche Bitte, die nicht vom Subjekt, sondern vom anderen ausgeht, setzt ‚einen unsichtbaren Gott voraus, den keine Relation einholen kann, weil er Gegenstand keiner Art von Relation ist, denn er ist eben kein Gegenstand, sondern unendlich. Ein Unendliches, dem ich aufgrund eines nichtintentionalen Denkens verpflichtet bin.‘ “242 Diese Verpflichtung beinhaltet auch die Anerkenntnis dessen, dass schon die Beschreibung und erst recht eine definierende Annäherung an das gemeinte Geschehen auf fundamentale Schwierigkeiten stößt. Darauf weist Jean-Louis Chrétien mit Blick auf das Gebet hin: „Dieses fundamentale, auf kein anderes reduzierbares Phänomen ist schwer zu beschreiben, so sehr variieren die Formen, die es annehmen kann und die Definitionen, die dafür gegeben wurden.“243 Beten erscheint in der menschlichen Optik somit als Geheimnis, und zwar aus innerer Notwendigkeit.

Doch auch vom Menschen her gesehen ist das betende Geschehen nicht und in keiner Weise in feststellenden Begriffen einholbar. Der erste Grund dafür ist, dass der Mensch sich selbst in Denken, Wollen und Verhalten nicht völlig zuhanden ist, sondern vielmehr bleibend eine wesentliche Entzogenheit seiner selbst aufweist. Er bleibt sich Geheimnis. Entsprechendes findet sich bei unserer Autorin Edith Stein, wo sie auf die menschliche Seele zu sprechen kommt: „Was und wie sie ist, das spürt die Seele in ihrem Inneren, in jener dunklen und unsagbaren Weise, die ihr das Geheimnis ihres Seins als Geheimnis zeigt, ohne es zu enthüllen.“244 So gelingt es dem erkennenden Subjekt nicht, sich selbst restlos zum Objekt der Erkenntnis zu machen und dabei von sich als dem dabei Erkennenden restlos abzusehen. Das wird deutlich ersichtlich an der menschlichen Leiblichkeit. Diese ist unhintergehbar und kann nicht ausgeschaltet werden, wenn z. B. der erkennende Mensch von seinem „Körper“ spricht, den er hat, im Gegensatz zum Leib, der er ist, und dem er sich nicht als Objekt gegenüberstellen kann. Der zweite Grund dafür, dass das betende Geschehen nicht in Begriffen dingfest zu machen ist, liegt in der auf Zukunft hin offenen Dynamik des menschlichen Grundaktes des Betens, mit der ein Mensch sich gegenüber dem Mehr-als-Menschlichen verhält. Diese Dynamik aktualisiert sich als je neue und variable, und zwar unablässig als Wahl unter prinzipiell unbegrenzt vielen Möglichkeiten und Aktualisierungsmomenten. So verschließt sich auch von der anthropologischen Seite her gesehen „Beten“ einem definitorischen Zugriff, der das Geschehen aneignend einzuholen imstande wäre. Der Versuch einer Gebetsdefinition ist somit zweifach begrenzt, sowohl von der Entzogenheit des göttlichen Gegenübers als auch von der unbegrenzten Offenheit der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten, die sich im betenden Geschehen aktuell und auch künftig erst noch äußern mögen.

Die zweite Schwierigkeit für eine Gebetsdefinition besteht neben der beschriebenen Transzendenz von göttlichem Gegenüber, dem Menschen und damit dem, was sich „Dazwischen“ zuträgt, darin, dass eine Definition stets ein nachträgliches Konstrukt ist. Dieses versucht, zeitversetzt zu einer geschichtlichen Wirklichkeit, anhand von bereits Bekanntem, die dem Intellektuellen zugängliche Seite des Geschehens systematisierend zu erfassen und daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, die generalisiert werden können. Darin kann aber der lebendige Impetus des Geschehens als den ganzen Menschen vielschichtig berührendes Ereignis in einem jeweils einmaligen, geschichtlichen, auf eine offene Zukunft hin ausgerichteten ‚Jetzt‘ prinzipiell nie eingeholt werden. Die zweite Schwierigkeit einer Gebetsdefinition ist somit deren unvermeidliche Anachronie und engführende Reduktion bezüglich des ursprünglichen Ereignisses. Da nämlich Begriffe etwas aus der Vergangenheit Bekanntes in abgrenzender Weise gegenüber anderem zur Darstellung bringen, können sie nicht erschöpfend vorwegnehmen, was sich erst noch unableitbar neu jeweils in einer konkreten raum-zeitlichen, kulturell geprägten Situation einmalig vollziehen mag. Wo man also Beten auf das festlegen wollte, was sich schon früher zwischen zwei festgelegten Größen zugetragen hat, dort würde man der lebens- und universalgeschichtlich fortschreitenden Dynamik des Geschehens nicht gerecht. Man würde die noch offene und mit neuen Möglichkeiten erfüllte weiträumige Zukunft und seine unzählig mögliche Vielgestalt der Konkretisierungsweisen des Gebets ausblenden.

Zudem stellt das, was in Begriffen davon ausgesagt werden kann, unvermeidlich eine Reduktion dar, bei der ein größeres Ganzes mit intellektuellen, affektiven, und körperlichen Aspekten tendenziell auf das Intellektuell-Begriffliche enggeführt wird, das überdies immer erst nachträglich zum Geschehen entstehen kann. In diesem Sinne kommt jede Definition immer ‚zu spät‘ und schränkt grundlegend ein. Eine solche ‚Definition‘ bliebe hinter dem lebendigen Geschehenszusammenhang unvermeidlich um ganze Dimensionen zurück. Als wesentliches Problem der Frage, was unter „Beten“ verstanden werden kann, zeigt sich, dass stets nur ein Teil des Geschehenszusammenhangs in den Bereich des Sichtbaren und dem Intellektuellen Zugänglichen gelangt. Zudem tritt dieser Ausschnitt dem verstehenden Interesse des Menschen unvermeidlich zeitlich versetzt und nachträglich vor Augen, zu einem Zeitpunkt, da das betende Geschehen schon längst im Gange oder schon vorüber ist und der sich nunmehr als Betende erkennende Mensch auf ihm nicht bewusste Weise schon tief affiziert ist vom göttlichen Gegenüber. Kürzer gesagt: Wo der betende Mensch nach Begriffen sucht für das, was ihm widerfährt, dort ist er schon lange erfasst von dem, was in seinem Inneren die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und körperliche Sein angeht und schließlich bis zur manifesten Sichtbarkeit umgestaltet. Die zweite Schwierigkeit einer begrifflichen Klärung dessen, was „Beten“ meint, besteht somit darin, dass die Begriffe nur einen Ausschnitt des Ganzen zu repräsentieren vermögen, der zudem nur zeitlich versetzt als nachträgliche Systematisierung möglich ist.