Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

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4.1.3 Zweite Annährung: Manifestationen im Sichtbaren

Die beschriebenen Schwierigkeiten einer Gebetsdefinition können den Blick dafür schärfen, dass bei einer beschreibenden Sichtung von Gebetsäußerungen zu keiner Zeit das Ganze des Gebets, sondern allein dessen sichtbare Wirkungen, dessen Konsequenzen auf der Außenseite ansichtig werden. Das betende Geschehen als momentan sich Vollziehendes ist somit prinzipiell stets „verhüllt“ und von der Qualität eines sich verbergend-erscheinenden Geheimnisses. Es ist streng genommen im Vollzug als Ganzes unsichtbar. Mit Blick auf Edith Stein und ihr geistliches Leben insgesamt bringt es ihre langjährige Weggefährtin und Freundin Hedwig Conrad-Martius so ins Wort: „Es ist keine leichte Aufgabe, über Edith Stein zu sprechen. Zunächst, weil es im letzten Grunde überhaupt unmöglich ist, über einen so gut wie ausschließlich religiös bestimmten Menschen zulängliche Aussagen zu machen. Das innerste Leben eines solchen Menschen liegt im Geheimnis Gottes.“245

Dass Beten von Entzogenheit geprägt ist, das gilt zunächst für den betenden Menschen selbst, der im Vollzug des betenden Grundaktes seiner Existenz danach sucht, wie er sich selbst verstehen kann. Erst recht gilt das für Außenstehende, zumal wo diese zeitversetzt dem betenden Ereignis im Leben eines anderen Menschen nahe treten wollen. Beten zeigt sich dem Denken somit nur indirekt und zeitversetzt in den sichtbaren Formen, die dessen leib-seelische Folgen sind: es erscheint im Modus des „Vorübergegangenen“. Diese Differenz bleibt stets zu beachten, nämlich zwischen einem im Ganzen radikal entzogenen Geschehen und dessen Manifestationen im Sichtbaren. Diese Differenz zu sehen, das ist für die Erkundung des Betens im Leben der Edith Stein aufschlussreich und kann vor Fehldeutungen bewahren.

Denn die sichtbaren Manifestationen sind einer empirischen Untersuchung und systematisierenden Deutung ihrer situierbaren Verlaufsformen umfassend zugänglich, das innere Gebetsgeschehen selbst jedoch nicht. Wo aber klar ist, dass die sichtbaren Äußerungen und das, was sich als geronnene Konsequenz des bereits geschehenden Vollzugs vernehmbar macht, nicht zu verwechseln sind mit dem persönlichen Begegnungsgeschehen in der Tiefe der menschlichen Psyche, dort öffnet sich der Blick dafür, dass ein und das selbe innerseelische Geschehen bei einem Menschen an biographisch verschiedenen Stationen höchst Unterschiedliches hervorbringen kann. Dann wäre es möglich, im geschichtlich Hochvariablen der Gebetsform und -häufigkeit ein Überdauerndes zu postulieren, das sich in je geschichtlich neuer Weise aktualisieren kann, ja sogar muss, da der Mensch sich je und je wandelt, ohne dabei an innerer Kontinuität verlieren zu müssen. Vielmehr wäre ein Wandel in der Ausdrucksform und eine Vielgestalt in jeweiligen Konkretisierungen betenden Geschehens zu werten als Moment an der Lebendigkeit des sich Zutragenden. Was sich je unterschiedlich am Beten erkennen lässt, das wäre zu verstehen als Entfaltung eines Organischen, von Gestaltwandel und Wachstum Geprägten. Vor dem Hintergrund des Gesagten wird eine dritte Annäherung an das, was mit ‚Beten‘ bedeutet wird, möglich. Diese Annäherung greift den geschichtlichen, relationalen Charakter des Gebetsgeschehens auf und entfaltet ihn als Ausdruck der Existenz des Menschen in seiner gottgegründeten und -orientierten Bezogenheit auf das Mehr- als-Menschliche im Kontext mit anderen. Beten erscheint darin als ein mit Relevanz erfülltes Geschehen, das andere ursprünglich zu berühren vermag, wo ihnen diese religiöse Praxis begegnet.

4.1.4 Dritte Annäherung: Verweischarakter der sichtbaren Seite als Spur

Wo sich einem Menschen das Gebetsgeschehen im eigenen oder fremden Leben von seiner Außenseite sichtbar zeigt und vor Augen stellt, dort bringt diese Erscheinung etwas nahe, was den Charakter einer Spur und eines mit Bedeutung gefüllten Verweises erkennen lässt. Der Beobachter eines betenden Menschen kann aus diesem Grunde im Prozess der Wahrnehmung keineswegs ein neutraler Betrachter bleiben, der gleichsam hinter der Glasplatte der distanzierten Erkenntnisbemühung unberührt bleiben könnte angesichts des existentiellen Geschehens, das bei einem anderen Menschen zu Gesicht bekommt. Vielmehr ist das Gegenteil davon eines der wesentlichen Charakteristika des betenden Grundaktes – dass es den Beobachter dieses Ereignisses zu einer sehr speziellen Form von Nähe führt, bei dem er selbst und sein Menschsein unvermeidbar mit in das Geschehen hineinragt, dessen er inne wird. Das berühmte Diktum Ludwig Wittgensteins „Gott kannst Du nicht zu einem anderen reden hören, sondern nur wenn Du der Angeredete bist“246, bringt die Konsequenz zum Ausdruck, die in dieser evozierenden Dynamik des Betens liegt. Es ist die Konsequenz, dass der Betrachter selbst von dem Geschehen angegangen ist, dessen er zunächst scheinbar nur neutraler Zeuge wird. Wo der Betrachter dann jedoch im anderen betenden Menschen (oder auch nachträglich seinen eigenen Gebetsmomenten) seine eigene Möglichkeit sieht, zu der er sich unvermeidbar selbst verhalten muss, da wird ein Prozess sichtbar, der den Betrachter in eine unabschließbare Begegnung mit dem Phänomen Gebet ‚hineinruft‘, die seine Freiheit gleichermaßen evoziert wie involviert. So könnte man sagen, dass die Gebetsmanifestationen gerade keine neutralen Vorfindlichkeiten sind, sondern vielmehr Ausdruck einer mit Relevanz berührenden Wirklichkeit, die werbend und zur Entscheidung drängend nahe tritt. Wo betendes Menschsein begegnet, da evoziert es in der Betrachterin und dem Betrachter die Frage, wie sie oder er selbst sich dem gegenüber verhalten soll. Warum ist dem so? Vorausblickend sei darauf hingewiesen, dass diese innere Virulenz betenden Menschseins, wo man den metaphysischen Verstehenszugängen Edith Steins folgen mag, darin gründet, dass erkannte und gelebte Wahrheit („verum“ et „bonum“) eine starke Ausstrahlung entfaltet, die man in einem grundlegenden Sinne als Attraktion mit ästhetischer Tiefe begreifen kann. Diese Attraktion ist ein Affiziertsein von einem „splendor“, einem Glanz247, der ins Auge fällt als „pulchrum“.248 Wo dem Betrachter angesichts eines anderen betenden Menschen etwas von dieser Wahrheit einleuchtet, dort ist er von ihr zumindest angezogen und affiziert, auch wenn diese geistliche Radiation momentan ohne sichtbare Konsequenzen bleiben kann. Dass es gleichwohl werbenden Charakter hat, wo betendes Geschehen ins Blickfeld rückt, das liegt unabhängig von einer religiösen Begründung im engeren Sinne daran, dass jedwede erkannte Wirklichkeit anziehenden Charakter249 hat und das erkennende Subjekt „fasziniert“, insofern es sich als vom Gegenüber des Erkennens zu weiterer Erkenntnis eingeladen erfährt.250 Auf diese Dimension aller begegnenden Wirklichkeit als Gabe251, deren Gestalt sich dem Menschen offenbart, hat Hans Urs von Balthasar mit Rückgriff auf den Gestaltbegriff Goethes hingewiesen.252 Da im Abschnitt 4.2. über den Gestaltbegriff davon noch ausführlicher die Rede ist, sei hier nur vorblickend darauf verwiesen.

4.1.5 Statt einer Definition: Deskription eines Grundaktes menschlicher Freiheit

Angesichts der beschriebenen Transzendenz der beiden im betenden Geschehen involvierten Begegnungspartner und angesichts des beständig fortschreitenden, nur zum Teil sich sichtbar manifestierenden Geschehens, ist eine abschließend und vorwegnehmend-umfassende Definition dessen, was ‚Beten‘ in Summe beinhaltet, nicht angestrebt. Stattdessen wird im Folgenden als Horizont der angestrebten Sichtung von einer personalen, für Alterität und Diachronie sensiblen Begegnung zwischen Mensch und in besonderer Weise personal verstandenem göttlichem Gegenüber ausgegangen, die sich im Raum der Sprache im weitesten Sinne entfaltet und als Freiheitsgeschehen253 vollzieht. Jedes einzelne Gebet ist in dieser Perspektive eine Aktualisierung des Grund-Verhältnisses, in dem der aus Gnade zur Freiheit freigesetzte254 und berufene Mensch sich dem gründenden Grund seiner Autonomie bewusst zuwendet, diesen darin als „Du“ anspricht, und darin den Grund als personales Gegenüber erfährt.255 Beten erscheint so als „Grundakt“ des Menschen, das ein basales Verdanktsein anerkennt und daraus lebt.256

Die oben konturierte Arbeitshypothese ist als Rahmen für eine beschreibende Annäherung an das Vollzugsganze des Betens erkennbar nicht voraussetzungslos und nicht ohne inhaltliche Bestimmung. Aber sie ist in ihrer Weite der Autorin Edith Stein angemessen und geeignet, ihrer Diktion mit Blick auf das Gebet entsprechen zu können, was nachstehend belegt werden soll. Die Möglichkeit, das religiöse Geschehen als besonderes, dialogisches Sprachgeschehen zu verstehen, ist im jüdisch-christlichen Kontext angelegt, dem Edith Stein und ihr Beten zugehörten. Diese vom sprachlichen Charakter257 ausgehende Sicht auf das Gebet ist von daher geeignet, als erster Ausgangspunkt für einen verstehenden Zugang zur ihrem Gebetsleben zu fungieren. Dabei umfasst „Sprache“ all das, was sich an Kommunikationsgeschehen auf allen Ebenen zuträgt. Schweigen und Stille sind Teil davon, ebenso wie das ganze Spektrum nonverbaler Sprache258 im Sinne von Gebärden und körperlich-leiblichen, raum-zeitlich und sozial interagierenden Ausdrucksformen.259 Mit Sprache als einem Existential des Menschen ist zugleich angedeutet, dass Beten in einem existentiellen Horizont gesehen und vor diesem Hintergrund beschrieben werden soll als Artikulation seiner gesamten Lebensvollzüge.

Von daher ist der Gebrauch der Worte „Beten“ und „Gebet“ im Verlauf meiner Studie betont deskriptiv zu verstehen und in diesem Sinne in formaler Weise. Beide Worte mögen von daher als Anzeiger verstanden werden für den Versuch einer beschreibenden Explikation dessen, was dem Menschen im Grundakt des Betens geschieht, und zwar als sich in der Zeit und dem Raum der Sprache Ereignendem.

 

Die Selbstbeschränkung im ersten Teil meiner Studie, sich chronologisch in strikter Weise auf das jeweils im Lebensabschnitt der Edith Stein örtlich, zeitlich und formal nach außen hin Beschreibbare zu konzentrieren, ohne mit einem womöglich engführenden Gebetsbegriff dabei Einzelmomente auszuschließen, das scheint mir vor dem Hintergrund des Dargelegten das Angemessenste, was mit Blick auf den Gegenstand des Interesses möglich ist. Bei allem Gebrauch, der von „Beten“ und „Gebet“ in der vorliegenden Studie gemacht wird, sei daher stets mitgehört, dass vor allem eine beschreibende Entfaltung dessen gesucht wird, was kontinuierlich und wesentlich von einem transitiven und verborgenen Moment zuinnerst charakterisiert wird. Was im Zuge der Untersuchung formuliert wird, das ist nur richtig verstanden, wo es zugleich mit dem Illustrieren von Sachverhalten, Ereigniszusammenhängen und Entwicklungstendenzen den Geheimnischarakter des betenden Geschehens bewahrt. Nur in dieser Haltung scheint es möglich, den göttlichen Interaktionspartner und seinen Anteil am Beziehungsgeschehen von Anfang an angemessen sprachlich zu würdigen, nämlich in der Abstinenz von feststellenden Begriffen und der Vorsicht bei systematisierenden Aussagen. Wo das im Ansatz entschieden vermieden wird, und es unterbleibt, dass vorgängig zur Begegnung an den wesentlich unfassbaren Gegenstand unreflektiert ein Begriffsapparat herangetragen wird, dort mag in aller Beschreibung etwas durchscheinen können von dem betenden Geschehen, das zwar den Betenden und den interessierten Beobachter gleichermaßen betrifft, aber keinem zuhanden ist – am wenigsten dem, der nachträglich dieses Geschehen aus Zeugnissen vergangener Tage erhellen möchte. So mag im Gesamtduktus dieser Studie von Beginn an methodische Beachtung finden, was in den Spätschriften Steins zu Pseudodionysius Areopagita und ihrem Ordensvater Johannes vom Kreuz mit Blick auf die radikale Andersheit und Entzogenheit des göttlichen Begegnungspartners ins Wort gelangt.

4.2 Zum Begriff Gestalt

4.2.1 Bedeutung und Funktion des Gestaltbegriffs bei Hans Urs von Balthasar

Der Begriff Gestalt „zählt zu den Grundbegriffen einer philosophischen Ästhetik […].“260 In dieser Disziplin kann er Thomas Schärtel zufolge gelten als „die Basiskategorie einer auf eidetische/optische Modelle oder Analogien kaprizierten Ästhetik“.261 Schon im Kontext einer philosophischen Ästhetik wird der besondere Bezug augenfällig, bei dem der erkennende Mensch im Gewahrwerden einer Gestalt vom begegnenden Gegenüber affiziert wird. Dies geschieht, insofern die Distanz zum Begegnenden sowohl wachgerufen als auch auf den ersten Blick paradoxerweise zugleich schon überbrückt wird. Dabei entsteht ein Näheverhältnis der „Schau“ zum Begegnenden, das dem Betrachter Kategorien in den Sinn hebt, die eigentlich menschlichen Subjekten zukommen. Der Gestaltbegriff insinuiert somit eine spezielle Qualität der entstehenden Verschränkung von erkennendem Subjekt und dem, was diesem begegnet.

Doch erst im Rahmen einer theologischen Erkenntnislehre (und einer entsprechenden theologischen Ästhetik) und vermittelt in fundamentaltheologischen Entwürfen, kann dieser Begriff zu einer theologischen Kategorie werden, die für unsere Fragestellung nach der Gestalt des Betens bei Edith Stein von erhellender Bedeutung ist.262 Die hier und im weiteren Verlauf der Studie folgenden Überlegungen lenken den Blick ausgehend vom Gestaltverständnis Hans Urs von Balthasars263 auf die erscheinende Gestalt des betenden Geschehens bei Edith Stein. Die Balthasarsche Optik soll somit als „Sehhilfe“ herangezogen werden, um die betende Existenz der Edith Stein als spezielle Form der Christusnachfolge zu beschreiben, die sich im Raum der Kirche als Ausdruck der Mitwirkung an göttlicher Liebe entfaltet. Das theologische Werk Hans Urs von Balthasars ist allerdings überaus umfangreich.264 In seinen thematischen Ausführungen ist es weiträumig angelegt und vielschichtig entfaltet. Das gilt sowohl in verschiedenen Schaffensphasen als auch insgesamt gesehen, wenn sich auch Schwerpunkte benennen lassen, die jeweils besonders virulent sind.265 Die Gefahr, sich bei der Darstellung Balthasarscher Positionen und wichtiger Begriffe seiner Theologie in Einzelaspekten zu verlieren, ist daher ebenso groß wie diejenige, sein originelles Anliegen unangemessen zu verkürzen und auf diese Weise zu verfehlen. Gleichwohl muss sich meine Darstellung an dieser Stelle darauf beschränken, aus dem Gesamten seines Entwurfs lediglich diejenigen Aspekte des Gestaltverstehens schlaglichtartig und verdichtet zu benennen, die mir für meine Fragestellung von besonderer Bedeutung zu sein scheinen. Im weiteren Verlauf meiner Studie kann vor diesem Hintergrund dann der Balthasarsche Ansatz einer christologisch gewendeten Gestaltphänomenologie verständlicher als Matrix beschrieben werden, auf der die einzelnen Gebetsmomente im Leben der Edith Stein zusammenschauend gesichtet und verstanden werden können.

Von besonderem Interesse ist dabei, wie Hans Urs von Balthasar den Begriff „Gestalt“ in theologischer Perspektive verwendet.266 Zu beachten ist, dass es ihm dabei „nicht um eine Ästhetisierung der Theologie“ geht, „sondern um die Ausarbeitung einer theologischen Wahrnehmungslehre. […] Die Haltung ehrfürchtigen Staunens, die bereit ist, ein Phänomen spontan aufzunehmen, liefere eher eine Analogie dafür, wie man sich der Offenbarung zu nähern habe. Balthasar setzt ganz auf das Vermögen rezeptiver Spontanität: Wer im Glauben die geschichtliche Offenbarungsgestalt der Liebe Gottes ‚erblicke‘, der werde über sich hinausgezogen, gleichsam ekstatisch ‚entrückt‘.“267 Er selbst formuliert es in prägnanter Kürze so: „Das Hauptpostulat meines Werkes ‚Herrlichkeit‘ war die Fähigkeit, eine ‚Gestalt‘ in ihrer zusammenhängenden Ganzheit zu sehen: der goethesche Blick sollte auf das Phänomen Jesu und die Konvergenz der neutestamentlichen Theologien angewendet werden.“268 So wird für Baltasar der Gestaltbegriff zum zentralen Moment an seiner theologischen Ausrichtung: „Ich studierte in Wien nicht Musik, sondern vor allem Germanistik, und was ich dort lernte, war das, was sich später in meinem theologischen Schrifttum ins Zentrum stellte: Das Erblicken-, Werten- und Deutenkönnen einer Gestalt, sagen wir: den synthetischen Blick (im Gegensatz zum kritischen Kants, zum analytischen der Naturwissenschaft), und dieses Gestaltdenken verdanke ich dem, der nicht abließ, aus dem Chaos von Sturm und Drang auftauchend, lebendige Gestalt zu sehen, zu schaffen, zu werten: Goethe. Ihm danke ich dieses für alles Hervorgebrachte Werkzeug.“269 Hans Urs von Balthasar greift somit entschieden auf Goethe270 zurück, um seinen Gestaltbegriff im Bereich der Theologie zu entwickeln.271 In einem Interview spricht er ausdrücklich von dieser Wahl: „Rahner hat Kant oder, wenn Sie wollen, Fichte gewählt, den transzendentalen Ansatz. Und ich habe Goethe gewählt, als Germanist. Die Gestalt, die unauflöslich einmalige, organische, sich entwickelnde Gestalt – ich denke an Goethes ‚Metamorphose der Pflanzen‘- diese Gestalt, mit der Kant auch in seiner Ästhetik nicht wirklich zu Rande kommt.“272

Auch Edith Stein bezieht sich wiederholt in ihren Publikationen auf Goethe273 und stellt in ihren philosophischen Studien Betrachtungen über Naturphänomene an274, zu denen sie von der Phänomenologin und langjährigen Weggefährtin Hedwig Conrad-Martius inspiriert ist.275 Eine auffällige Parallele zwischen der Frau aus Breslau und dem Weimarer Literaten. Für die Fragestellung dieser Studie bleibt festzuhalten, dass der Zugang zur Gestalt ihres Betens über den von Balthasar theologisch formulierten Gestaltbegriff Edith Stein insofern angemessen ist, als beide wesentliche Anregungen von Goethe erhalten haben. Von daher ergibt sich eine gemeinsame Wurzel der beiden germanistisch gebildeten und in philosophisch-theologischer Perspektive an Fragen des Seins interessierten Geistesgrößen Edith Stein und Hans Urs von Balthasar.

Bei Balthasar fungiert nun der Gestaltbegriff als theologische Aussageform dazu, Momente am christlichen Offenbarungsgeschehen so ins Wort zu bringen, dass der kommunikativ-dialogische und fortschreitende Charakter von Offenbarung als religiöser Erfahrung des Menschen einsichtig wird und zudem der Zusammenhang zwischen („schöner“) Form und Gegebenheitsweise des Begegnendem und dessen („wahrem“) Inhalt.276 Ein religiöses Geschehen kann somit unter der Hinsicht auf seine Gestalt sowohl in seinem Verlauf als auch hinsichtlich seiner inneren Zielrichtung zur Sprache kommen, bei der Form und Inhalt aufs engste zusammen gehören. Letzteres wird von Hans Urs von Balthasar umfassend versucht im Rahmen seiner für ihn typischen Arbeitsmethode. Peter Henrici skizziert diesen theologischen Stil, der in den Werken Balthasars immer aufs Neue zur Anwendung kommt: „Der dichte kulturelle Hintergrund und seine Herkunft aus der Germanistik bestimmten B.s unverwechselbare (u. unnachahmliche) theol. Methode: Die einfühlende Darstellung und Deutung großer Gestalten der Trad. wie der Ggw. macht diese durchsichtig auf das Christlich-Wesentliche hin, während dieses Wesentliche umgekehrt immer nur in der Spiegelung in Texten und Gestalten faßbar wird – ‚das Ganze im Fragment‘.“277 Henrici kann daher zusammenfassend feststellen: „Ihrer Inspiration und Herkunft nach könnte man B.s Methode als theol. Phänomenologie bezeichnen.“278

Im Rückblick auf die Entfaltung des ersten Teils seiner mit „Herrlichkeit“ betitelten dreibändigen theologischen Ästhetik kommt Balthasar im dritten Band resümierend auf den Begriff der Gestalt zu sprechen.279 Ausgehend von der Vielfalt menschlicher Erfahrungen, die sich in großen Beispielen der Weltliteratur spiegeln, führt er aus: „Hier wo in verschiedenen Graden der Deutlichkeit das je Ganze des Seins am einzelnen Seienden aufleuchtet, bietet sich der Begriff der Gestalt an. Er meint eine als solche erfaßte, in sich stehende begrenzte Ganzheit von Teilen und Elementen, die doch zu ihrem Bestand nicht nur einer ‚Umwelt‘, sondern schließlich des Seins im ganzen bedarf und in diesem Bedürfen eine (wie Cusanus sagt) ‚kontrakte‘ Darstellung des ‚Absoluten‘ ist, sofern auch sie auf ihrem eingeschränkten Feld seine Teile als Glieder übersteigt und beherrscht.“280 Mit Bezug auf Goethe und dessen Verständnis von Erhabenheit fährt Balthasar fort: „Alles begegnende Wirkliche ist in analogischen Abstufungen gestalthaft, wobei die ‚Höhe der Gestalt‘ beurteilt wird nach der größeren Macht der Einheit, gleiche Mannigfaltigkeit zu versammeln (Ehrenfels), aber alle geistig erblickbaren Gestalten über sich auf das vollständige und vollkommene Sein verweisen, das nach Goethe ‚von uns nicht gedacht werden kann‘. Das Licht, das aus der Gestalt bricht und sie dem Verstehen öffnet, ist somit untrennbar Licht der Form selbst (die Scholastik spricht deshalb vom splendor formae) und Licht des Seins im ganzen, worin die Form badet, um überhaupt einshaft Gestalt haben zu können. Mit der Immanenz steigt die Transzendenz. Ästhetisch gesprochen: Je höher und reiner eine Gestalt, desto mehr bricht das Licht aus ihrer Tiefe hervor und desto mehr verweist sie auf das Lichtgeheimnis des Seins im ganzen. Religiös gesprochen: je geistiger und selbständiger ein Wesen ist, um so mehr weiß es in sich um Gott und umso klarer verweist es auf Gott.“281 Mit Blick auf die bibilische Offenbarung, die in der Menschwerdung gipfelt, weist Balthsar schließlich hin auf die der einzelnen Gestalt innewohnende Dimension des Verweisens über sich hinaus: „Somit bedient sich das absolute Sein, um sich in seiner unergründlichen personalen Tiefe kundzutun, der Weltgestalt in ihrer Doppelsprache: unaufhebbarer Endlichkeit der Einzelgestalt und unbedingtem, transzendierendem Verweis dieser Einzelgestalt auf das Sein im ganzen.“282 Das erscheinende Phänomen ist dabei zugleich gelichtet und bleibt doch dem integrierenden, sich eneignenden Verstehen entzogen. Es kann vom erkennenden Subjekt nicht eingeholt werden, da es ihm mit der Qualität eines „Wunders“ begegnet. Das gilt in verdichteter Form von der personalen Begegnung: „Eine mir geschenkte Liebe kann ich je nur als ein ‚Wunder‘ verstehen, empirisch oder transzendental aufarbeiten kann ich sie nicht, auch nicht aus dem Wissen um die gemeinsam umgreifende Menschen – ‚Natur‘; denn das Du ist der je Andere mir gegenüber. Der zweite Ansatz liegt im Ästhetischen, das neben Denkhaltung und Tathaltung eine dritte, nicht rückführbare Späre darstellt. Bei Erfahrungen ausgezeichneter Schönheit – in Natur wie in Kunst – wird das sonst mehr verhüllte Phänomen in seiner Unterscheidbarkeit greifbar: Was uns entgegentritt, ist überwältigend wie ein Wunder und darin vom Erfahrenden niemals einzuholen, besitzt aber gerade als Wunder eine Verstehbarkeit: es ist fesselnd und befreiend zugleich, wie es sich unzweideutig als ‚erscheinende Freiheit‘ (Schiller) von innerer unbeweisbarer Notwendigkeit gibt.“283

 

4.2.2 Eingestaltung in Jesus Christus und Teilhabe an seiner Sendung der Liebe

Die offenbarungsexplikatorische Funktion, die der Gestaltbegriff bei Balthasar hat, erlaubt dem Basler Autor, (metaphysisch-)philosophische und theologische Sichtweisen mit Blick auf das Christusereignis284 und seine ekklesiologische Bedeutung zu integrieren.285 Der Gestaltbegriff ermöglicht ihm, die spezielle Form der Teilhabe der Gläubigen am Christusereignis zu illustrieren. Diese sind ihm zufolge dazu berufen, der in Christus erschauten Gestalt ‚eingestaltet‘ zu werden. Karl-Heinz Menke führt dazu aus: „Wäre der Erlöser nur ein geistiges, geistliches oder sittliches Vorbild, dann wäre seine Geschichte (sein ‚concretum‘) nur ein Beispiel, nicht aber die Bedingung der Möglichkeit bzw. die Norm (das ‚universale‘) jedes Christen. Christ – so betont Balthasar – wird man nicht durch Nachahmung, sondern durch die vom Heiligen Geist bewirkte Eingestaltung der eigenen Existenz in die des Erlösers.“286 Ziel dieser Eingestaltung ist es, am ‚Sohnesgehorsam‘ Jesu Christi gegenüber der vom göttlichen Vater erhaltenen Sendung Anteil zu erlangen und dieser Sendung aus Liebe zu entsprechen. Für Balthasar ist dieser vertrauensvolle Gehorsam Jesu Christi gegenüber seinem himmlischen Vater das Proprium, das ihn zuinnerst kennzeichnet: „Das Wo des Sohnes, das seinen Stand festlegt, ist also, mag er sich im Schoße des Vaters oder auf den Wegen der Welt befinden, stets eindeutig: es ist die Sendung, der Auftrag, der Wille des Vaters. Hier ist er jederzeit anzutreffen, weil er der Inbegriff der väterlichen Sendung selbst ist.“287 Entsprechend formuliert John O’Donnell: „Wenn es einen Schlüssel gibt, der das Geheimnis der Identität Jesu erschließt, so ist dies für Balthasar der Gehorsam Jesu gegenüber seinem himmlischen Vater.“288 Was vom Basler Theologen mit Gestalt programmatisch gemeint ist, erschließt auch einen Zugang zum Verständnis seiner voluminösen, 16 Bände umfassenden „Trilogie“289, die sein über nahezu drei Jahrzehnte gewachsenes Hauptwerk darstellt. Die Rede von Gestalt ist ihm dabei Teil einer besonderen Bestimmung von Fundamentaltheologie290 als „Erblickungslehre“ und von Dogmatik als „Entrückungslehre“. So muss Balthasar zufolge „eine theologische Ästhetik sachgerecht in zwei Zeiten entwickelt werden. Sie umfasst: 1. die Erblickungslehre – oder Fundamentaltheologie; Ästhetik (im kantschen Sinn) als Lehre von der Wahrnehmung der Gestalt des sich offenbarenden Gottes. 2. Die Entrückungslehre – oder dogmatische Theologie; Ästhetik als die Lehre von der Menschwerdung der Herrlichkeit Gottes und von der Erhebung des Menschen zur Teilnahme daran. Es könnte als spielerisch erscheinen, daß der Begriff Ästhetik in dieser doppelten Bedeutung verwendet wird. Aber ein wenig Überlegung zerstreut das Bedenken, gibt es doch keine theologische Wahr-nehmung außer in der lux tuae claritatis, in der Gnade des Sehen-lassens, die selber schon objektiv zur Entrückung gehört und subjektiv die Hingerissenheit des Menschen zu Gott wenigstens einleitet. In der Theologie gibt es keine ‚bloßen Fakten‘, die man ohne jede (objektive und subjektive) Ergriffenheit und Teilnahme (participatio divinae naturae) wie irgendwelche weltlichen Fakten sonst feststellen könnte, in der angeblichen Objektivität des Teilnahmslosen, Unbeteiligten, Sachlichen. Denn die objektive Sache, um die es geht, ist die Teilnahme des Menschen an Gott, die sich von Gott her als ‚Offenbarung‘ (bis zur Gottmenschheit Christi), vom Menschen her als ‚Glaube‘ (bis zur Teilnahme an der Gottmenschheit Christi) verwirklicht. Diese doppelte beidseitige Ekstase – Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott – ist schlechterdings der Inhalt der Dogmatik, die deshalb mit Recht als Entrückungslehre darstellbar ist, als das admirabile commercium et conubium zwischen Gott und Mensch in Christo Haupt und Leib“291

Der Gestaltbegriff dient Balthasar somit zur Explikation seiner Christologie, die er in ästhetischer Perspektive zu erhellen sucht. Dazu bemerkt John O’Donnell: „Einer von Balthasars Hauptbeiträgen zur Christologie ist sein Versuch, ästhetische Kategorien zur Erleuchtung des Geheimnisses Christi anzuwenden. Für Balthasar besteht die ästhetische Erfahrung im Wesentlichen aus zwei Dimensionen: Der Form, mit ihrer Harmonie, Proportion, und ihrem Maß, und der Ekstase, wenn der Betrachter in die Form hineingezogen wird. Wichtig ist hier, daß die Einheit der Form ihre Teile transzendiert. Die Wahrnehmung der Form besteht darin, die Ganzheit der Form zu erkennen, die mehr ist als die Summe ihrer Teile.“292 Die Balthasarsche Trilogie kann im Ganzen als christologische Explikation gelesen werden, die in jedem ihrer Teile vom geschichtlich und kirchlich sich vermittelnden Christus ausgeht und ihn in den Mittelpunkt stellt. Auf die Schau dieser Gestalt richtet sich der Blick immer neu: „Balthasar beginnt seine Trilogie nicht mit einem ‚philosophischen Ansatz‘, sondern mit einem Blick auf das Phänomen ‚Jesus Christus‘. Am Anfang (Herrlichkeit) steht das Staunen über die ‚Lichtung des Ganzen in der Gestalt diesen Einen‘ […] In der Mitte der Trilogie (Theodramatik) steht die Erklärung der ‚Herrlichkeitsgestalt‘ Jesu Christi als des Stellvertreters, der für alle Menschen aller Zeiten etwas getan hat, was keiner selbst leisten kann, und der jeden, der sich von ihm ergreifen lässt, auf einmalige Weisung in seine Sendung eingestaltet. […] Und am Ende der Triologie (Theologik) steht eine am Phänomen der ‚Herrlichkeitsgestalt‘ Jesu Christi abgelesene Logik Gottes. Sie ist aus keinem Apriori des Menschen ableitbar, gleichgültig, ob dieses Apriori als ‚tranzendentale Erfahrung‘ (Rahner) oder als ‚existentielle Betroffenheit‘ (Bultmann) beschrieben wird“.293

Ilkamarina Kuhr umreißt die Bedeutung des Gestaltbegriffs bei Balthasar zusammenfassend: „Die Gestalt avanciert in Balthasars theologischer Ästhetik zur systematischen und hermeneutischen Grundkategorie. Sie unterstützt sowohl deren Sachanliegen, den Glanz der Herrlichkeitsgestalt Gottes in seiner Entäußerung am Kreuz aufscheinen zu lassen und als phänomenale Mitte der Offenbarung in Welt und Geschichte auszuweisen, als auch deren hermeneutischen Zugang, sich kontemplativ auf jenes von sich selbst her erscheinende Phänomen einzustimmen. In ihr fallen Inhalt und Methode der Offenbarungstheologie zusammen.“294 In die gleiche Richtung weisend formuliert Yves Tourennes: „Gestalt ist ein Umriß, eine feststellbare Form, tiefer noch eine ursprüngliche, fest bestimmte Einheit, die eine Vielzahl von Aspekten, Elementen oder Gliedern eint und einbezieht. Sie läßt sich sehen: Schau der Gestalt, das ist die Basis, worauf die ganze Theologie ruht; indem die Gestalt sich zeigt, liefert und ‚sagt‘ sie sich aus, verstrahlt das Innerlichste ihrer selbst.“295

4.2.3 Einbezug in die exklusive Stellvertretung Jesu Christi

Zentral ist für Balthasar sein Verständnis der inklusiven Teilnahme der Gläubigen an der alle anderen Stellvertretungen begründenden, exklusiven Stellvertretung Jesu Christi, die ihm der Schlüssel zum Verständnis kirchlicher Existenz als Nachfolge Jesu Christi wird.296 In der Teilhabe an der exklusiven Stellvertretung Jesus Christi kommt das Geschehen der Eingestaltung in das Sein des Erlösers an ihr Ziel: „Balthasar beschreibt den Übergang vom ersten (Theo-Ästhetik) zum zweiten Teil (Theo-Dramatik) seines Hauptwerkes als Transformierung eines zweidimensionalen in ein dreidimensionales Bild. Indem er aus der Welt des Theaters Analogien für die Schilderung des einzigartigen Dramas zwischen Gott und Mensch erhebt, spricht er von einer Bühne für das Drama der Weltgeschichte. Gott ist in Christus nicht nur der Autor und Regisseur, sondern auch der Ausführende dieses Dramas. Dennoch ist der einzelne Mensch nicht seine Marionette. Christi Stellvertretung eröffnet den Spielraum für mitspielende Personen, und zwar so, daß diese in dem Maße nicht nur scheinbar, sondern wirklich frei sind, indem sie die Rolle spielen, die ihnen zugedacht ist. Jede Rolle ist eine je einmalige Explikation der Sendung des Erlösers. Balthasar spricht von der exklusiven Sendung und Stellvertretung des Erlösers und den vielen Sendungen und inklusiven Stellvertretungen der Erlösten.“297 Philosophisches und theologischen Denken konvergieren bei Balthasar in der beschriebenen Denkfigur der inklusiven Stellvertretung: „Denn als Stellvertreter verhält sich Jesus Christus zu jedem einzelnen Menschen so ähnlich wie der eingangs beschriebene actus essendi (das nichtsubsistente Sein) zu jedem einzelnen Seienden.“298 Insofern ist für den Basler Theologen jedwede Ekklesiologie immer nur als Entfaltung von Christologie denkbar: „Es gibt keine Ekklesiologie, die nicht Christologie wäre.“299 Da für Balthasar alles Kirchliche im Christusereignis bleibend fundiert und von dort her je und je neu getragen ist, plädiert er für eine grundlegende Selbstrelativierung beim Verstehen und Sprechen von der Kirche.300 Diese gründet nicht in sich, sondern in Christus: „Recht verstandene Ekklesiologie muß, um sich echt zu begründen, sich immer erst aufgehoben haben.“301 Nur wo ihre Bezogenheit auf Jesus Christus zu Gesicht kommt, kann eine adäquate Sicht auf die Kirche erlangt werden: „Die Kirche hätte, wollte man einen Augenblick von ihm absehen und sie als eigene Gestalt betrachten und zu verstehen versuchen, nicht die geringste Plausibilität. […] Sie verliert im Gegenteil so jede Glaubwürdigkeit, weshalb die Kirchenväter ihr Licht häufig mit dem von der Sonne geborgtem Licht des Mondes (das seine Relativität ab deutlichsten anzeigt) verglichen.“302