Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

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4.2.4 Sein als Liebe und Beten als Anerkenntnis göttlicher Liebe

Die derart begriffene Nachfolge Jesu Christi als Teilhabe an seiner Stellvertretung und Inklusion in seinen Sohnesgehorsam ist Balthasar Ausdruck und höchste Verwirklichungsform des menschlichen Seins als Liebe. Peter Henrici sieht darin den Schlüssel zum Werk Balthasars: „Sein ist nur als Liebe verständlich; Seinsphilosophie weist über sich hinaus auf eine Philosophie der Liebe […] Das alles ist mehr als ‚personale Ontologie‘ (oder gar oberflächlicher ‚Personalismus‘); es ist mehr als bloße Dialogik: Metaphysik der Liebe, die sich im Gegenlicht einer Liebestheologie abzeichnet. Liebe ist das einzig ‚Glaubhafte‘, weil sie das einzig wirklich Verstehbare, ja das einzig ‚Vernünftige‘ ist: ‚id quo majus cogitari nequit‘; denn ihr Wunder liegt je schon über alles Erdenkliche hinaus und ist doch nicht weniger wirklich, ja der Grund zu allem Wirklichsein. Hier liegt, offen-verborgen, der Schlüssel zu Balthasars Werk und deshalb auch zu seiner Philosophie. Erst wenn es gelingt, das Sein als Liebe zu verstehen – und zwar ineins als Armut des Eros und als selbstloses Sich-Verschenken –, erst dann ordnen sich die Perspektiven dieses kaum überschaubaren Denkens zu einer schlichten und eindrücklichen Gestalt. Weil das Sein Liebe ist, deshalb steht im Zentrum der Triologie nicht die Ästhetik, sondern die Dramatik.“303 Im Zentrieren der theologischen Diktion auf das in Jesus Christus unüberbietbar anschaulich-konkrete und universal bedeutsame Phänomen „Liebe“ ist ein wesentlicher Beitrag Balthasars für die Fragestellung nach der Gestalt des Betens bei Edith Stein zu sehen. Dies insofern Balthasar nämlich vom Phänomen der Liebe her eine relationale und aus trinitarischen Bezügen hergeleitete Anthropologie entwickelt,304 die auch bei Edith Stein aufgewiesen werden kann und die im Zentrum ihres religionsphilosophischen Hauptwerkes steht.305

In Balthasarscher Sicht ist der Mensch dazu berufen, sich von der Liebe, die innertrinitarisch anhebt, und ihm in Christus vermittelt nahe kommt, anstecken zu lassen, um schöpferisch daran mitzuwirken. Dabei lässt er sich in die unfassbare Distanz, den „Hiatus“, der den göttlichen Sohn vom ewigen Vater „trennt“, sofern er von ihm innergöttlich gezeugt wird, hineinnehmen und in die Rückkehrbewegung des Sohnes zum Vater integrieren. Dazu führt Balthasar in seinem Werk „Das betrachtende Gebet“ aus: „Aber Christus kehrt aus aller sinnlich und geistig faßbaren Weltgestalt wieder zum Vater zurück, und hierdurch öffnet er erst den wirklichen Weg der Kontemplation: indem er die vom Vater redenden Bilder und Begriffe nicht so auf Erden hinterläßt, wie er sie zunächst als fleischlicher Mensch unter Menschen gesetzt hat, sondern sie – das ist der Inhalt der ganzen paulinischen Theologie – aus dem Irdisch-Buchstäblichen-Prophetischen ins Himmlisch-Geistig-Erfüllte empornimmt und übersetzt, und uns, als mit ihm zusammen Sterbende, Auferstehende und zum Himmel Fahrende in seiner eigenen Bewegung von der Welt zum Vater ermächtigt, die Verwandlung der alten in eine neue, geisthafte und göttliche Welt mitzuvollziehen.“306 Insofern nimmt der Mensch an der innergöttlichen Dynamik teil und lässt sich dabei von der Hingabe Jesus Christi und seinem Sohnesgehorsam dem liebenden Vater gegenüber tragen. Diese Haltung ist für Balthasar die Gestalt des christlichen Seins im Ganzen. Gestalt wird so zu einer lebenspraktisch relevanten Kategorie, zu einem Begriff, der die ganze menschlichen Existenz in ihrem Charakter als gottbegründete Sendung meint: „ ‚Gestalt‘ ist ein Verlegenheitsausdruck für diese geheimnisvolle Wirklichkeit, die das ideale Urbild des erlösten und glaubenden Menschen in Christus und doch zugleich seine wahre, eigentliche Realität ist, auf die hin der Vater ihn nunmehr ansieht und bewertet und von der her er als Glaubender zu leben aufgefordert ist. […] Wir können diese Gestalt des Christen, die zugleich reine Gnade des Vaters, die Gliedform des Menschen im mystischen Leib Christi, schließlich er selbst, der Mensch in seiner ganzen Konkretheit, aber innerhalb der Erlösung, ist: wir können diese Gestalt seine Sendung nennen. Das, wofür er seine Natur ganz zur Verfügung stellen und halten soll, damit sie in dieser Hingabe, in diesem Gottes-Dienst ihre eigene, höchst persönliche Erfüllung jenseits ihrer natürlichen und unvollkommenen Möglichkeiten finde. Das, worin sie unfehlbar über ihre eigenen Kräfte hinaus befähigt und fruchtbar werden wird. Das auch, worin der Mensch sich letztlich im Glauben verstehen wird, weil die Sendung christus- und damit wort-, logosförmige Gestalt hat. Wer seiner Sendung gehorcht, der erfüllt sein Wesen […].“307

Entsprechend hat auch das Beten für den Basler Theologen neben dem Moment der Anbetung als „absolute Anerkennung“308 eines „uneinholbar Größeren, Mächtigeren und Freigebig-Gütigeren als ich es bin“ den Charakter einer „Sendung“. Diese besteht zunächst darin, die Gabe seiner eigenen Freiheit anzuerkennen und zu aktivieren, in dem sich der Mensch sowohl dem göttlichen Grund seines Seins zuwendet, als auch dem göttlichen Heilswillen gegenüber der Welt. An letzterem mitwirkend, erfüllt der gläubige Mensch seine Gebetsmission. Er darf Balthasar zufolge darauf hoffen, dass Gott „unser Gebet und unsern Selbsteinsatz in seine Vorsehung miteinbezieht, und zwar nicht willkürlich, nicht nur dann, wenn es ihm paßt, sondern jedesmal, wo echtes, das heißt selbstlos hingegebenes Gebet zu ihm dringt.“309 Es wird sich im Verlauf meiner Studie zeigen, inwieweit Edith Stein in ihrer betenden Existenz ähnliche Momente ansichtig werden lässt. Eine trinitätstheologisch „unterfasste“, metaphysisch-theologisch entwickelte Christologie ist dabei in jedem Fall ein verbindendes Merkmal der theologischen Diktion sowohl Edith Steins als auch derjenigen von Hans Urs von Balthasar.310 Mit Blick auf den in Jesus Christus sich offenbarenden dreifaltigen Gott formuliert der Basler Theologe: „Von hier aus erhellt die für Christen unabdingbare Pflicht einer trinitarischen Kontemplation, die das, was Jesus uns an sich selbst zeigt und als nachahmbar empfiehlt, als das Hervortreten, ja Uns-Überfallen innergöttlichen Lebens versteht.“311

4.2.5 Integration der Gestaltüberlegungen in eine Gebetstheologie nach Auschwitz

Beispielhaft für eine grundlegende Infragestellung betont ästhetischer Zugänge zur (Gebets-) Theologie kann die Position von Johann Baptist Metz gewertet werden. In ihren konzeptionellen Grundzügen wurde sie bereits oben skizziert. Mit Blick auf die Gestalttheologie Balthasars wird die Metzsche Perspektive hier erneut eingenommen, um die Gefährdungen zu markieren, die mit der Diktion des Basler Theologen gegeben sein können.312 Auf dieser Basis mag im weiteren Fortgang der Untersuchung eine reflektierte Verwendung des Gestaltbegriffs möglich werden, der die Balthasarschen Anregungen kritisch reflektiert aufnimmt.

Wenn Metz eine betonte Ästhetisierung der Theologie kritisiert, will er dabei auf Gefahren aufmerksam machen, die ihm zufolge eine in sich geschlossene, gegenüber Brüchen und desintegrierbaren Momenten sich verweigernde, subjekt- und geschichtsvergessene Theologie stets als Begleiter bei sich hat. Eine solche Theologie sieht er durch eine betont dem „Schönen“ sich zuneigende Diktion noch stärker solchen Gefährdungen ausgesetzt. Sie weist in hohem Maße eine „Affirmationsfreudigkeit“313 auf und eine „Verblüffungsfestigkeit“,314 die sich gegenüber Nichtintegrierbarem verschließt. Nichtintegrierbares jedoch scheint Metz zufolge im Gebet auf als Klage und Sehnsucht, als Vermissen und Schrei. Es kann kaum erstaunen, dass vor allem Hans Urs von Balthasar in dieser Perspektive von Metz kritisch gesichtet wird.315 So moniert Metz an der Diktion dieses Theologen: „Kein Hauch von Unversöhntheit liegt über der Theologie! Keine Erfahrung von Nichtidentität, in der die ach so gewisse Rede über Gott in die ratlose Rede zu Gott umschlägt.“316 Mit Blick auf Hans Urs von Balthasar bemerkt auch Martha Zechmeister: „Denn so sehr die Theologie Balthasars als ‚geschichtliche‘ und ‚theodramatische‘ entworfen ist, so legt sie doch diese ‚Gottes-Geschichte‘ und dieses ‚Gottes-Drama‘ so aus, daß sie kaum von der Gebrochenheit und Katastrophizität der Weltgeschichte affiziert ist.“317

Die Gefahren solcher theologischen Ansätze bestehen für Metz schon darin, dass die in der biblischen Gebetssprache sich überdeutlich zeigenden Kategorien der „Frage“ und der leidgespannten „Klage“ als Ausdruck theologischer Rede grundlegend depotenziert werden, wo jedwedes Leid in der Gestalt Jesu Christi schon systematisch integriert gesehen und innergöttlich in trinitätstheologischer Perspektive „verewigt“ wird. Metz sieht das am Werke, wo Autoren geneigt sind, „mit explizit trinitätstheologischen Motiven“ die Theodizeefrage „auf eine innergöttliche Geschichte hin zu durchschauen und zu beschreiben“.318 Diese Tendenz erblickt er auch beim Basler Theologen: „[…] auf katholischer Seite vor allem bei Hans Urs von Balthasar […] spricht man vom leidenden Gott, vom Leiden zwischen Gott und Gott, vom Leiden in Gott. Ich kann mich nicht anschließen.“319

Tatsächlich sieht Balthasar bei Jesus Christus eine alle menschliche Verlassenheit grundlegend und qualitativ übersteigende „Gottverlassenheit, zu der er allein als der Sohn fähig ist, und die jede mögliche Hölle quantitativ unterfaßt“.320 Für Balthasar ist diese radikale Differenz allerdings begründet und situiert in der „innertrinitarischen Differenz zwischen Vater und Sohn“321 und ein Moment am umfassenden Heils- und Erlösungswillen Gottes, das der Basler Theologe nahe bringen will. Diese innergöttliche Trennung sieht Balthasar in soteriologischer Perspektive wirksam bei der Frage, wie die Qualität von „Hölle“ als gesteigerter Gottesferne überwunden werden kann, „nämlich nur an diesem Ort innerhalb der Differenz der Hypostasen“.322 Die Entfernung zwischen „Vater und Sohn weitet sich, um der Überwindung der ‚Hölle‘ in den trinitarischen Relationen willen, gleichsam in einer letzten Überdehnung: Gott – der Sohn – sucht in der letzten Finsternis der Sünde Gott – den Vater.“323 Balthasar kann daher jedes negative Moment der Geschichte und der Sünde als in der „innersten Positivität des trinitarischen Lebens“ bereits überwunden und „aufgehoben“ ansehen.324 Dort erblickt er ein Geschehen der innergöttlichen Selbstverherrlichung: „der Gang der Liebe ‚bis ans Ende‘ (Joh 13,1) ist als solcher Selbstverherrlichung.“325 Wo jedoch jedwedes menschliche Leid im Hiatus zwischen dem göttlichen Sohn und dem ewigen Vater innertrinitarisch situiert und von daher in seiner Perspektive schon total überwunden und erlöst angesehen wird, da werde Metz zufolge326 dem Abgründigen des menschlichen Leids nicht entsprochen und auch der Schrei Jesu Christi am Kreuz überhört. Metz befürchtet, dass dadurch die innere Virulenz des in der Klage sich manifestierenden Gebetsgeschehens auf diese Weise entschärft wird, dass diese Virulenz gleichsam in Gott „aufgehoben“ und dadurch in ihrer schmerzlichen Schärfe verdeckt wird. Dabei sieht er gerade im „Schrei“327 diejenige Anrede an Gott, die um seine baldige Initiative zur Rettung ruft und die den Horizont einer leidvoll gespannten Erwartung seines machtvollen Kommens immer neu wachhält. Dem gegenüber sieht er ästhetisierende Entwürfe in der Tendenz, sich gegen das menschliche Leid zu immunisieren und es zu integrieren, statt sich von ihm fundamental irritieren und unterbrechen zu lassen. Er sieht eine fatale Entspannung am Werke, wo es um das Gegenteil, nämlich eine apokalyptische Zeitsensibilität und eine gespannte, entsprechende Aufmerksamkeit gehe. In verdichteter Form fasst Maria Zechmeister zusammen: „Den zerstörten Antlitzen standhalten – und Gott-vermissen. Auf diese kürzeste Formel kann wohl die Karsamstagserfahrung im Kontext neuer Politischer Theologie gebracht werden.“328

 

Dieser von Metz durchgängig aufgeworfenen Anfrage an in sich geschlossene, theologisch-ästhetisch formierte Gedankengänge möchte sich die vorliegende Untersuchung stellen und in ihrem Duktus darauf Bezug nehmen. Das Anliegen dabei ist, die Darstellungsweise und theologische Begrifflichkeit Balthasars im Rahmen seines Gestaltverstehens so aufzugreifen, dass die genannten Gefährdungen möglichst vermieden werden. Nur wo es gelingt, die Gestalt des Betens der Edith Stein aufzuweisen, ohne dabei das Ersticken ihrer Stimme in Auschwitz vom Duktus der eigenen theologischen Darstellung her zuzudecken oder auszublenden, kann die Aussicht bestehen, eine Rede von der ‚Gestalt‘ ihres Betens im Munde zu führen, die nicht inadäquat wird. Wo der Versuch unternommen wird, die an Edith Stein aufscheinende Gebetsgestalt zu konturieren und aus sinndeutenden Horizonten zu erschließen, dort soll der Gedanke an die Brüchigkeit im Sinn bleiben, die dem Kapuziner Thomas Dienberg zufolge alle theologische Sprache und auch das Gebet nach Auschwitz auszeichnet. Er schreibt: „Die Sprache nach Auschwitz ist gebrochen, das Gebet nach Auschwitz ist gebrochen.“329 Eine Skizze der Gebetsgestalt unserer Autorin kann daher nur so gezeichnet werden, dass jener Bruch als geschichtliche Erschütterung die ausführende Hand des Zeichners berührt und dass diese Berührung in aller Darstellung von Gebetsmomenten der Edith Stein untergründig wirksam bleibt.

4.3 Zur Formulierung „Kirchliche Existenz“

In der Formulierung „kirchliche Existenz“ ist eine Verbindung von zwei mit Bedeutung gefüllten Wortfeldern geschaffen. Dadurch entsteht ein neuer semantischer Bedeutungsraum. Dieser ermöglicht, das Beten des Menschen Edith Stein zum einen raumzeitlich und zugleich geistlich zu verorten – im umfassenden Raum der Kirche. Zum anderen kann das Gebet als Ausdruck einer geschichtlich-einmaligen Erscheinungsweise, als menschlicher Daseinsakt verstanden werden – als Existenz. Edith Stein versteht unter Existenz „Ins-Dasein-gesetzt sein330. „Sie akzentuiert diesen Gebrauch des Begriffs in Absetzung zu Heidegger, “indem sie der Geworfenheit ins Dasein ihre Einsicht der darin gefundenen Geborgenheit zur Seite stellt“, wie René Raschke ausführt.331

Die Bezugnahme auf die Pole „Kirche“ und „Existenz“ will somit eine Sehhilfe sein, um die Optik für das Beten der Edith Stein zu schärfen, und zwar indem das erkundende Interesse der Untersuchung den Ort und die Art der Gegebenheit ihres betenden Menschseins stets im Blick zu behalten sucht. Durch die zweifache Rückbindung der Gestaltüberlegungen an die Referenzpunkte „Kirche“ und „Existenz“ versucht die vorliegende Studie somit, eine ungeschichtliche und darin ortlose und so ins Zeitlose entzogene Gestaltformulierung des Betens der Edith Stein schon im Ansatz zu vermeiden. Stattdessen soll mit den beiden Dimensionen „Kirche“ und „Existenz“ das, was an Gestaltformulierungen zum Beten der Edith Stein im Verlauf meiner Studie benannt wird, bleibend zurückgebunden werden an das geschichtlich Konkrete, wie es sich in der Biographie dieser Frau als Prozess und als Werden manifestiert hatte. Die gesuchte Rückbindung dient somit dazu, die Gestaltformulierungen gleichsam zu „erden“ und eine idealisierende Diktion zu vermeiden. Der Verfasser dieser Studie ist bei diesem Anliegen von Johann Baptist Metz und seiner Theologie angeregt, die besonders in frühen Phasen danach suchte, eine „nachidealistische Theologie“ zu verwirklichen.332

4.3.1 Kirche als „Klangraum“ und Existenz als „Tonart“ des Gebets der Edith Stein

Das Adjektiv „kirchlich“ verweist zunächst unmittelbar sowohl auf den geschichtlich-sozialen Entstehungsort als auch den geistlichen Lebensraum, in den hinein sich das betende Geschehen im Leben der Edith Stein entfaltet hat. Denn zugleich und verbunden mit der sichtbaren Dimension von Kirche ist auch die dem äußeren Blick entzogene, christologisch-pneumatologisch-eschatologische Dimension von Kirche gemeint. Diese ist „im Heiligen Geist geeint“, „dem Sohn Jesus Christus zugestaltet“ und darin im Modus der Pilgerschaft zum „Reich Gottes des Vaters berufen“, wie Medard Kehl mit Bezug auf die Kirchenkonstitution des II. Vaticanums formuliert.333 In diesen umfassenden, eschatologisch geöffneten Raum hinein wirkt das Beten der Edith Stein als geschichtliches Ereignis über ihren Tod hinaus weiter fort. Daher ist mit dem Referenzpunkt „Kirche“ auch der Raum der Wirkungs- und Entfaltungsgeschichte dessen angesprochen, was sich im Leben der Breslauer Philosophin bis hin zu ihrem Tod als Gebet zugetragen hat. In einem bildhaften Vergleich gesprochen markiert das Wort „Kirche“ somit gleichsam den „Klangraum“, aus dem heraus das betende Wort der Edith Stein bis zur heutigen Zeit verlautet. Dabei klingt und „ruft“ das Gebetswort und auf seine Weise das Schweigen der Edith Stein nicht nur aus diesem Raum heraus. Es ertönt auch in einem zeitversetzten Sinn in ihn hinein und in ihn zurück, wo es sich als geschichtliches Zeugnis den damaligen Zeitgenossen vernehmbar machte und darüber hinaus weiterhin bis heute vernehmbar macht.

„Existenz“334 als das zweite bedeutungsgebende Wort der Formulierung „kirchliche Existenz“ verweist auf die konkrete, raum-zeitlich situierte, individuelle Weise, in der die Entfaltung des Betens der Edith Stein sich ereignete und zur Erscheinung kam. Wie also das Wort „Kirche“ den Blick auf den Entstehungs- und Entfaltungsraum lenken will, so will der Begriff „Existenz“ auf die besondere Art hinweisen, wie etwas in diesen Raum als originäre menschliche Erscheinung eingetreten ist und darin weiter wirksam bleibt. Das obige Bild von der „Kirche“ als „Klangraum“ für das Beten der Edith Stein aufnehmend, könnte man entsprechend sagen, dass das Wort „Existenz“ gleichsam die ursprüngliche, individuelle „Klangfarbe“, seine „Tonalität“ und akustische „Fortdauer“ markiert, in der Beten bei Edith Stein im Raum der Kirche erschien und „zu Gehör“ gekommen ist.

Die Wortverbindung „kirchliche Existenz“ mag auch Sensibilität wecken für eine von vorne herein möglichst weiträumig angelegte Sicht des Gebets bei Edith Stein. Diese Sicht entgeht einer Einengung der Perspektive und Verkürzung der Sehweise auf das rein Individuelle, Private und Innerliche an ihrem Beten. Vielmehr öffnet eine von den Perspektiven „Kirche“ und „Existenz“ orientierte Sicht den Blick für den Aspekt des Gemeinschaftlichen und des sich nach außen hin im Raum der Kirche datierbar Zeigende ihres Betens. Wenn Edith Stein im philosophischen Denken den Einzelnen nie in Absehung von seiner sozialen Verwobenheit335 und gemeinschaftlich-staatlichen Verfasstheit336 begreift, sondern vielmehr direkt darauf bezogen und davon getragen, dann scheint es angemessen, entsprechend auch mit Blick auf ihr Beten vorzugehen und es mithin als soziales Geschehen im Raum der eschatologisch weit gefassten Kirche zu begreifen und von vorne herein auch so zu sichten. Denn es eignet dem Beten der Edith Stein ein durchgängig kirchlicher Zug: „Ihre Beziehung zur Kirche ist sehr lebendig, wobei die Kirche als Leib Christi ein bevorzugtes Bild war: Da hatte jedes Glied seine Aufgabe. Erstaunlich war, wie sehr sie die Kirche nicht als starre, sondern als geschichtsbezogene Wirklichkeit sah. […] Das Gebet – nicht nur das liturgische ist ein Gebet der Kirche, sondern auch das private – hat seine unersetzbare Bedeutung.“337

Edith Stein lässt eine (bisweilen in ihren Schriften implizite) Ekklesiologie erkennen, bei der zwei Merkmale auffallen: universale Weite und christologische Zentrierung. Beide Gravitationsfelder des Denkens und Sprechens von der Kirche hängen bei ihr zusammen. Das hat seinen Grund darin, dass ausgehend vom Gedanken einer universalen Bedeutung des Christusereignisses für alle Menschen,338 und der Überzeugung, als Glied am Leib Christi an der proexistenten Seinsweise des erhöhten Herrn für die Welt teilzuhaben,339 sich für Edith Stein eine weiträumig angelegte Ekklesiologie nahe legt, bei der Kirche als Moment an der Wirksamkeit Gottes in den Blick rückt. Daher kann sie 23. 3. 1938 an Adelgundis Jaegerschmid mit Blick auf Edmund Husserl schreiben: „Um meinen lieben Meister habe ich keine Sorge. Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, daß Gott sich an die sichtbaren Grenzen der Kirche binde. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.“340

4.3.2 Die Begriffe Existenz und Existenzphilosophie

Eine genauere inhaltliche Klärung dessen, was mit Existenz gemeint ist, steht am Ende der Begriffsklärungen, die zur Sichtung der Konturen des Betens im Leben der Edith Stein hinführen. Nachstehend wird in gebotener Kürze dargestellt, was mit Existenz bedeutet wird, und welche Aufnahme der Begriff im Rahmen der Existenzphilosophie gefunden hat. Was dabei zutage tritt, kann im Fortgang der vorliegenden Untersuchung eine Hilfe sein, das Geschehen des Gebets als Prozess zu begreifen, in dem der Mensch fundamental in seiner zeitlichen Verfasstheit, seiner Transzendenzfähigkeit und seiner Anlage zu Entscheidungen und zur Übernahme seines Daseins angesprochen ist. Der geschichtlich konturierte, je einmalige „Augenblick“, der dem Menschen widerfährt, gewinnt für ein zeitsensibles Verständnis von Gebet an Bedeutung.

Lexikalische Definitionen von „Existenz“341 illustrieren eine Begriffsgeschichte342, bei der etymologisch ein „Hervorgehen“ und „Herausgehen“ von etwas in den Blick kommt: „Die volle Schreibweise ex-sistere gibt zu erkennen, daß mit diesem Wort anfänglich ein Ortssinn verbunden war: aus der Erde, aus dem Fluß herausbrechen, aus dem Mutterleib hervorgehen, aus dem Hinterhalt hervorbrechen u.ä. […] Schließlich wird die lokale Herkunft ganz fallen gelassen, und existere rückt in die Bedeutung von vere esse ein.“343 Der Inhalt des Begriffs konzentriert und konkretisiert sich immer mehr auf das spezifisch menschliche Dasein in seiner Entfaltung: „Das Wort E. wird auf vielfache Weise verwendet: in seiner Grundbedeutung besagt es, daß etwas ist im Gegensatz dazu, was es ist. In einem weiteren Sinn ist E. gleichbedeutend mit ‚es gibt‘, in einem engen mit ‚als selbständiges Etwas da sein‘. Eine spezif. Bedeutung gewinnt E. in der Existenzphilosophie, indem es auf die unableitbare individuelle Daseinsweise des Menschen beschränkt und dem dinglich-gegenständl. Vorhandensein entgegen gestellt wird.“344 Geschichtlich-raumzeitlich erfahrbares Menschsein wird betont zum Ausgangspunkt der Frage nach dem Sinn des Seins. Mit Existenz und existentia ist Edmund Runggaldier zufolge im Sinne einer „aktualen“ oder „temporalen“ Existenz „die Aktualität eines Dinges gemeint, insofern es Veränderungen unterliegt und aktiv und passiv in kausale raum-zeitliche Abläufe einbezogen ist (in actu esse).“345 Der temporale Aspekt einer hervortretenden Gegebenheit, zumal einer menschlichen, ist somit implizit mitausgesagt, wo der Begriff „Existenz“ in jüngeren Publikationen Verwendung findet.

 

Die solcherart anthropologisch formulierte menschliche Verfasstheit erfährt in der „Existenzphilosophie“ betontes Augenmerk. Diese „ist seit Ende der zwanziger Jahre eine Sammelbezeichnung für eine Mehrzahl philosophischer Ansätze und Ausbildungen. Sie sind dadurch gemeinsam kennzeichenbar, dass sie die philosophische Frage nach dem Sein und dem Seienden im Ganzen festmachen am menschl. Dasein […], dem das Wirklichkeitsganze als naturaler und soz. Bedeutungszusammenhang nicht nur z. Nach- u. Mitvollzug schon schlechthin vorgegeben, sondern als zu Entwerfendes im ursprüngl. Vollzug seiner endlich-geschichtlichen Freiheit je aufgegeben ist.“346 Bei den Vertretern dieser Denkrichtung sind die geschichtliche Aufgegebenheit des menschlichen Daseins, und die Anforderung zu je individueller Aneignung derselben ebenso im Blick, wie die grundlegende Transzendenzmöglichkeit und -tendenz des Menschen. Nach Alois Halder „steht“ die Existenzphilosophie „in einer Traditionslinie der neuzeitl. Philos. der sich überantworteten Subjektivität, betont aber in deren Verfassung radikaler das Handlungsbewußtsein u. die Tat d. Entscheidung in jeweil. Situation vor dem Erkenntnisbewußtsein und dem objektivierenden und bleibende Gültigkeit suchenden Wissen, insg. die konkrete menschliche Individualität mit ihrer unabnehmbaren Last, sich u. ihre eigene Lebens- u. Weltgestalt ‚echt‘ selbst zu gewinnen oder zu verfehlen, worin zugleich ihr ausgezeichneter Rang begründet ist.“347 Das Transzendieren des Menschen stößt jedoch angesichts des Uneinholbaren des Seins im Ganzen (sowie gleichermaßen seines eigenen In-der-Welt-seins) an eine unüberwindliche Grenze, von der der Mensch unausweichlich und bleibend angegangen wird. An dieser Grenze öffnet sich ihm die Möglichkeit des bleibenden Scheiterns seiner Transzendenzbemühungen und seiner Suche nach Gelingen des aufgegebenen Lebens (K. Jaspers).348 Andere Vertreter der Existenzphilosophie, oder solche, die von ihr Anregungen aufnehmen, sehen aber die Möglichkeit, sich in Form der Hoffnung (G. Marcel)349 auf die Grenze zu beziehen, an die das menschliche Tranzendieren stößt; oder es besteht die Möglichkeit, dem „ursprünglichen Geheimnis“, das an den Menschen in seinem Über-sich-hinaus-verwiesensein rührt, in Form der „Andacht“ und der „Anbetung“ zu begegnen und zu entsprechen (B. Welte).350

Die Aufnahme des Begriffs „Existenz“ in eine phänomenologisch sensibilisierte Beschreibung der Gebetsäußerungen Edith Steins kann somit existenzphilosophisch eine Hoffnungs- und Anbetungsdimension in den Blick heben, die aus den Bedingungen des Menschseins als Möglichkeit ableitbar ist. Wo von Existenz die Rede ist, dort ist philosophisch einschlussweise intellektuell möglich und verantwortbar, von der Denkbarkeit und der Möglichkeit einer Daseinsaktualisierung zu sprechen, die dem Moment des hoffnungsbereiten Gebets Raum gibt. Insofern scheint eine entschiedene Justierung der Optik auf das Gebet bei Edith Stein mithilfe von Begriffen der phänomenologisch orientierten Existenzphilosophie erhellend und sinnvoll zu sein.

Guggenberger unterscheidet diesbezüglich neben dem Zugang zu „Existenz“ in „metaphysischer Sicht“ denjenigen in „phänomenologischer Auslegung“.351 Dabei weist er darauf hin, dass letztere von der erstgenannten den Bezug auf die Bedingtheit der eigenen Existenz und den Verweis auf eine „absolute Existenz“ zu beachten habe, wolle die phänomenologische Sicht nicht dazu genötigt sein, die „Bedingtheit und Endlichkeit“ der menschlichen Existenz zu verabsolutieren, wie das bei Sartre gegeben sei. Die phänomenologische Sicht und ihr Denken „verlegt sich mit aller Anstrengung darauf, aufzudecken, wie sich die in den Raum des Zeitlichen und Endlichen gestellte, die ‚geworfene‘ Existenz, die der Mensch ist, von sich aus zeigt.“ Das Moment des Zeitlichen findet betonte Beachtung: „Der Mensch, der existiert, ist ein ständig ‚Sich-Zeitigender‘. Als solcher ist er immer nur bei sich im jeweiligen Augenblick.“352 Dieser Augenblick ist, wo er betend geschieht, Ausdruck der geistlichen Existenz eines Menschen. Der Abfolge, Form und inhaltlichen Prägung dieser Augenblicke gelten die nachfolgenden Erkundungen der Konturen des Betens im Leben der Edith Stein.

228 Vgl. exemplarisch Rahner, K.: Artikel „Gebet. IV. Dogmatisch“, in: LThK, 2. Auflage, Freiburg 1960, Bd. 4, Sp. 542–545, sowie Schaller, H.: Artikel „Gebet. IV. Systematisch-theologisch“, in: LThK, 3. Auflage, Freiburg 1995, Bd. 4, Sp. 313–314, sowie die jeweils angegebenen weiterführenden Literaturangaben.

229 Vgl. Lang, B.: Artikel „Gebet“ in: NHThG, Paderborn 1993, S. 469–486, sowie Wulf, F.: Artikel „Gebet“, in: HThG, München 1962, S. 424–436.

230 Vgl. zum Ganzen das Standardwerk von Heiler, F.: Das Gebet: eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, Marburg 1923. Eine instruktive Zusammenfassung von Aspekten, unter denen das Beten theologisch im christlichen Raum bis zur Scholastik gesichtet wurde, findet sich bei Maidl, L.: Desiderii interpres. Genese und Grundstruktur der Gebetstheologie des Thomas von Aquin, Paderborn 1994, S. 65–120. Moderne Stimmen zum Gebet unter Einbezug antrophologischer Fragestellungen und interreligiöser Perspektiven sichtet Sudbrack, J.: Beten ist menschlich. Aus der Erfahrung unseres Lebens mit Gott sprechen, Freiburg 1973, besonders S. 116–139. Vgl. auch die im Abschnitt 2.1.1. dieser Studie angeführten Publikationen jüngeren Datums.

231 Vgl. zu Rahners Gebetsverständnis Stolina, R.: Die Theologie Karl Rahners: Inkarnatorische Spiritualität. Menschwerdung Gottes und Gebet, Innsbrucker theologische Studien, Bd. 46, Innsbruck 1996, besonders S. 11–30 und S. 129–250, sowie Reisenhofer, J.: „Ich glaube, weil ich bete“. Zur Theologie des Gebetes bei Karl Rahner, in: Siebenrock, R. (Hg.): Karl Rahner in der Diskussion, Innsbruck 2012, S. 149–158, sowie Deutsch, T.: O-Ratio. Versuch einer Verhältnisbestimmung von Beten und Denken nach Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar, Richard Schaeffler und Gerhard Ebeling, Trier 2010.

232 Rahner, K.: Artikel „Gebet. IV. Dogmatisch“, in: LThK, 2. Auflage, Freiburg 1960, Bd. 4, Sp. 542–545. Diese bereits 1960 formulierte Wesensbeschreibung des Gebets spannt einen weiten Horizont aus, in dem der menschliche Grundakt des Betens sich zuträgt: „In seinem Wesen ist das Gebet die ausdrückliche und positive Realisierung unserer natürlich-übernatürlichen Bezogenheit auf den persönlichen Gott des Heils; es verwirklicht also das Wesen des rel. Aktes schlechthin; […] Alle positiven religiösen Akte, die sich erkennend und wollend direkt und ausdrücklich auf Gott beziehen, können als G. bezeichnet werden. Durch seinen responsorischen Charakter ist das (christl.) G. Annahme jener Transzendenz auf den Gott des ewigen Lebens hin, die durch Gottes Selbsterschließung allererst in der Gnade eröffnet ist.“ (ebd. Sp. 543). Zur Gebetstheologie hat sich der Jesuit wiederholt geäußert, sein glaubenserschließendes Anliegen wird dabei durchgängig erkennbar, vgl. dazu Rahner, K.: Von der Not und dem Segen des Gebetes, Freiburg 1958 sowie ders.: Vom Beten heute, in: GuL 42 (1969) S. 6–17, ders.: Über das Beten, in: GuL 45 (1972) S. 84–98, ders.: Vom Mut und der Gnade, sich auf das Ganze einzulassen. Beten als Grundvollzug menschlicher Existenz, in: GuL 56 (1983) S. 12–14.