Der Bahnhof von Plön

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Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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Voller Vorfreude auf das bevorstehende Besäufnis erreichte ich das Obergeschoss, den letzten der drei Schlüssel einführbereit in der Hand, den Arm ausgestreckt wie ein angreifender Fechter. Das dritte Zimmer lag über dem zweiten und war daher von allen dreien am leichtesten zu finden. Ich klopfte nicht an, sondern schloss unmittelbar die Tür auf. Doch dieses Zimmer war nicht leer. Ich stand im Türrahmen und hatte Mühe, das, was ich sah, zu verstehen oder überhaupt zu verarbeiten. Ich sah zwar, was sich in dem Raum befand, aber sah es zugleich auch nicht, als hätte die schiere Ungeheuerlichkeit dessen, was sich meinen Augen darbot, mit einem gewaltigen Schlag mein Erkenntnisvermögen außer Kraft gesetzt. In schlechten Romanen kneifen sich Leute in derartigen Situationen in die Wange oder, wenn der Autor sein Handwerk etwas besser versteht, in den Handrücken, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumen. Ich brauchte mich nicht zu kneifen. Ich wusste, dass ich wach war. Stattdessen presste ich mein wie ein kleines, weiches Buch aufgeklapptes Stofftaschentuch vor Mund und Nase und setzte behutsam einen Fuß auf die einzig freie Stelle des Raums, den etwa eineinhalb Meter langen, schmalen Gang nämlich, der von der Tür ins Zimmer führte. Rechts hing auf Augenhöhe ein Garderobenhaken aus Messing mit zwei Zinken an der Wand. Links lag das offen stehende Bad. Niemand lauerte darin. Keine Falle. Ich schloss die Zimmertür leise hinter mir, lehnte mich dagegen, horchte in mich hinein.

Zwischen meinen Schuhen lag Reis auf dem Boden. Das Taschentuch wurde vom Atmen warm und feucht. Das schwindende Tageslicht, das den Raum gelblich erhellte, fiel durch ein lukenähnliches Fenster am Ende eines tiefen Schachtes an der Zimmerdecke. Ich vermutete, und das war mein erster halbwegs klarer Gedanke, dass es sich hierbei um keinen Schacht in einem immens dicken Flachdach handelte, sondern um einen auf das normal flache Dach gestülpten Aufsatz. Der Reis bewegte sich. Ich federte, wobei mein Mantelsaum wispernd über den Boden wischte, in die Hocke. Kein Reis. Lebendige Maden. Und tote Fliegen. Und gekräuselte Haare, wie sie am Rand von Urinalen kleben. Und winzige, tonnenförmige Fliegenpuppen. Mein Mantel bauschte sich am Boden und warf obszöne Falten. Ich richtete mich auf, klopfte und schüttelte Maden und Schamhaare vom Stoff, klappte das warme Taschentuch, das nicht einmal annähernd Schutz vor dem beißend scharfen, fast erstickenden und zugleich organisch fauligen Geruch bot, zusammen und steckte es in die Hosentasche.

Als weitaus schlimmer als den infernalischen Gestank empfand ich jedoch das leise, den Raum wie Flüssigkeit erfüllende Geräusch: ein raschelndes Rauschen und Zischeln, das mich an rieselndes Wasser erinnerte oder an das Korn, das der, ich zitiere aus einem meiner Lieblingsgedichte, Worfler mit rhythmischer Gebärde auf seiner Schwinge wirft und wendet. Dieses Geräusch, das ich mein Lebtag nie vergessen werde und auch jetzt beim Schreiben dieses Berichts deutlicher erinnere als den Gestank, stammte, wie ich Jahre später beim Vortrag eines forensischen Biologen erfuhr, von den Maden, stammte von den Tausenden auf und inmitten des Leichenbergs umherkriechender Maden, stammte von den Abertausenden hungriger Maden, deren weißliche, wulstig segmentierte Leiber dieses betäubende, fast einlullende Rauschen erzeugten, wenn sie sich auf ihren Fresspfaden begegneten und in blinder Gier und ohne voneinander zu wissen ihre Körper scheuernd aneinander rieben.

Um es kurz zu machen: Der ganze Raum war voller Leichen. Es waren so viele, dass ich mich außerstande sah, ihre Anzahl zu schätzen. Hunderte, dachte ich, wenn nicht sogar mehr. Vor mir erhob sich ein riesiger Berg aus faulendem Fleisch. Männer, Frauen, Kinder. In allen Stadien der Verwesung. Hier eine zur Klaue verformte, behaarte Hand, dort das geblähte Gesicht eines Engels im blonden Lockenbett. Hier die eingefallenen Wangen eines Greises, dort die Apfelbacken eines Knaben, eingeklemmt zwischen einer bräunlich verfärbten Männerwade und einem mageren Rücken, dessen pergamentartige Haut ein Grat spitz hervorstehender Wirbel fast bis zum Reißen spannte. Fußsohlen reckten sich mir violett schillernd entgegen. Finger krümmten sich mit arthritischen Knöcheln. Männerbeine ragten auf wie Masten. Bleich und prall quollen Frauenschenkel.

Schwarz lag auf weiß, Mensch auf Mensch, und aus den Ritzen in dem Fleischberg ergossen sich Haarschöpfe aller Farben und Länge wie erstarrte Wasserfälle. Schamlos klaffende Gesäße reckten sich mir entgegen, und hier und dort klemmten zwischen den ohne ersichtlichen Plan übereinandergeschichteten Leibern die runzlig-faltigen oder grotesk geschwollenen Geschlechtsteile von Ungeheuern. Und wohin ich auch sah: Gesichter. Der Mensch kann nicht anders, als überall Gesichter zu erkennen. In Wolken, in Tapetenmustern, in der Maserung eines Holztischs, in der Laubkrone eines Baums, der sich im Wind wiegt. Doch die Gesichter, die ich hier sah, waren keine eingebildeten Gesichter. Ich sah alte Gesichter, junge Gesichter. Mal mit geschlossenen, nach innen schlaff durchhängenden Lidern, die keine Augäpfel zu bergen schienen, mal mit dem stieren Glasmurmelblick eines Schweinskopfs in der Auslage der Dorfmetzgerei. Und Münder sah ich, in denen fett und feist die Zunge hinter gelben Zahnreihen klemmte. Andere Münder dagegen waren wie vernarbte Wunden in der Ledermaske einer Vogelscheuche oder sie waren schwarze schmerzverzerrte Höhleneingänge.

Ich schmeckte Verwesung auf der Zunge und beim Schlucken hinten am Gaumen. Mein Kragen wurde zu eng. Gerne hätte ich ein vulgäres Lied gesungen oder wäre lautstark brüllend auf der Stelle gesprungen wie ein zorniges Kind. Alles nur, um diesem Raum zumindest geistig für eine Weile zu entkommen. Beide Handflächen an die Seitenwände des ins Zimmer führenden Gangs gepresst, stand ich leicht vornübergeneigt inmitten der kriechenden Maden, kämpfte gegen den Brechreiz an und versuchte nachzudenken. Es war, als hätte ein Riese die Leichen genommen, einen formbaren Brei, und mit Wucht in die linke Zimmerecke geschmiert. Dort türmten sich die Körper bis zur Decke; zur anderen Raumseite hin sank die Oberfläche des Haufens steil ab und stieß etwa in Hüfthöhe an die rechte Zimmerwand. Die meisten Leichen waren nackt oder wenig bekleidet, und plötzlich, als zerrisse jählings der Vorhang der Welt und man erblickte dahinter mit Ehrfurcht gebietendem Grausen die unmaskierte Wirklichkeit, wusste ich, was man von mir erwartete – und was ich tun würde: Man erwartete von mir, die Leichen von hier aus in das Zimmer im ersten Stock zu transportieren, wobei mir der Raum im zweiten Stock als eine Art Zwischenlager dienen sollte. Und was ich tun würde, war auch klar: Ich würde jetzt schnellstmöglich was Hochprozentiges kaufen und mich zu Hause mit dem Aschenbecher auf der Brust ins Bett legen und mir einen hinter die Binde kippen. Und zwar so gründlich, dass ich die leere Flasche am nächsten Tag unter der Decke oder dem Kopfkissen fände wie ein nach Branntwein riechendes Kuscheltier aus Glas. Mit diesem Plan verließ ich das Zimmer, trabte die Treppen hinab, schoss mit wehendem Mantel an der Rezeption vorbei und rief dem Portier kurz innehaltend zu: »Falls Sie der Meinung sind, jemals in Ihrem Leben etwas Schlimmes gesehen zu haben, dann warten Sie mal bis morgen! Da werden Sie auf Ihren Scheißbildschirmen was zu sehen bekommen, das Ihnen für Jahre den Schlaf rauben wird!«

Die Zweizimmerwohnung, die ich damals bewohnte, war für mich mehr eine provisorische Unterkunft als ein Zuhause, und so hatte ich es in all den Jahren weder in Erwägung gezogen, irgendwelche Renovierungsarbeiten durchzuführen, die es darin ein wenig wohnlicher oder behaglicher gemacht hätten, noch zumindest die schäbigsten der Möbelstücke zu ersetzen, die wie der Rest der Einrichtung von der Vormieterin stammten. Jérôme lag in derselben Haltung auf dem dunkelgrünen Ledersofa, in der ich ihn verlassen hatte. Er trug seine Lieblingshose aus längsgestreiftem, löchrigem Stoff und ein ärmelloses Feinrippunterhemd, hatte das Gesicht im Spalt zwischen Sitzfläche und Lehne vergraben und kehrte mir den fetten Rücken und das große, formlose Gesäß zu. Er gab vor, meine Ankunft nicht bemerkt zu haben, und atmete tief ein und aus, als schliefe er. Im Raum roch es nach kaltem Zigarettenrauch und fremdem Schweiß. Auf der Glasplatte des Couchtischs und halbkreisförmig in Jérômes Reichweite auf dem Teppichboden reckten zahlreiche aufgeklappte, mehr oder weniger aufrecht stehende Bücher ihre Firste in die Höhe wie die Dächer einer alten Stadt im Süden, die ein müßiger Spaziergänger, der nichts mehr vom Leben erwartet, von der sie überragenden Feste betrachtet. Auf eine Mauer gestützt, blickt er in gelassener Wehmut hinab auf das kabbelige Meer aus Dächern, dieses im Augenblick des Anbrandens erstarrte rötlich-braune Ziegelmeer, und wäre nur lind erstaunt, wenn sich die Burg mit einem triumphierenden, dumpf dröhnenden Sirenenstoß in Bewegung gesetzt hätte, erst stockend, dann zunehmend Fahrt aufnehmend, über die klappernden Dächer davon.

»Ich bin wieder da«, sagte ich.

»Hast du Schnaps mitgebracht?«

»Nein.«

»Du lügst.«

»Ich kann dir nichts abgeben. Ehrlich.«

»Dann stell wenigstens den Fernseher leiser!«

»Ich hab’ ihn nicht so laut gestellt.«

»Du stinkst wie ein Leichenwäscher.«

»Ich weiß.«

»Stellst du ihn jetzt leiser?«

Ich tat es. »Gut so?«

Jérôme antwortete nicht.

»Na dann: Gute Nacht.«

»Nacht. – Und falls du es dir mit dem Schnaps anders überlegst …«

»Eher unwahrscheinlich. Gute Nacht.«

Er hatte sich während des Gesprächs nicht zu mir umgedreht. Ich konnte nur vermuten, was in ihm vorging. Seine Schultern waren grau behaart wie die eines betagten Affenmännchens. Ungekämmtes, ebenfalls graues Haar umgab die im Flackerlicht des Fernsehers fettig schimmernde leberfleckige Kuppel seiner Glatze, und auf dem Oberarm prangte die Narbe einer Pockenimpfung wie ein tief ins Fett geprägtes Siegel. Mehr gibt es an dieser Stelle nicht über Jérôme zu sagen. Ich zupfte zwei Fünfzigdollarscheine aus der von dem Gummiband zusammengehaltenen Rolle, um die ich den Portier betrogen hatte, legte sie zwischen die Bücher auf den Glastisch. Das restliche Geld steckte ich in eine leere Kaffeedose, versteckte diese hinter den Gewürzen im obersten Regal des Küchenschranks und verschanzte mich in meinem Zimmer. Nachdem ich die Tür zweimal abgesperrt und mit dem Balken gesichert hatte, zog ich Anzug und Hemd aus und warf beides auf den Kleiderberg am Fenster. Die Jalousie war wie üblich runtergelassen. Eine von der Decke hängende Glühbirne erhellte den Raum und verwandelte ihn, als ich mit dem Kopf dagegen stieß, in den schwankenden Laderaum eines gegen haushohe Wogen anstampfenden Fischkutters. Der Laderaum war, um im Bild zu bleiben, leer bis auf zwei weiße Plastikgartenstühle, einige Umzugskartons aus Pappe, die Holzkiste mit den Waffen, ein Bügelbrett, auf dem ein Bügeleisen erwartungsvoll auf den Hinterbeinen stand, jede Menge leerer Glasflaschen sowie zwei unterschiedlich hohe Kleiderberge: einer für die saubere und einer für die Schmutzwäsche.

 

Ich zog die Socken aus, behielt Unterhemd und Unterhose an, legte mich auf die Matratze, die mir als Bett diente, schraubte die Flasche auf, zog die Wolldecke hoch bis zum Nabel, stellte den Aschenbecher auf die Brust, nahm einen tüchtigen Schluck Branntwein und steckte mir vor Behagen seufzend eine Zigarette an. Die ersehnte Ruhe kam etwa eine Stunde später wie eine lang erwartete, verdiente Auszeichnung. Auf einmal ließ sich die graue Tafel meines Denkens öffnen wie ein zweiflügeliges Fenster, und dahinter erstreckte sich unter einem wolkenlosen Junihimmel ein blühendes Rapsfeld in sanften Wellenbewegungen bis zum Horizont. Es blies anlandiger Wind von der Ostsee und die Luft, die ich einsaugte wie ein den heimatlichen Bau witterndes Nagetier, war erfüllt vom würzigen Geruch des Rapses, dieser ganz speziellen öligen Duftmischung aus süßlichen Blütenaromen, frisch geschleuderten Honigwaben, in der Sonne vertrocknenden Kohlrabiblättern und einer kaum merklichen, herben Nuance elsässischen Münsterkäses. Inmitten des gelb im Seewind wogenden Ozeans erhob sich ein eichenbewachsener Hügel: Eine grüne Insel mit einem »Hünengrab«.

Ich bahnte mir mit schwingenden Armen den Weg durch das im Sonnenlicht textmarkergelb leuchtende Feld, Mäuse raschelten am Boden, Grillen zirpten und vor meinen Füßen flog ein Fasan mit einem hupenähnlichen Protestlaut auf und flatterte davon, während Glockengeläut aus der sich zum Palasttor öffnenden Erde des Hügels drang, dem ich mich mittlerweile fast rennend und dabei wie ein kleines Kind Tränen vergießend näherte. Leises Glockengeläut, der Klang der Heimat.

Am nächsten Tag erwachte ich mit dem herzzerreißenden Gefühl eines unwiederbringlichen Verlustes. Trotz meiner Übelkeit zog ich die Kleider vom Vortag an, entriegelte die Zimmertür. Jérôme bedachte mich mit einem undeutbaren Blick. Er lehnte am Küchenschrank und löffelte Eintopf aus einer Dose mit aufgeweichtem Etikett, die er offenbar in einem Topf mit Wasser erwärmt hatte, der noch sprudelnd auf der Kochplatte stand. Ich schaltete den Herd aus, trank einige Handvoll kaltes Wasser aus dem Hahn. Danach fühlte ich mich besser. Und nachdem ich mir das Gesicht gewaschen hatte, fühlte ich mich noch besser. Ich hängte das Geschirrhandtuch an den Haken und sah Jérôme an, der seit geraumer Zeit immer langsamer kaute.

»Was gibt’s?«, fragte ich. »Hast du mir irgendwas Wichtiges mitzuteilen?«

»Soll ich dir bei dem, was du diesmal machen musst, helfen?«

»Nein. Davon war nicht die Rede.«

Jérôme steckte den Löffel entschlossen in die Dose und stellte sie auf den Tisch. »Früher«, begann er vorsichtig und ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, »habe ich dir immer geholfen oder habe dir, weil sie es so wollten, helfen müssen oder ich habe alles alleine gemacht und du hast mich dabei beaufsichtigt. Ich frage mich, was dahintersteckt.«

»Wohinter?«

»Dass sie das nicht mehr wollen. Ich liege hier nur untätig rum und sehe fern und forsche ein wenig, wenn ich mich dazu aufraffen kann. Ich bin dir keine große Hilfe. So war unsere Zusammenarbeit bestimmt nicht gedacht.«

»Das ist nicht meine Schuld.«

»Das hab’ ich auch nicht behauptet. Du hast im Schlaf geschrien. In der alten Sprache. Ach, vergessen wir das!« Er vollführte eine resignierte, daseinsmüde Handbewegung. »Ich habe die letzten Tage nachgedacht. Dich wird wahrscheinlich nicht interessieren, worüber, aber ich werde es dir trotzdem sagen. Ich habe über große Entscheidungen nachgedacht. Und zwar über diejenigen Entscheidungen im Leben, die, selbst wenn man sie nicht trifft, immer noch große Entscheidungen sind. Verstehst du mich? Man trifft keine Entscheidung und hat sich dennoch entschieden.« Plötzlich änderte sich sein Tonfall und er sprach so gewählt, als hätte er das Folgende in einem seiner Bücher gefunden und auswendig gelernt. »Wie gerne führte ich doch mehrere Leben. Entweder hintereinander aufgebaut wie eine Kette Dominosteine durch die Küche auf den Pier hinaus. Oder gleichzeitig, als säße ich am Schreibtisch und segelte zugleich unterm Mast. Als säße ich lesend im Bett und gäbe das Kinn reckend den Befehl, die Segel zu setzen. Eine Schnecke, die zu lange im Kreis kriecht, löst sich auf mitsamt ihrem Haus. Das Loch, das zurückbleibt im Raum, ist nie mehr zu stopfen.« Ein Anflug von Verlegenheit schob sich über sein dickes Kindergesicht. »Wie du siehst, habe ich ohne Ergebnis nachgedacht. Mir ist es nur gelungen, ein Gefühl sprachlich ein wenig zu umkreisen und das, wenn ich mir deinen Gesichtsausdruck betrachte, nicht einmal gut. Hör mir bitte noch einen kurzen Augenblick zu! Stell dir vor, dir begegnet eines Tages eine Frau. Du bist verheiratet und glücklich. Sie ist es auch. Ihr unterhaltet euch einige Minuten lang und wisst plötzlich beide, ohne dass es ausgesprochen werden muss, dass ihr miteinander glücklich sein könntet und gar nicht mehr nach Hause zu euren Lieben und euren Kindern zurückzukehren bräuchtet. Wie leicht wäre es doch, einfach in ein Auto oder auf ein Motorrad zu steigen und davonzufahren! Hast du denn nie gewünscht, einen neuen Kurs einzuschlagen? Das Geschehene geschehen sein zu lassen und einen Weg auszuwählen, nicht als ein anderer, aber als jemand, der andere Dinge als derjenige macht, der er bis zu dieser Entscheidung war?« Er nahm die Dose vom Tisch, wo sie einen weiteren Kreis auf dem Wachstuch hinterließ, und rührte geistesabwesend mit dem Löffel im Eintopf. »Über solche Sachen denke ich zurzeit nach. Und ohne dir jetzt zu nahe treten zu wollen: Ich finde, du solltest das auch tun. Ich weiß nämlich nicht, ob die Rolle, die sie dich spielen lassen, die Rolle ist, die man für dich vorgesehen hat. Um es noch deutlicher zu machen: Stell dir einen Schauspieler vor, der eines Tages feststellt, dass die Rolle, die er einstudiert hat …«

»Ich muss los.«

»Ich versuche doch bloß, dir zu helfen.«

»Ich muss jetzt wirklich los«, wiederholte ich und verließ den Raum. Heute würde ich nicht unbewaffnet aus dem Haus gehen. Nachdem ich ihn mehrmals in den Handteller hatte klatschen lassen, entschied ich mich für einen mit Vierteldollarmünzen gefüllten Strumpf und eine eineinhalb Meter lange Eisenkette, die ich mir unter dem Hemd um den Bauch wickelte. So bewaffnet, verabschiedete ich mich von Jérôme, der wieder auf der Couch lag, die Beine angezogen, Rücken und Gesäß mir im stummen Vorwurf zugekehrt. Und dennoch gedenke ich seiner mit Wohlwollen und ehrlichem Respekt. Wahrscheinlich hat es niemals in meinem ganzen Leben jemand besser mit mir gemeint oder war mir treuer ergeben als mein Diener Jérôme.

Ich nahm die 6 zum Astor Place, stieg, die Augen mit der hohlen Hand beschirmend, aus den Röhren und Kavernen des Untergrunds empor in den gleißenden Tag und flanierte mit aufgeknöpftem Mantel durchs sonnige East Village, als wäre ich unterwegs zu einem Café am südlichen Seineufer, um dort im Schatten der Platanen einen ungesüßten doppelten Espresso oder einen Pastis zu trinken. An der Fußgängerampel gegenüber dem wehrhaften Klotz des ehemaligen Valencia, wo ich die nächsten Tage meinen Frondienst leisten musste, lehnte ich mich, die Fäuste in die Manteltaschen gestemmt, an einen Laternenpfahl, ließ mir die Herbstsonne ins Gesicht scheinen und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette. Ich hatte auf der Hinfahrt den Stadtplan studiert und wusste daher, dass ich mich unweit eines dieser magischen Punkte befand, an denen sich Namen ändern: Die East 8th Street, die hinter mir lag, trug jenseits der Kreuzung, die ich vom Laternenpfahl aus überblickte, den Namen Saint Marks Place, und die verkehrsreiche Straße, an deren westlichem Ufer ich gerade meine Kippe in den Rinnstein schnickte, strebte als Cooper Square in südlicher und als 3rd Avenue in nördlicher Richtung davon, ohne dass den dunklen Schemen hinter den blitzend das Sonnenlicht reflektierenden Windschutzscheiben bewusst war, dass sie mitten auf dieser Kreuzung eine unsichtbare Grenzlinie überfuhren, wo sich der Name der Straße plötzlich verwandelte – ein Zauberkunststück, das hinter der Bühne vorgeführt wird, ohne dass das Publikum etwas davon mitbekommt. Auf Niederländisch heißt »Verwandlung« übrigens »gedaanteverwisseling« …

Über solchen und ähnlichen Überlegungen verging die Zeit. Endlich gab ich mir einen Ruck und stürzte mich in den Tag wie ein Kapitän, der bei gutem Wind nur das Sturmsegel setzen lässt. Zuerst verzehrte ich einen fettigen Sausage McGriddles bei McDonald’s in der 3rd Avenue, von wo aus ich die dem Hotel gegenüberliegende Starbucks-Filiale im Blick hatte. Mir fiel weder etwas Ungewöhnliches auf noch weckte eines der Gesichter in der Menge meinen Argwohn, und so überquerte ich kurz darauf im Laufschritt die Straße und umrundete, die klirrende Kette mit dem Unterarm fest an den Bauch gedrückt, ein gutes Dutzend bunt lackierter, unterschiedlich großer und geformter, nichtsdestotrotz einträchtig nebeneinander wie befreundete Droiden an der Gehwegkante stehender Zeitungsautomaten. Unsereins hat es im Blut, misstrauisch zu sein. Hinter der Metallfront der Automaten ging ich federnd in die Hocke. Das rechte Knie auf dem schartigen Asphalt tat ich so, als bände ich den linken Schnürsenkel, und betrat erst, als ich völlig davon überzeugt war, nicht verfolgt zu werden, die mir vom Vortag vertraute Starbucks-Filiale. Hier setzte ich mich mit einem großen Milchkaffee und einem Stück Marmorkuchen an den Platz von gestern, von wo aus ich die gesamte Kreuzung überblicken konnte, die nunmehr – gemeinsam mit dem zischelnd flüsternden Leichenberg – die Nabe meines Alltags bildete.

Mit spitzen Fingern tunkte ich die Kuchenscheibe in den Pappbecher und saugte, bevor ich abbiss und zu kauen begann, Kaffee aus der zu warmem, kompaktem Brei zusammenpappenden Süße. Neben mir bildeten junge Menschen eine unruhige Schlange vor der Toilettentür; an den Tischen saßen junge Menschen vor aufgeklappten Laptops; draußen liefen junge Menschen vorbei, das Handy am Ohr, mit der freien Hand gestikulierend. Ich fühlte mich wie ein altes müdes Auge. Ich sah den sich hoch über die Kreuzung krümmenden Laternenpfahl, an dem ich vor wenigen Minuten gelehnt, und den Eingang des McDonald’s-Restaurants, wo ich eben gefrühstückt hatte, sah das Hotel mit dem Pizza-Laden im Untergeschoss und den siloförmigen Wassertank auf dem um einige Stockwerke höheren Nachbargebäude, sah den wolkenlosen und dennoch mit aller Gewalt auf die Erde niederdrückenden Stadthimmel.

Allmählich erhärtete sich die Gewissheit, nicht einmal von den eigenen Leuten observiert zu werden. Um letzte Zweifel auszuräumen, schlenderte ich noch eine halbe Stunde scheinbar ziellos durchs East Village, ehe ich in einem mehrgeschossigen Kmart in der Lafayette Street die notwendigen Einkäufe tätigte: einen dunkelblauen Arbeitsoverall mit langen Ärmeln, vier Kleiderbügel aus Draht, eine auf Zeitschriftengröße gefaltete Abdeckplane aus milchigem Kunststoff, eine schlagstockgroße Rolle schwarzer, angeblich reißfester Müllsäcke und eine Tube Zahnpasta. Handschuhe brauchte ich mir keine zu kaufen – ich würde die aus rotem Gummi verwenden, die im untersten der drei Zimmer im Mülleimer lagen. Hatte ich mich seit dem Aufstehen ein einziges Mal nach der Herkunft der Leichen gefragt? Nein, natürlich nicht, war ich doch nichts weiter als eine von fremder Hand aufgezogene und gnadenlos ablaufende Uhr, war ich doch nichts weiter als ein mit einem dieser ulkigen Schlüssel, die wegen der runden Löcher in den beiden Flügeln dem Becken eines Säugetierskeletts ähneln, scharrend und knarrend aufgezogenes Blechspielzeug, war ich doch, und hier schließt sich der Kreis zum Beginn, nichts als ein Meerschweinchen, das schreckensstarr in die Streu geduckt das Herabsinken des Papphäuschens herbeisehnt.

 

Die Tüte mit den Einkäufen jungenhaft schlenkernd, ging ich schnurstracks zum Hotel. Der Portier hatte Gesellschaft. Neben ihm in der winzigen Loge saß der schmächtige Typ mit den erschlafften Gesichtszügen, dieser an einen Studienrat erinnernde Typ, der mir im Pizza-Laden den Umschlag mit den Schlüsseln ausgehändigt hatte. Die Arme vor der Brust verschränkt, saß er breitbeinig auf einem umgestülpten Metalleimer. Der Portier wirkte weniger trotzig. Die Handflächen seitlich an die Schenkel gepresst, rollte er auf seinem Drehstuhl abwartend vor und zurück. Natürlich hatten die beiden Männer meine Ankunft auf den Bildschirmen mitverfolgt und betrachteten mich nun wie Schildkröten die Besucher des Reptilienhauses.

Ich stellte die Tüte hin, klopfte mit dem Knöchel an die Scheibe und setzte ein wölfisches Grinsen auf. Der Portier rang sich ein Nicken ab. Der Studienrat blickte seitlich zu Boden. Ich klopfte wieder an die Scheibe und bedeutete dem Portier, das Türchen zu öffnen, und streckte, kaum dass er meinem Wunsch nachgekommen war, den Oberkörper zu ihnen in die säuerlich nach vergossener Milch riechende Kammer. Ich kann nicht erklären, weshalb, aber mit einem Mal war ich so wütend, dass ich die beiden am liebsten am Kragen gepackt und ihre Köpfe bis zum Zerbersten gegeneinandergeschmettert hätte. »Ich weiß, dass Sie mich nicht mögen«, begann ich und korrigierte mich sofort. »Nein, das trifft es nicht ganz. Angst! Sie beide haben Angst vor mir. Und das ist, aber da verrate ich Ihnen jetzt kein großes Geheimnis, mehr als nur berechtigt. Und hätten Sie keine Angst vor mir, wären Sie wahrscheinlich nicht so dumm, nicht wenigstens Angst vor den Leuten zu haben, für die ich arbeite, oder von denen Sie glauben, dass ich für sie arbeite. Möglicherweise stecken Sie ja auch bis zum Hals in dieser Scheiße mit drin!« Ich deutete mit dem Zeigefinger zur Decke und lachte, als sie begriffen, was ich damit andeutete, laut über ihr Unbehagen. »Doch worauf ich hinaus will, das ist ein, wie soll ich es sagen, nun, das ist ein gut gemeinter Ratschlag. Ja, Ratschlag trifft es. Also passen Sie auf! Sie sollten immer daran denken, wie viel Angst Sie vor mir haben, wenn Sie über Geld reden. Verstehen Sie?« Ich lachte kurz und trocken. »Und falls ihr zwei Vollidioten mal was wirklich Abgefahrenes sehen wollt«, ich ließ den gestreckten Zeigefinger in die Waagerechte fallen, so dass die Kuppe auf die Bildschirme wies, »tätet ihr verflucht gut daran, euch Popcorn oder was zum Knabbern zu besorgen – die Vorstellung wird jeden Moment beginnen.«

Ich machte einen Schritt in die Portiersloge, wobei die Kette leise klirrte, legte dem zunehmend verzweifelter zu Boden starrenden Studienrat die Hände rechts und links auf die Schultern und sagte: »Wie Sie sich sicherlich denken können, werde ich die nächsten Tage fast ausschließlich hier in diesem Puff verbringen müssen. Sie haben daher von nun an die Ehre, für meine Verköstigung zu sorgen.« Ich roch, wie beißende Angst aus seinen Poren drang. »Das ist weitaus einfacher, als es klingt. Mittags, nachmittags und abends bringen Sie mir irgendwas zu essen. Was, ist egal, ihr habt ja da unten mehr als genug – und eine kalte Cola. Okay? Sie geben das Essen und die Cola – die kalte Cola, versteht sich! – hier bei ihrem Compadre ab. Ich komme mir dann alles je nach Bedarf abholen.« Ich gab ihn frei und fragte den anderen Wichser spöttisch, ob er denn rund um die Uhr hier blöde rumsäße.

»Nein. Aber immer dann, wenn Sie im Gebäude sind. Wegen der Kameras. Sie denken natürlich, ich würde das alles hier machen, weil ich …«

»Das ist genug!« Ich unterbrach ihn mit einem Klatschen und rieb die Handflächen voller Tatendrang. »Meinerseits wäre nun alles geklärt. Und sollten Sie jemals das Bedürfnis verspüren, über Geld zu reden …«

Der Studienrat sah auf. »Wir werden nicht über Geld reden.«

»Fein«, sagte ich. »Aber sollten Sie dennoch einmal über Geld reden …«

»Das wird nicht geschehen. Wir werden nicht über Geld reden. Und für Ihre Verpflegung ist gesorgt. Sie können sich Ihr Essen und«, er atmete seufzend aus, »Ihre kalte Cola jederzeit hier bei Mick an der Rezeption abholen.«

»Mick?«

»Mick.«

»Und Sie? Haben Sie auch einen Namen?«

»Ja, aber ich möchte ihn nicht sagen. Bitte. Sie wissen, weshalb. Bitte.«

»Na, dann bleibt mir nichts übrig, als Ihnen viel Spaß zu wünschen.«

»Wobei?«, fragte Mick eine Spur zu frech für meinen Geschmack, doch ich hatte die beiden mehr als genug getriezt, und so antwortete ich in süßlicher Milde, während ich mich nach der Tüte bückte: »Beim Zuschauen!«

Ich spürte, dass sie mir mit großen, bedächtig blinzelnden Reptilienaugen nachsahen, als ich – die Tüte absichtlich so wild schleudernd wie ein vom Bauernhof kommender Junge die randvolle Milchkanne – Schritt für Schritt im Korridor entschwand, der in die Tiefen des Gebäudes führte. Als dieser einen scharfen Knick machte und mich ihrer unmittelbaren Sicht entzog, spürte ich oder glaubte ich zu spüren, wie sich ihre Gesichter in der gequälten Behäbigkeit alter Kaltblüter demjenigen Bildschirm zukehrten, auf dem eine winzige Version meines Ichs vor der Tür des untersten der drei Zimmer einen Moment lang zögerte, dann den Schlüsselbund zückte, sie mit einem der fünf daran befestigten Schlüssel aufsperrte – und aus dem Bild verschwand.

Das Zimmer war unverändert. Nachdem ich mich in einem für meine Verhältnisse eher untypischen Anflug von Panik vergewissert hatte, dass die roten Gummihandschuhe noch im Mülleimer lagen, war meine gelassene Gemütsverfassung wiederhergestellt und ich begann, mich häuslich in dem Badezimmer einzurichten, das die nächsten Tage mein Umkleide-, Wasch- und Aufenthaltsraum sein würde. Ich legte Zigaretten und Feuerzeug auf das Glasregal über dem Waschbecken. Ich füllte ein Zahnputzglas mit kaltem Wasser und stellte es daneben. Ich hängte Mantel, Jacke, Hose und Hemd auf die mitgebrachten Kleiderbügel und diese an den Handtuchhalter an der Innenseite der Tür. Die Kette legte ich neben dem Sockel der Toilette auf den Boden, eine schlafende Klapperschlange aus Metall. Ich trank das Glas Wasser, füllte es erneut, wusch das Gesicht, betrachtete mich prüfend im Spiegel. Der Overall kniff unter den Achseln, passte aber ansonsten leidlich. Ich setzte mich auf den Klodeckel, zog die Fersen an die Pobacken und dachte bei einer Zigarette über den ersten Fehler nach, den ich gemacht hatte. Keine Arbeitsschuhe. Also würde ich meine eigenen tragen müssen. Egal, sagte ich mir trotzig. Dann müssen sie mir halt Neue kaufen! Darauf würde ich bestehen. Ich schlüpfte in die Schuhe, um die es mir ein wenig leidtat, stopfte den Strumpf mit den Münzen in die Hosentasche des Overalls, erhob mich mit einem gotteslästerlichen Fluch und schmierte mir, bevor ich die Gummihandschuhe überstülpte und im Bewusstsein, erneut beobachtet zu werden, nach oben zu den Leichen ging, einen Batzen nach Menthol und Pfefferminze riechender Zahnpasta unter die Nase.