Der Bahnhof von Plön

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»Bist du immer noch nicht fertig?«

»Vaihinger hat 1911 einen Bestseller geschrieben mit dem Titel Philosophie des Als Ob. In diesem Buch schlägt er vor, die große Sinnfrage gar nicht erst zu stellen, sondern so zu tun, als hätte alles einen Sinn.«

»Du liest zu viele Bücher!«

»Tue man nämlich so, als habe alles einen Sinn, sagt Vaihinger, dann gehe es einem viel besser. Sinn ist offenbar auch etwas, für das der Einzelne selbst verantwortlich ist. So, jetzt bin ich gleich fertig.« Jérôme wischte mit der Serviette die Tränen aus dem Gesicht und sprach weiter: »Man tut also so, als ob etwas Sinn hat, und schon hat es Sinn. Man wählt einen Weg – und wenn man ihn für den richtigen hält, ist er der richtige. So einfach könnte alles sein. Und vielleicht ist es auch tatsächlich so einfach. Dies herauszufinden, wird die wichtigste Aufgabe sein, der du dich stellst, wenn du dich endlich einmal dazu entschließt, eine Wahl zu treffen, wenn du dich endlich einmal dazu entschließt, immer wieder eine Wahl zu treffen, um im Geflecht der zahllosen Wege den einen Weg zu finden, der dich zu dem macht, der du sein willst. Und diesmal solltest du – nein, musst du – richtig wählen!«

»Willst du mir etwa vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe?«

»Nur noch ein Letztes. Ich weiß nicht, was sie dich machen lassen, habe dich nie danach gefragt und will es auch gar nicht wissen. Aber hör wenigstens in diesem Punkt auf mich: Kipp einen Sack Kalk drüber!«

»Ein Sack wird nicht reichen.«

»Dann kipp halt zwei drüber. Oder drei.«

»Meinetwegen. Sag dem Lotsen Bescheid, dass ich ihn sprechen will!«

»Dir ist schon klar, dass er darüber nicht sonderlich begeistert sein wird.«

»Ist mir scheißegal. Richte ihm aus, es sei von größter Wichtigkeit.«

»Gut. Das werde ich tun. Und … tu mir bitte einen weiteren Gefallen.«

»Was ist denn jetzt noch?«, seufzte ich.

Stumm rührte Jérôme einen dritten Löffel Honig in seinen Kaffee.

Der Wundarzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Ingenieur-Geograph Alexandre Corréard, zwei junge Männer, die beide das Glück hatten (sofern man das überhaupt »Glück« nennen kann), zu den fünfzehn Überlebenden des Rettungsfloßes zu zählen, berichten in ihrer 1818 – also zwei Jahre nach der Katastrophe – erschienen Rechtfertigungsschrift Der Schiffbruch der Fregatte Medusa, wie die von der afrikanischen Sonne ausgedörrten, bis zum Irresein hungrigen und vor Erschöpfung und von den Kämpfen zermürbten Männer auf dem von Wellen überspülten Floß eine Art »Hirnfieber« überkam, das, wie die beiden Augenzeugen urteilen, »von einer gewaltsamen Überspannung des Besinnvermögens herrührte«. Mehrere, schreiben sie, wähnten sich noch an Bord der Medusa, umgeben von denselben Gegenständen, die sie dort alle Tage vor Augen hatten. Andere sahen Schiffe und riefen sie um Hilfe an, oder eine Reede, in deren Hintergrund sich eine prächtige Stadt erhob. Und meistens scheint ihnen die Wirklichkeit ein fürchterlicher Albtraum zu sein, in den hinein sie merkwürdigerweise morgens aus kurzem, unruhigem Schlaf erwachen. Bei mir dagegen wurde das Hirnfieber in diesen Tagen allein durch Alkohol hervorgerufen.

Das ständige Betrunkensein versetzte mich in die entspannte Verfassung, in der einen nichts großartig verwundert oder stärker belastet. Als das oberste der drei Zimmer endlich leergeräumt war bis auf einen riesigen Fleck Fäulnisflüssigkeit auf dem Boden und einige Hundert dem Tode geweihter Maden und Fliegen, sperrte ich die Tür ab und genoss einige Atemzüge lang die Ruhe im Flur, ehe ich eine Etage tiefer ging, um das gleichfalls leere mittlere Zimmer zu inspizieren, worin sich mehrere kleinere feuchte Flecke auf dem Boden und weitaus weniger Maden und Fliegen befanden. Ein Geschoss darunter erhob sich der Leichenberg in seiner Gewaltigkeit – und mit einem Geheimnis im Herzen, das mir jedes Mal, wenn ich daran dachte, einen feinen, nicht unangenehmen Stich im Brustkorb versetzte. Hier unten befand sich nun der umgeschichtete Haufen und hier waren nun die Maden und Fliegen, das Rauschen und das Summen, der Gestank und dann und wann ein blubbernd entweichendes Zischen aus geblähter Leibeshöhle.

Ich löste die Basis auf, zerschnippelte nackt vor der Toilette hockend den Overall, die Plastikfolien, die Handschuhe, die ich nicht gebraucht hatte, spülte ab, schnippelte, spülte ab, wischte, nachdem ich geduscht hatte, das Badezimmer und alle Flächen, die ich berührt haben mochte, mit meinem benutzten Handtuch ab, schnippelte es klein, spülte ab, schnippelte, spülte ab, zog mich an, kämmte mich mit den Fingern und stand kurz darauf ein, wie ich hoffte, letztes Mal an der Rezeption und überreichte Mick in einer Feierlichkeit, die etwas zutiefst Melancholisches hatte, die Haushaltsschere, die er mir vor vielen Tagen geborgt hatte, eine Rolle schwarzer Müllsäcke sowie vier Kleiderbügel aus Draht. Mick sah krank aus, ausgezehrt, zittrig. Auf den Papieren vor ihm wand sich eine Made. Er folgte meinem bestürzten Blick und fegte sie mit der Handkante auf den Boden. »Sie soll jetzt sofort hierher kommen«, sagte ich. »Zum Putzen. Und du brauchst dringend etwas Gesellschaft.« Ich nahm einen Geldschein aus der Tasche und legte ihn vor Mick auf den Tresen. »Damit könnt ihr einen draufmachen, wenn ihr so was mögt. Feiern, meine ich. Sich einen … hinter die Binde kippen. Meine Arbeit hier ist erledigt. Sie müssen mir nur noch – schau dir diese Sauerei an! – neue Schuhe kaufen, dann kann ich mich anderen Aufgaben zuwenden. Grüß mir bitte ganz lieb deinen Kollegen. Ich werde das gute Essen und eure vortreffliche Betreuung vermissen.« Ich zog einen zweiten Schein aus der Tasche. »Das ist für die erstklassige Versorgung. Und deine Latina soll, wenn sie schon mal dabei ist, auch hier drin in deinem Kämmerchen mal gründlich saubermachen.«

Ich tippte mit dem Zeigefinger an einen nicht vorhandenen Stetson und ging davon, ohne mich umzusehen. Im Treppenhaus hob ich für die Kamera grüßend die Hand, dann stand ich vor dem Hotel und steckte mir, die Flamme mit der hohlen Hand beschirmend, eine Zigarette an. Etwas war zu Ende. Ein kleines bisschen wehmütig wie nach jedem beendeten Job deckte ich mich mit Spirituosen ein und schlenderte zu Fuß nach Hause. Jérôme lag bäuchlings auf dem Sofa und wollte nicht mit mir sprechen. Er sagte nur: »Ich habe es ihm ausgerichtet. Er will dich morgen sehen« – und nannte mir Zeit und Treffpunkt. Ich nahm ein Bad, rauchte zu viel, ließ die Kippen im abkühlenden Wasser schwimmen und ging danach zum Trinken ins Bett.

Anfangs waren meine Gedanken wie eine magere Katze, die sich an der Mauer einer Ruine entlangdrückt. Nach der ersten Flasche waren sie wie eine behaglich auf einem Sonnenfleck nahe dem Fenster zusammengerollte Katze. Und als die zweite Flasche zur Neige ging, waren meine Gedanken wie der Vortag für eine jagende Katze – oder besser: wie die Erinnerung an den Vortag –, eine Leere, die nicht als Leere empfunden wird, eine unsichtbare Lücke, ein fehlendes Puzzleteil, dessen Fehlen niemand bemerkt, da diejenigen, die wissen, was ein Puzzle ist, schon vor langer Zeit fortgegangen sind, unbemerkt haben sie diese Welt, in die es sie aufgrund eines Unglücks verschlagen hat, wieder verlassen – und zurück blieben die, denen man die Türen vor der Nase zugeschlagen hat, oder die zu jung waren, um die Türen zu erkennen, oder für die es hier sicherer war als drüben.

Am nächsten Tag war das Gefühl der Leere einer bitteren, selbstmitleidigen Entschlossenheit gewichen. Die Bettdecke zum Kinn gezogen, rauchte ich im rhythmisch pochenden Halbdunkel des kalten Zimmers zwei oder drei Zigaretten, bis der Kopfschmerz halbwegs erträglich war. Ich stank nach Suff, Schweiß und seltsamerweise nach Zoohandlung. Meine Zunge lag hinter den pelzigen Zahnreihen wie etwas Angeschwemmtes aus Sackleinen. Im Zimmer war es still bis auf das gelegentliche Gluckern der Heizung, doch von draußen her fräste sich Jérômes Schnarchen durch das Türblatt. Im Bestreben, schneller als üblich wach zu werden, trank ich die Wein- und Schnapsreste aus allen Flaschen, die von der Matratze aus erreichbar waren, diesem floßähnlichen Gefährt, das nach den Kalmen einer in Lähmung verbrachten Nacht an die öden, von Morgennebeln verschleierten Gestade des neuen Tages gespült worden war, einem weiteren Kreidestrich an der Wand meines Gefängnisses. Ich hoffte zwar inständig, das Treffen mit dem Lotsen würde zu einer wie auch immer gearteten Verbesserung meines vom Hirnfieber beherrschten Daseins führen, verachtete mich aber gleichzeitig für diesen Wunsch. Vermutlich dürfte ich mich bereits glücklich schätzen, wenn er mir die Schuhe ersetzte. Schweine machen keine Geschenke, dachte ich in der alten Sprache, Schweine gehören geschlachtet.

Inzwischen hatte ich mich aus dem Bett gekämpft und hockte, ein Handtuch über der Schulter, mitten im erleuchteten Zimmer, während die an langem Kabel von der Decke baumelnde Glühbirne bedächtig hin und her schaukelte. Ich zitterte vor unterdrückter Wut. Dieses Schwein, dachte ich. Dieses verfluchte Schwein! Ich biss in den Unterarm, bis ich Blut schmeckte. Das brachte mich zur Besinnung. Ich machte mir einen Druckverband aus einer herumliegenden Socke, zog in einer Anwandlung kindischen Trotzes den am stärksten nach Verwesung riechenden Anzug an, bewaffnete mich mit einem vor vielen Jahren selbst geschnitzten, gut in der Hand liegenden Schlagstock aus Erlenholz, dessen Kaulquappenkopf ein Kranz halb eingeschlagener Nägel umgab, band mir schließlich, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, die Metallkette um den seit Tagen froschähnlich geblähten Bauch und entriegelte, nachdem ich Mantel und Mütze angezogen hatte, die Tür und drehte leise den Schlüssel im Schloss.

Jérôme, der quer auf der Schwelle lag, schnarchte friedlich weiter, die Schenkel am Bauch, die Wange auf den wie zum Gebet gefalteten Händen. Bevor ihn mein Vater in die Pflicht genommen hatte, sich für alle Zeiten um mich zu kümmern, war Jérôme einer unserer Brückenwächter gewesen. Er hatte, wenn ich mich recht entsinne, unter der Ostbrücke gehaust, einem wuchtigen und dennoch pittoresken, aus Findlingen unterschiedlicher Größe gefügten Bauwerk, das sich in Sichtweite der See über den Wassergraben spannte, der die Feste und die dazugehörigen Felder und Wäldereien umgab, in denen die kreisrunden Tanzplätze wichtiger als die Bäume waren. Unsere vier Brückenwächter lebten vom Wegzoll, den ihnen die Gäste – und hierbei besonders die menschlichen – in Form von Naturalien entrichteten. Verirrten Wanderern oder Reisenden, die weder Brot, Käse noch Dunkelbier mit sich führten, oder Störenfrieden, deren Anwesenheit in der Feste unerwünscht war, pflegten sie breitbeinig den Weg zu verstellen, und sollte jemand, was ausgesprochen selten geschah und das Thema vieler Spottlieder war, dennoch auf der Überquerung der Brücke beharren, wurde er zu einem Zweikampf mit bloßen Fäusten aufgefordert, den die vor Kraft strotzenden Wächter natürlich mit Leichtigkeit gewannen.

 

Obwohl sie selbst in der Feste gefürchtet waren, hätte sich niemand erdreistet, die Treue der Brückenwächter in Frage zu stellen. An Sonn- und Feiertagen brachten ihnen vor Angst schlotternde Küchenjungen Körbe mit Austern, Wildpastete, kaltem Braten und gewürztem Wein. Manch einer kehrte mit einem kostbaren Geschenk zurück: einer silbernen Gemme, einem mit Edelsteinen besetzten Helm, einem Stückchen schwarzen Holzes, das einen fließend die Sprache der Raben sprechen ließ, wenn man es unter die Zunge legte. Oder er kehrte mit einem Tongefäß voller Flussbarben zurück, die der Wächter geangelt hatte, oder einem Dutzend fetter, schmackhafter Weinbergschnecken – oder einem verrenkten Arm, einem rüde aus dem Hüftgelenk gekugelten Bein oder einem grün und blau geschlagenen Auge.

Die Jahre des Wartens unter der Brücke hatten Jérôme grüblerisch werden lassen. Das wäre mir nicht anders ergangen! Damals im Dänischen Wohld hatte er Stunde um Stunde damit zugebracht, in das sich im Wind kräuselnde Wasser jenseits des Brückenschattens zu starren, auf das die Sonne ihre glitzernden Netze warf, heute versenkte er sich in Bücher, die zu lesen dem Seelenfrieden abträglich war, und spürte bei der Lektüre wahrscheinlich noch immer die feuchtkühle Innenwölbung des Brückenbogens am Rücken oder er lagerte, wobei ihn meist der Schlaf übermannte, vor meinem Zimmer, wenn, wie er einmal gestand, die Sorge um mich nicht mehr auszuhalten sei. Ich betrachtete ihn halb mitleidig, halb stolz wie ein das Haus verlassender Waldläufer seinen am Küchenkamin zurückbleibenden altersschwachen Lieblingshund, ließ die Tür offen, damit er beim Erwachen wusste, dass ich gegangen war, und stieg mit einem Schritt über meinen schnarchenden Beschützer. Die Kette um meinen Bauch klirrte verhalten.

Als ich im Aufzug zu pfeifen begann, stellte ich überrascht fest, dass mich allein die Gewissheit in Hochstimmung versetzte, im Laufe des Vormittags jemanden zu treffen, dem ich nicht nur mein gegenwärtiges Leid klagen konnte, sondern der es auch größtenteils zu verantworten hatte und von dem ich daher – zumindest theoretisch – eine Art Wiedergutmachung, und sei sie nur symbolischer Art, fordern könnte. Ich grüßte den Pförtner, der rasch den Blick senkte, und stellte beim Verlassen des Hauses den Kragen hoch. In der Luft lag ein Geruch oder vielmehr die Ahnung eines Geruchs, der baldigen Schneefall verhieß. Laut pfeifend durchquerte ich den Union Square Park, stieg unter einem an einen flachen Samuraihelm erinnernden Pavillon in den Untergrund und fuhr mit der 6 downtown. Wenige Meter hinter der Station Brooklyn Bridge – City Hall wechselte ich durch einige elegante Manöver in die 5, die in einem sich unmerklich nach Norden stülpenden Bogen bis zum Gare d’Austerlitz fuhr, wo ich umsteigen würde. Obwohl der Wagon kaum besetzt war, hielt ich mich einhändig an einer speckigen Metallstange nahe der Tür fest und legte mich übermütig in jede Kurve. Hinter meinem Spiegelgesicht schossen Drahtkäfige mit gelben rechteckigen Lampen vorbei, und den bröckelnden Putz überzogen glitzernde Spinnweben, gewirkt aus feinsten Silberfäden. Je näher die Bahn einer unterirdischen Station kam, desto mehr bonbonfarbene Büschel gekappter Kabelstränge ragten aus den Wänden, seltsame submarine Gewächse, und immer wieder tauchte im Dunkel, das hinter meinem unrasierten Spiegelbild dahinströmte, wie ein gelungenes, aber dennoch unendlich abgeschmacktes Zauberkunststück ein gleißend hell erleuchteter Bahnsteig auf … wurde langsamer … noch langsamer … erstarrte zum Bild.

Ich stieg Maubert – Mutualité aus, ertappte mich erneut beim Pfeifen, öffnete auf der Treppe hinauf ins Tageslicht den Mantel, kaufte in einer Bäckerei am Boulevard Saint-Germain ein Baguette und in einer nahen Charcuterie ein Stück korsische Lammsalami und marschierte – mal links von der Wurst, mal rechts vom Brot abbeißend – die Rue Lagrange in nördliche Richtung zum Quai de Montebello. Hier, am linken Seineufer, sollte ich den Lotsen in einem Café treffen, dessen Namen mir Jérôme zwar nicht genannt, aber dessen Standort er so gut beschrieben hatte, dass ich es mühelos würde finden können. Mit dem verbliebenen Brot wischte ich das Fett von Händen und Lippen und rauchte, gestützt auf einen gelben einbeinigen Briefkasten, die erste gut schmeckende Zigarette des Tages, scheinbar mesmerisiert von den Menschenmassen jenseits der Pont au Double. Sobald ich Gewissheit hatte, nicht verfolgt zu werden, schnippte ich die Kippe in den Rinnstein, wandte mich nach Osten und steuerte im Laufschritt den Treffpunkt an.

Den Quai de Montebello begrenzte linker Hand – hinter kahlen Platanen und grünen Bänken – die süßlich nach Urin riechende, hüfthohe, mit den Kästen der Bouquinisten bepackte Ufermauer der Seine. Zu meiner Rechten erhob sich in schäbigem Graubeige der Steinwall einträchtig Schulter an Schulter stehender Häuser des 5. Arrondissements. Meine Laune sank. Als ich den Namen des Cafés auf der Markise entziffern konnte, verspürte ich den Wunsch, die Straßenseite zu wechseln, um das Gelände zu sondieren, doch da öffnete sich die Glastür und der Lotse trat ins Freie wie ein Superkargo auf die Brücke. Ich nahm die Mütze ab, grüßte. Er baute sich unter der weinroten Markise auf, sah mich lange an, schüttelte schließlich den Kopf, als könnte er etwas nicht fassen, und verschwand wieder im Inneren des Cafés. Dabei vollführte er, vielleicht unabsichtlich, eine Geste, deren grausame Beiläufigkeit mir mit einem Schlag bewusst machte, dass dieses Treffen nicht anders als die vorherigen verlaufen würde: Der Bittsteller stammelt, versteht kaum die Hälfte dessen, was beredet wird, und bleibt am Ende erniedrigt und beschämt zurück. Richtet man einen jungen Bären ab, genügt es vollauf, ihn mit einem dünnen, um den Knöchel geschlungenen Seil an einen in die Erde gerammten Pflock zu binden. Ist der Bär dann ausgewachsen, kann man ihn mit demselben dünnen Seil weiterhin gefangen halten, obwohl er es mühelos zerreißen könnte. Dies habe ich als Kind einen fahrenden Gaukler behaupten hören, der in den Stallungen nächtigen durfte, und kann daher nicht beschwören, ob es stimmt – aber ist das nicht unerheblich? Sollte sie nicht oder nur zum Teil der Wahrheit entsprechen, so steckt doch zumindest sehr viel Wahres in der Geschichte vom Bären und seiner eingebildeten Fessel.

Im Inneren des Cafés war es kälter als draußen. Über den Tresen war eine Art Bettlaken gebreitet. Vor der Treppe, die zu den Toiletten hinabführte, lag ein Haufen grauer Säcke oder Decken. Getränkekisten stapelten sich überall und in den Ecken des Raums sammelten sich Staubmäuse. Der Lotse war der einzige Gast. Mit dem Rücken zur Tür saß er an einem runden Tisch, auf dessen Marmorplatte ein leeres Glas und eine übergroße Karaffe gekühlten Wassers standen. Ich knöpfte den Mantel zu, damit er die Kette nicht bemerkte, trat in sein Blickfeld. Er wies mir einen Platz an, ich setzte mich und legte, was ich sofort bereute, die Füße mit den ruinierten Schuhen auf den Nachbarstuhl. Diese Sitzhaltung war mehr als nur unangemessen! Sofort begann ich mich unbehaglich zu fühlen, wagte aber nicht, die Füße vom Stuhl zu nehmen, weil das als Schwäche hätte ausgelegt werden können und alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Ich knöpfte die obersten beiden Mantelknöpfe wieder auf, lockerte den Kragen des Hemdes. Neben mir gab der Lotse ein ersticktes Geräusch von sich und atmete von nun an nur noch durch den Mund. Bestimmt, dachte ich mit feiger Genugtuung, stinke ich, als hätte ich zwei bis zum Rand gefüllte Hände wimmelnder Verwesung aus dem Leichenhaufen geschöpft und sie mir wie Eau de Toilette ins Gesicht geklatscht. Ich rieb über meine stoppeligen Wangen, sah aus dem Fenster.

Die meisten Bücherkästen waren zugeklappt. Wenige Passanten, kaum Touristen. Selbst die Hunde hatten es heute eilig und zerrten an den Leinen. Ich hob den Blick: Tuscheschwarz und flächig stand vor dem grautrüben Himmel das Astwerk der Platanen und dahinter war die Südrosette der Notre-Dame zu erkennen, imposant und doch filigran wie geklöppelte Spitze. – Es gehört nicht hierher (und ich weiß nicht, wieso mir das ausgerechnet jetzt einfällt), aber in der Heimat habe ich einmal eine musizierende Grille belauscht, deren Geigenspiel mich so berührte, wie es heute kaum der dritte Satz von Beethovens Streichquartett Nr. 16 in F-Dur vermag. – Westlich der stumpfen Hörner der Notre-Dame, die mit knöchernen Strebebögen ihren plumpen Hinterleib vom Inselboden hochstemmte, erhob sich die Polizeipräfektur mit ihrem planvollen Wirrwarr aus gebohnerten Gängen und Treppen. Östlich der Kathedrale erstreckte sich das Dächermeer bis zum dunstigen Horizont: ein kabbeliges Gewässer aus mattgrauem Zink voller schräg stehender Antennen und stolz Fahrt aufnehmender Schornsteine mit diesen an umgedrehte Blumentöpfe erinnernden Aufsätzen, für die es in wahrscheinlich keiner Sprache der Welt einen Namen gibt. Trotz der Kälte bot ein einsamer Bouquinist schräg gegenüber irgendwelche Poster oder gefälschte Kupferstiche feil. Er war auffallend bullig, redete mit sich selbst. Neben ihm auf der Bank lag ein Clochard mit Pferdeschwanz und stellte sich schlafend. Die Ähnlichkeit der hiesigen Gefolgsleute des Lotsen mit Cal und Jermyn irritierte mich. Die beiden konnten es jedoch nicht sein, denn sie hätten umständlich per Flugzeug oder Schiff anreisen müssen. Auch der Kellner war ein Handlanger des Lotsen: Mit dem gestärkten weißen Hemd, dem schwarzen Chilet, der albernen roten Fliege und der vor die Hüfte gebundenen roten Schürze glich er mehr einem Schauspieler, der einen Kellner spielt, als einem wirklichen Kellner.

Ich bestellte einen doppelten Pastis, steckte mir eine Zigarette an.

Der Lotse tadelte mich mit nachsichtigem Spott: »Du bist wohl lange nicht vor Ort gewesen. Man darf hier nicht mehr in den Cafés rauchen, mein Junge!«

Ich ärgerte mich über den faux pas, bis mir auffiel, dass der Lotse selbst rauchte. Er zwinkerte mir zu, formte ein O mit den Lippen und ließ einen aufrechten Rauchring über die Tischplatte schweben. Seine Zigarette roch nach indischen Gewürzen und steckte in einer silbernen Spitze, einem Utensil, das ihm zusammen mit dem Backenbart, der Uhrenkette und dem vor der Brust baumelnden Monokel das Aussehen eines viktorianischen Gentlemans gab. Er war um einiges älter als ich, hatte wohlgeformte Lippen, eine Raubvogelnase und volle rote Wangen. Wieder trieb ein Rauchring über den Tisch, zerfranste, löste sich auf. Plötzlich beugte der Lotse sich vor, legte die Hand schwer auf meinen Schenkel, schnupperte mit geweiteten Nüstern, lehnte sich zurück und seufzte, als hätte ich ihn mit irgendetwas, das ich getan oder nicht getan hatte, enttäuscht. Für einen der unsrigen besaß er eine ungewöhnliche Physiognomie: breite Schultern, den Schmerbauch eines Bonvivants, einen Stiernacken. Normalerweise sind wir eher schmal gebaut, zierlich, feingliedrig. Aber was rede ich hier um den heißen Brei herum: Als Hund hätte ich in der Gegenwart des Lotsen die Ohren angelegt und winselnd den Schwanz eingezogen. Und als Tanzbär wäre ich nie auf die Idee gekommen, am Seil zu zerren, um seine Festigkeit zu prüfen.

Endlich brach er das Schweigen: »Du wolltest mich treffen.«

»Ja.«

»Du kommst zu spät zu unserer Verabredung.«

Ich entschuldigte mich und nahm die Füße vom Stuhl.

»Vergeude bitte nicht noch mehr von meiner Zeit. Was willst du?«

»Mich erst einmal dafür bedanken, dass sich dieses Treffen einrichten ließ.«

 

Er winkte ungeduldig ab. »Ich helfe gerne, wenn ich kann.«

»Ich brauche Kalk.«

»Kalk.«

»Einige Säcke.«

»Reden wir hier von Ätzkalk?«

»Keine Ahnung. Kalk. Ich brauche Kalk.«

»Reden wir von Calciumoxid?«

»Scheiße, ich bin doch kein Chemiker!«

»Nein, das bist du nicht. Aber so wie du, wie soll ich sagen, riechst, gehe ich davon aus, dass deine Forderung etwas mit deiner letzten … ähm … Aufgabe zu tun hat. Und da du mir jetzt nicht widersprichst und es demnach so ist, gehe ich weiterhin davon aus, dass du von mir ungelöschten Kalk verlangst.«

Ich fühlte mich den Tränen nahe, nickte vage.

»Aha.« Zu einem unsichtbaren Dritten: »Er verlangt Ätzkalk von mir!«

»Meinetwegen Ätzkalk! Ich brauche das Zeug säckeweise.«

»Das ist kein Grund, sich aufzuregen!«

»Ich rege mich nicht auf.«

»Tust du wohl, mein Junge. Das ist dein Problem. Du hast nie begriffen, wo deine Grenzen sind. Also Schluss jetzt! Morgen stehen einige Säcke bereit.«

»Wo?«

»Wo wohl? Natürlich im obersten der drei Zimmer.«

»Sind es Tore?«

Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Es sind bloß Zimmer?«, fragte ich.

»Vergiss es! Du weißt, dass du nicht zurückkannst.«

Als würde mir eine im Feuer erhitzte Ahle ins Hirn getrieben, begriff ich zweierlei: Zum einen, wie überflüssig mein Anliegen war, und zum anderen, wie lächerlich ich mich damit machte. Jérôme hatte mir nur empfohlen, Kalk zu besorgen, weil er nicht wissen konnte, dass meine Arbeit im Hotel beendet war! Was sollte ich denn jetzt noch mit Kalk anfangen? Der Kellner brachte den Pastis, sagte oder fragte etwas, ich schnitt ihm das Wort ab, gab einen Schuss Wasser aus der Karaffe ins Glas, brachte die Eiswürfel mit einer kreisenden Handbewegung zum Rotieren, betrachtete versonnen das Milchigwerden der Flüssigkeit, nahm einen kühlen samtigen Schluck. Der Gestank sei wirklich nicht auszuhalten. Der Atem des Lotsen zischte durch seine Zähne. Er beugte sich vor, legte mir die Hand auf den verletzten Unterarm, um den ich die Socke gebunden hatte. »Also gut. Du sollst den Kalk bekommen. Betrachte ihn als eine Art Gratifikation für zufriedenstellende Leistungen … Aber da gäbe es noch etwas zu bereden.«

»Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Der Troll stellt zu viele Fragen.«

»Welcher Troll?«

»Der, mit dem du zusammenlebst. Dein Gehilfe.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Was gibt es denn da zu verstehen, mein Junge. Er fragt zu viel.«

»Wen fragt er was?«

»Na, uns!« Der Lotse erhob die Stimme und zeigte zum ersten Mal sein wahres Gesicht. »Er fragt uns so viel, dass wir uns Gedanken zu machen beginnen, auf welcher Seite er steht. Verstehst du? Wir beginnen uns allmählich zu fragen, ob er uns – und natürlich dir – wirklich noch loyal ergeben ist. Du solltest mit ihm reden oder dir einen neuen Gehilfen suchen.«

Die Ufermauer der Seine. Die Südrosette der Notre-Dame. Das graue Dächermeer. Mit den Jahren war aus dem Seil ein schweres Tau geworden. Eigentlich hätte der Lotse meine Hand küssen müssen! Ganz so, wie er es bei unserem ersten Treffen getan hatte. Wenige Tage nach dem Rauswurf bei meinen Pflegeeltern hatte er auf einmal im Laub neben der Parkbank am Schreventeich gekniet, auf der ich den Anzeigenteil der Kieler Nachrichten studierte, und mir, ehe ich es verhindern konnte, die zum Kuss gespitzten Lippen auf den Handrücken gedrückt. Und dann hatte er mir mit einer tiefen Verbeugung seine Dienste angeboten. Ich stellte die drei Fragen. Ich erhielt die drei Antworten. Ich nahm seine Dienste an. Zwei oder drei Jahre hatte es tatsächlich den Anschein, als wollte er mir helfen, zurückzukehren und die Position einzunehmen, die mir von Rechts wegen zustand, aber inzwischen war ich eine seiner Spielfiguren geworden und vermochte nicht zu sagen, wie es so weit hatte kommen können. Ich gab meiner Stimme einen festen Klang. »Wie können Sie an Jérômes Integrität zweifeln?«

»Ich weiß nicht, wer das sein soll. Rede mit deinem Gehilfen!« Er runzelte die Stirn und sprach wie zu sich selbst: »Mich würde wirklich interessieren, weshalb er in der Nacht des Angriffs nicht auf seinem Posten war.«

»Nach dem Fall von zwei Brücken hat er sich in die Feste zurückgezogen.«

»Und wie hat er, bitte schön, vom Fall der anderen Brücken erfahren?«

»Es ist absurd, an Jérômes Integrität zu zweifeln!«

»Absurd? Ein Wort ohne jeden Sinn! Nichts ist absurd. Nicht einmal das so genannte Absurde ist absurd.« Er sann kurz nach und fiel zu meiner größten Bestürzung in die alte Sprache: »Misstrauen ist der Vater des Erfolges. Merk dir das! Ich dachte, man hätte dir wenigstens das beigebracht. Aber du warst leider so jung, so«, er suchte nach Worten, »unausgebildet. Man hat dir so wenig Wichtiges vermitteln können, weil du … wie soll ich sagen … weil du anders warst. Und so brachte man dir nicht einmal die geläufigsten Redensarten und Bannsprüche bei, verschob es von Woche zu Monat, von Monat zu Jahr und schließlich von Jahr zu Jahr. Du warst leider in jeglicher Hinsicht schwächer, als du hättest sein sollen … ein Problem war das, ein großes Problem … der Kummer deines armen Vaters. Da kommt nach Jahren endlich ein Sohn und – ach, das war für ihn so unendlich traurig! Immer nur mit diesem Äffchen beschäftigt … aber wie dem auch sei … du behältst selbstverständlich die Schlüssel zu den Zimmern!«

»Weshalb?«, fragte ich, nun auch in die alte Sprache fallend.

»Vorsicht, mein Junge!« Seine Handfläche schmeckte nach Kardamom, Garam Masala und Akazienhonig. »Nicht hier! Man könnte uns belauschen. Du bist mit allem, was du tust, so entsetzlich leichtfertig!« Er nahm die Hand von meinem Mund, betrachtete mich durch das Monokel. »Aber so warst du schon als Kind. Zeitweise hatte dein Vater sogar den Verdacht … ach, da fällt mir eine zweite Sache ein, die ich dir sagen muss.« Er sah mich durchdringend an. »Erwarte in der nächsten Zeit bitte keine Spesen, mein Junge. Man hat uns informiert, dass du das Geld an dich genommen hast. Nein, leugne es nicht! Mach alles nicht noch schlimmer … Ach, was soll’s! Meinetwegen darfst du das Geld behalten.« Er schlug die Beine übereinander, ließ das Monokel mit einem Heben der Braue fallen und lachte mir unverschämt ins Gesicht. »Wer, wenn nicht ich, hätte dafür Verständnis! Wir sind, nun ja, manche würden uns ›geborene Diebe‹ nennen, haben es auch oft getan und sogar Gedichte und Lieder darüber geschrieben, wiewohl ich für meinen Teil jedoch dazu neige, uns …«

Da platzte die angestaute Wut in einem Aufschrei aus mir heraus: »Ich bestehe – und da lasse ich auch nicht mit mir reden – auf neuen Schuhen!«

Tags darauf schneite es. Dicke schwere Flocken fielen dicht an dicht in den Schwindel erregenden Schluchten zwischen den Gebäuden zu Boden, so dass man die gegenüberliegende Hauswand nicht sehen konnte. Ich erinnerte nicht, was geschehen war, nachdem ich den Lotsen angebrüllt hatte. Das Einzige, woran ich mich erinnerte, war etwas gänzlich Belangloses, nämlich dass es auf der Toilette des Cafés, die kaum größer als ein Kleiderschrank war, einen Bewegungsmelder gab. Saß man zu lange still, wurde es dunkel, und man sah sich gezwungen, hektisch den Arm hin- und herzuschwenken, bis das Licht wieder anging. Jérôme und ich standen nebeneinander am Fenster, betäubt vom taumelnden Weiß. Ich hatte keinen Schimmer, wann, wie und in welchem Zustand ich nach Hause gekommen war, wollte mir aber nicht die Blöße geben, Jérôme danach zu fragen, der mich gelegentlich mit leicht schräg gelegtem Kopf musterte. An diesem Tag redeten wir ohnehin nur das Nötigste. Gegen Abend verließ ich kurz das Haus, um etwas zu trinken zu besorgen, dann wurde die Matratze wieder zum davontreibenden Floß. Ich betrank mich, glitt vom Rausch in den Schlaf, erwachte mit einem Aufschrei, hatte ich doch den Eindruck, als strömten unermessliche Wassermassen gurgelnd ins Zimmer. Da ich zu ertrinken fürchtete, sprang ich aus dem Bett, Flaschen fielen klirrend um, ich verharrte keuchend, doch den Raum erfüllte lediglich das Gluckern der Heizung.

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