Fahlmann

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«Wo habe ich was?», schnappte Bahlow.

Hennig schüttelte lächelnd den Kopf, als hätte er vergessen, was er fragen wollte. «Ruhen Sie sich aus!» Der Naseweis will natürlich wissen, wo ich die Nacht verbracht habe, aber Bilderbecks Name wird nicht über meine Lippen kommen! Niemals! Grimmig musterte Bahlow den neugierigen Paläontologen. Schlichter Strohhut (kein Helm!), eine helle Baumwollhose, die in staubigen Stiefeln steckte, über den Gürtel hing ein bis zum Sternum aufgeknöpftes Hemd. Hennig streckte die Hand aus, Bahlow wich erschrocken zurück, Hennig wandte sich kopfschüttelnd ab, ging davon.

Bei zwei Packern blieb er stehen, redete, gestikulierte. Der Schatten einer Möwe schwamm über seinen schweißdunklen Hemdrücken, stürzte ab, glitt rochengleich über den Lehmboden und beschrieb einen weiten Kreis um ein Holz-X aus zwei übereinanderliegenden Brettern. Die Welt ist eine Geschichte, weil sie aus meinen Worten besteht, dachte Bahlow in der verhassten Stimme seines Lateinlehrers. Meine Worte stehen vor den Dingen und verbergen sie. Meine Worte stehen zwischen mir und der Welt. Und trotzdem werde ich morgen meinen ersten Bericht niederschreiben, um darin alles aufzuzeichnen, was wichtig ist. Aber was ist wichtig? Was muss ich beobachten? Worauf muss ich mein Augenmerk richten? Auf mich? Ja, das ist wichtig! Und auf alles, was um mich herum geschieht. Das ist auch wichtig! Auf der rissigen Lehmhaut des Kais scheint sich beispielsweise alles um Kisten zu drehen. So könnte man das durchaus im Bericht darlegen. Dort baut man Kisten zusammen, umhüllt einen Luftwürfel mit Holzbrettern, hier füllt man verschnürte Pakete in Kisten, trägt sie davon, nagelt Deckel drauf, etikettiert sie, und neue Kisten, und neue Kisten. Als Kuider ihn nicht ansah, bestellte Bahlow einen weiteren Absinth. Vielleicht sollte ich die Jacke ausziehen und die Ärmel des Hemdes hochkrempeln. Hier in Afrika legen nur, ein erdbebenähnliches Gelächter erschütterte sein Gehirn, Holzkisten Wert auf Etikette. Mädchen in Männerhosen, über den Gürtel hängende Hemden, ein aufgeregter Telegraphist stürzte auf Bahlow zu, berührte ihn mit einem riesigen, tickenden Nussknacker am Oberarm, was wollen Sie von mir, Mann, Hennig hielt ihm eine Zeitung hin, das Telegraphenamt löste sich mit einem leisen Zischlaut auf, verschwand, Bahlow griff die Zeitung und versuchte, die Schlagzeilen zu entziffern.

«Nein», lachte Hennig mitleidig. «Für Ihren Helm.»

Bahlow verstand nicht.

«Als Futter.»

«Haha! Futter für meinen Helm!»

«Damit Ihr Helm nicht rutscht!»

Beschämt ließ Bahlow die Zeitung sinken.

«Fühlen Sie sich jetzt besser? Hier im Schatten?»

«Ein wenig. Bin dieses Klima nicht gewöhnt. Kann kaum denken.»

«Heben Sie sich das Denken für später auf, wenn Sie mit Ihren Forschungen beginnen. Nehmen Sie regelmäßig Ihr Chinin?» Bahlow wollte die Frage bejahen, doch da war niemand mehr, um die Antwort zu hören. Hämmer. Sägen. Ach, da kam Hennig wieder. «Schlucken Sie das! Nein, nicht ausspucken! Runterschlucken! Ja, so ist es gut.» Hämmer. Sägen. Ach, da kam Hennig wieder. «Sind Sie nun in der Verfassung, aufzubrechen?» – «Ja, warum denn nicht? Aufbrechen? Sofort, bitte! Auf, auf! Mein Tatendrang ist nicht zu bremsen! Aufbrechen? Bitte, ja, sofort!»

Kaum zwanzig Minuten später bildeten die beiden Weißen den Zwillingskopf einer fünfzig Mann starken Trägerkarawane, die den Staub von Lindis Straßen aufwirbelte, unsortiert dahinschritt und erst am Dschungelrand zu einer anmutigen Schlange wurde, die sich durch ein von Kasuarinen flankiertes Öhr auf einen schmalen Pfad zwängte. Die Träger waren barfuß, hatten bunte knielange Tücher um die schmalen Hüften geschlungen, und wenn Bahlow sich umsah, glänzte kaum einen Meter von ihm entfernt ein schwarzer, tätowierter Brustkorb. Die Wamuera erkenne man an den Tätowierungen, Hennig redete und redete, die vier Sargträger, die Bahlows Kiste auf zwei dicken Bambusstäben trugen, seien Wangoni, kleine Zöpfe sprossen in irritierender Willkür aus kahlen Schädeln, Hennig schwärmte von nie geahnten Erfolgen, klagte, es sei nicht leicht, mit von Geinitz auszukommen, kam übergangslos auf die Schönheit der Natur zu sprechen und begleitete die Rede mit fahrigen, linkischen Gesten. «Die großartigen Sonnenuntergänge! Sie werden begeistert sein! In der Südsee soll es ähnlich prachtvolle Sonnenuntergänge geben. Kürzlich habe ich etwas in einer Reisebeschreibung gelesen …»

Bahlow, dessen Tropenhelm gesättigt war und angenehm still saß, unterdrückte ein Schmunzeln; Hennig schien ein ernsthaftes Problem mit James Cook zu haben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit führte der junge Mann den augenscheinlich pathologisch verehrten Entdeckungsreisenden ins Feld. Hier-und-da habe Cook etwas Vergleichbares erlebt, in dieser oder jener Situation hätte sich Cook so-und-nicht-anders verhalten, überhaupt werde Cook von dem-und-dem verkannt. «Überhaupt wird Cook von allen verkannt!», rief Hennig aus, und Bahlow begann zu argwöhnen, dass man sich vielleicht niemals an das unbarmherzige afrikanische Klima gewöhnte, ein Verdacht, begleitet von jenem süßen Triumph des Schülers, der seinem Lehrer eine Lektion voraus zu sein glaubt: Hennigs Tic war nämlich in dem ansonsten so umfassenden Dossier mit keinem einzigen Wort erwähnt worden. «Oh, sehen Sie nur!» Aus den Baumkronen beobachteten sie kleine Charles Darwins; langgezogene, flache Wolken glitten durch den tiefblauen Himmelsteich über einer Lichtung; nicht jene unförmigen Galeonen des Nordens (den schwarzen Bauch voller Regen), sondern elegante, schnelle Einbäume. James Cook wollte wissen, was es Neues in der Heimat gebe. Bahlow fielen nur Banalitäten ein. Im Juli letzten Jahres überflog Louis Blériot den Ärmelkanal in 37 Minuten. Theobald von Bethmann Hollweg hatte von Bülow als Reichskanzler abgelöst. Ein winziges Insekt kreuzte den Pfad und Bahlows Überlegungen. Er bückte sich nach der Rarität, einem Exemplar der Familie der Psociden, deren Kenntnis in Europa mehr als nur lückenhaft war.

Bei dieser Art schien es sich um eine Varietät der europäischen Pterodela pedicularia L. zu handeln, ah, das ist ja interessant! Der Ramus radialis und die Media in beiden Vorderflügeln und im rechten Hinterflügel verbindet eine kurze Querader, und am Vorderflügel, wieso am helllichten Tage, Pterodela fing man nachts mit dem Lichtselbstfänger, wieso sehe ich so scharf ohne Lupe, ohne Mikroskop, eigenartige Abnormität im rechten Vorderflügel, die Analis in ihrer halben Länge mit dem Cubitus verwachsen, oder liegt hier etwa ein Exemplar der Gattung Psyllipsocus vor, wieso am helllichten Tage, wieso ohne Mikroskop, ein Riesenexemplar der Familie der Scarabaeidae stieß an seine Stiefelspitze, Bahlow berührte die Flügeldecken mit der Daumenkuppe, drückte, der Käfer ging mit zitternden Beinchen in die Knie, ein Schatten fiel auf Bahlows Hand.

«Was haben Sie denn da Schönes aufgespürt?», fragte Hennig.

«Gute Fanggründe», murmelte Bahlow stirnrunzelnd, ließ den Käfer entkommen, und die Karawane, die hinter ihnen in ehrfürchtigem Staunen erstarrt war, ein Käfermann, ein Käfermann, setzte sich wieder in Bewegung. Was gab es Neues in der Heimat? Bahlow dachte angestrengt nach. Vor seiner Abreise hatte ihm ein inzwischen in Hildesheim lebender Freund etwas Kurioses erzählt. Nein, eigentlich kein Freund, korrigierte sich Bahlow, sondern ein ehemaliger Internatsgenosse, ein seltsamer Bursche, der immer damit geprahlt hatte, er habe Knies, was sich nach langem Forschen der Mitschüler als weiße Schmiere unter dem Preputium entpuppt hatte. Knies! Ob er Hennig vom Knies erzählen sollte? Besser nicht. Vielleicht hatte Hennig selber Knies, und es wäre ihm unangenehm, darüber zu reden. «Hildesheim hat ein Selbstwähltelephonamt», sagte Bahlow.

«Ein Selbstwähltelephonamt?»

«Man kann dort seine Ortsgespräche selbst wählen.»

«Na», Hennig versuchte beeindruckt zu klingen, «die Heimat hat für uns verlorene Söhne sicherlich noch einige Überraschungen in der Hinterhand. Aber warten Sie erst einmal ab, bis wir Ihr neues Zuhause erreicht haben! Sie werden erstaunt sein, Doktor Bahlow! Der Urwald um Lindi täuscht. Bald beginnt die Obstgartensteppe, und außer dem hohen, dichten Gras und dem Bambus wird die Landschaft keinen sonderlich tropischen Eindruck mehr machen. Lichter Waldbestand, dünne Stämme, alles recht kümmerlich, aber für die Grabungsarbeiten durchaus von Vorteil. Der Name ‹Obstgartensteppe› ist überaus bezeichnend für diese Vegetationsform. Nur vereinzelt ragt eine Akazie oder eine Borassuspalme über die übrigen Wipfel empor, und nur selten verdichtet sich das Pflanzenkleid in einer kaum wahrnehmbaren Mulde zu zusammenhängendem Gebüsch oder Bambusgestrüpp.» Bahlow hörte aufmerksam zu und dachte in einem Anflug von Rührung daran, dass Hennig seine Braut «Mausebärchen» nannte. Kurz darauf fielen ihm die «Schreckens-Echsen» ein, er gluckste verhalten, zügelte aber auch weiterhin das Verlangen, sein Wissen preiszugeben oder von Bilderbeck und dem überdimensionalen Nussknacker zu erzählen, ein Bedürfnis, das merkwürdigerweise die Atmosphäre heiterer Aufgeräumtheit begünstigte, in der die beiden Männer nebeneinander einherschritten. «Die Eingeborenen», erzählte Hennig, «unterscheiden hier drei für das praktische Durchkommen verschiedene Vegetationsformen: yangwa = offene Grassteppe oder auch lichter Hochwald, mwitu = dichter, meist undurchdringlicher Busch oder Dornbusch und pori, das zwischen beiden die Mitte hält, also etwa Baumgrassteppe oder wie hier: Obstgartensteppe.»

Diese Unterscheidung der Vegetationsformen schien Bahlows eigenen Lebensweg widerzuspiegeln: Alles hatte mit der yangwa einer sorglosen Kindheit begonnen, dann durchstachen erste Barthaare die Oberlippe, Vorboten des grässlichen pori, und einige Jahre später mündete der ganze Schlamassel im Garten des von Herderschen Anwesens in eine undurchdringliche mwitu, zu der auch dieses Dornengestrüpp der Geheimnistuerei zu gehören schien, in das ihn erst Kuider in Marseille, dann Bilderbeck in Lindi gestoßen hatten. Einen verschwundenen Mann suchen! Beobachten! Berichten! Wem sollte er denn Berichte schicken? Der Firma nach Dresden-Blasewitz? Zu Händen von Herrn Kuider? Aber der hatte nicht gerade den Eindruck erweckt, für die Firma zu arbeiten. Und auch Bilderbeck arbeitete wohl kaum für die Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas. Aber für wen dann? Für jemanden, der sich als Otto Staudinger ausgab? Selbst die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass der 1830 geborene Mitverfasser des Catalogs der Lepidopteren des palaearctischen Faunengebietes vor zehn Jahren verstorben war! Oder doch nicht? Bahlow kam ein ungeheuerlicher Verdacht, und er musste kurz stehen bleiben, ehe er die Kraft hatte, weiterzugehen. Ob man die Seiten seines Lebens zwischen den zerfledderten Umschlag eines Groschenheftes geklemmt hatte, damit er als Nick Carter dem berüchtigten Verbrecherkönig Carruthers im Todesdschungel Deutsch-Ostafrikas das Handwerk legte? Mit der kleinen Einschränkung allerdings, dass sein Carruthers Valdsky hieß und seit vier Monaten verschollen war. Dem Dossier waren Photographien beigefügt. Auf jeder sieht der hagere Missionar mit den eingefallenen Wangen und der prachtvollen Hakennase am unbekannten Photographen vorbei und lächelt unglücklich den Daumen des Betrachters an.

 

Mit einem Mal begriff Bahlow, wieso ihm Bilderbeck Valdskys Sherry aufgenötigt hatte: Nur so konnte der Verschwundene den Suchenden entlohnen, noch bevor dieser die Suche aufnahm. In genau jenem Augenblick, als Bahlow den ersten Schluck von Valdskys Sherry getrunken hatte, war er zu einem Teil von Valdsky geworden – und Valdsky zu einem Teil von ihm. Valdsky hatte ihn also, obwohl er abwesend war, mit dem trockenen, weißen Sherry getauft. Bahlow nahm sich vor, den ersten Bericht mit einer scharfsinnigen Analyse dieser Theorie zu beschließen, der Pfad machte einen scharfen Knick und schleuderte seine Gedanken in eine andere Richtung. Viehzeug. Raschelnd. Zwitschernd. Bahlow erkundigte sich nach der hiesigen Tierwelt, zu der, wie sich herausstellte, Elephanten (törö), Flusspferde (selten), Nashörner (gefährlich), Riesenkatzen (haha, Riesenkatzen!), Giraffen (Bahlow merkte an, wie sehr er sich darauf freue, diese Bierlaune Gottes leibhaftig zu sehen) und Vögel gehörten, wunderbare Vögel! «Dieser ungeheure Farbenglanz der Vogelwelt!», rief Hennig aus. Sehr unangenehm dagegen seien die Schlangen. «Kürzlich spielte sich in Doktor Janenschs Hütte die nächtliche Jagd zwischen einer Schlange und einem Frosch ab, wobei es dem Frosch nur durch ein beherztes Einschreiten Janenschs gelang, mit dem Leben davonzukommen. Einmal lauerte auf der Schwelle unseres Pavillons eine Puffotter. Lachen Sie nur! Sie werden früh genug erfahren, wie wenig ich spaße! Und fast täglich finden wir in den Hütten der Arbeiter Speischlangen, eine Spezies, die es versteht, ihr Gift schon aus gewisser Entfernung dem vermeintlichen Feind ins Auge zu schleudern. Doch kommen wir zu den Insekten.» Bahlow zwang sich, aufmerksam zuzuhören. «Skorpione, Hundertfüßer, Termiten, Beißameisen, Heuschrecken und enorme Raupen gibt es am Tendaguru in Hülle und Fülle, doch mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, sogar daran, dass man regelmäßig Stinkwanzen als Buchzeichen findet, im Rockärmel, im Teewasser und Motten in der Suppe und Termiten an den Ledergamaschen und Schlupfwespen im Zelt und Ameisen im Bett und Kakerlaken in den Koffern. Weitere Plagegeister aufzuzählen, verbietet mir der gute Ton. Aber das ist nur ein Tropfen auf den sprichwörtlichen heißen Stein im Vergleich zu der Asselplage, an der Cook auf seiner dritten und letzten großen Fahrt litt. Die Asseln fraßen die Vorräte, nagten Löcher in die Segel, zerfransten das Tauwerk, ja, die Asseln fraßen sogar die Tinte von Cooks Aufzeichnungen …»

Unterdessen hatte die Karawane ihren Weg nordwärts an der Bucht entlanggenommen und überstieg nun (etwa in der Linie der Telegraphenleitung) die sich eng an die Küste schmiegende Mauer des lehmigen Kitulo-Rückens. Redete Hennig nicht, pfiff er vor sich hin, unbekümmert und falsch wie ein Kind. Überall krabbelte es, summte es, saß im Gras, putzte sich die Fühler, huschte hierhin, flog dorthin, Bahlow konnte kaum erwarten, den Lichtselbstfänger aufzustellen, der in der Reisekiste jede Unebenheit des Weges mit vorwurfsvollem Geklirre kommentierte. Hoffentlich erzählte die Kleine niemandem, dass er sie berührt hatte. Aber Bilderbeck musste ihn ja mit Valdskys Sherry betrunken machen! Ob es wohl an dieser Taufe liegt, dass es mir nicht vergönnt ist, in mein afrikanisches Abenteuer einzutauchen wie in einen Badezuber heißen Wassers, um nach Herzenslust darin herumzuplantschen? Bahlows Schritte verloren die Selbstsicherheit, unter seinem rechten Auge begann ein Muskel zu zucken, er brauchte Abstand, um kritisch beobachten zu können, schonungslosen Abstand zu der dicklichen nassgeschwitzten Person, die mit offenem Mund den Ausführungen eines jungen Schwärmers folgte. «Wie ein Käferlein am Boden eines Kornfeldes, so zieht der Mensch durch diese Wäldermassen, ohne Kenntnis dessen, was ihn umgibt, ohne die Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, ohne auch nur die allernächste Umgebung beim Marsche überblicken, ja zur Zeit der Grasherrschaft oft selbst ohne den Boden unter den Füßen sehen zu können.» Hennig ließ noch mehrere solcher wohlformulierten oder auswendiggelernten Sentenzen vom Stapel, bis sie nach einigen, schier endlosen Marschstunden ihr Lager in Yangwani aufschlugen und die weite Talaue, die sich zwischen dem Kitulo und den dahinter gelegenen höheren Plateaus des Lindi-Hinterlandes erstreckte, mit ihren hellgrauen Zelten überzogen.

Um sich die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben, schlug Hennig Schießübungen auf Sodaflaschen vor, derweil sich die Träger mit Ringkämpfen oder Musik unterhielten, wobei besonders der Gesang der Wangoni, eines überaus musikalischen Zulustammes, wie Bahlow ungefragt erfuhr, den europäischen Ohren zusagte. Bahlow warf Hennigs Boy das Gewehr zu, dieser lud es, reichte es Hennig, und eine Sodaflasche zerspritzte zu einem Regenbogen aus Glas. «Guter Schuss!», meinte der glücklose Bahlow. Beiläufig: «Was wurde eigentlich aus diesem … ähm … Missionar?»

Hennigs Boy lud das Gewehr und reichte es dem Entomologen.

«Sie meinen Valdsky? Er ist verschollen. Wahrscheinlich tot. Als er verschwand, hielt ich mich, wenn ich mich recht entsinne, in Lindi auf, und als ich zum Lager zurückkehrte, war er nicht mehr da, was jedoch, um ehrlich zu sein, niemanden sonderlich traurig stimmte, denn Valdsky, selig, war ein schwieriger Zeitgenosse. Hatte ständig Meinungsverschiedenheiten mit von Geinitz.» Unwillkürlich berührte Bahlow den speckigen, durchgeschwitzten Briefumschlag, den er diesem überbringen sollte. «Es kam zu Handgreiflichkeiten! Herr Besser von der Niederlassung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft hielt Valdsky von Anfang an für einen Aufschneider. Vielleicht hat ihn, doch dies ist nur eine Gedankenspielerei, von Geinitz enttarnt, und Valdsky sah sich gezwungen, das Weite zu suchen.» Was für ein ausgezeichneter Eistee im Bezirksamt serviert wurde!

Bahlow legte an, zielte und schoss daneben. «Ein Aufschneider?», hakte er nach.

«Behauptet jedenfalls Herr Besser, der über gute Informationsquellen verfügt. Er ist Protegé Seiner Hoheit des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg.» Aha, daher weht also der Wind! Schon streifte die vorsichtige Tangente seiner Nachforschungen die einflussreichen Kreise, von denen Kuider gesprochen hatte! Hennig legte an. «Besser wirft ein wachsames Auge auf von Geinitz. Unser», spotttriefend, «Sicherheitsbeauftragter denkt nämlich, er wäre der Leiter unserer Expedition. Von Geinitz ist ein unangenehmer Kadett, wir ertragen ihn wie eine Grippe, aber Sie», wieder zerbarst eine Flasche, «werden ihn früh genug kennenlernen. Sitaki kusoma kitabu! Haben Sie Hunger?»

«Sehr!», log Bahlow, der seine ungenügenden Schießkünste kein weiteres Mal unter Beweis stellen wollte. Nach dem Abendessen (es gab Brot, Dosenfleisch und Sodawasser) zog ihn das angsteinflößende Gefühl, genau das zu tun, was man von ihm erwartete, hinaus in den flüsternden Dschungel. Unter dem pantomimisch dargestellten Vorwand, austreten zu müssen, entfernte er sich von den frech grinsenden Wachtposten und lehnte gut hundert Meter vom Lager entfernt das Gewehr an einen Baumstamm, dessen Rinde sich Segment um Segment in den violetten Abendhimmel schob wie ein aufrecht balancierender Regenwurm. Die Römer, erinnerte Bahlow sich, hatten die gut elf Zentimeter langen, fingerdicken Larven des Hirschkäfers als Delikatesse betrachtet, und weil die Larven nur in vermodertem Eichenholz gedeihen, hatten die exotischen Gaumenfreuden nicht abgeneigten Eroberer Eichenstrünke und ganze Baumstämme in die feuchtdunklen Waldstücke ihrer nördlichen Provinzen geworfen, weil sie dort ein hohes Hirschkäferaufkommen beobachtet hatten.

Dicht neben Bahlows rechtem Stiefel erklomm ein Käfer das schrundige Riff einer freiliegenden Wurzel, ein großes Exemplar der Gattung Meloe, circa 35 Millimeter lang, ein Weibchen mit dickem, langem Hinterleib. Bahlow griff den Käfer mit behutsamen Pinzettenfingern, hob ihn hoch, merkte kaum, dass es wieder geschah, und schon strich seine Zunge über den sandig glatten Panzer, und schon verhakten sich behaarte Beinchen zwischen seinen Zähnen. Die Käfer dieser Gattung haben so dicke Hinterleiber, dass bei ihnen eine spezielle Art der Präparation erforderlich ist. Im Gegensatz zu fast allen übrigen Koleopteren, die man einfach austrocknen lässt, muss man den Exemplaren der Gattung Meloë den Hinterleib aufschneiden, die schillernden Innereien entnehmen und den Hohlraum mit Watte ausstopfen; ansonsten verfaulen die Käfer, da ihre Chitinhaut sehr dünn ist. Vorsichtig trennten Bahlows Schneidezähne den Halsschild vom Hinterleib, er spürte Bewegung im Mund, Feuchtigkeit, tastende Beinchen, Fühler, seine Zunge glitt über den feinen Schlitz der Flügeldeckennaht, und er begann wie auf einen geheimen Befehl hin zu kauen. Modrig, erdig, im Geschmack an vergammelte Miesmuscheln erinnernd oder mehlige Kartoffeln mit Knies.

Ohne erkennbaren Zusammenhang musste Bahlow an seinen Lateinlehrer denken, diese gefürchtete Autorität, die ihn in das von Herdersche Haus eingeführt hatte. «Eheu fugaces, Postume, Postume, labuntur anni!», hatte der Alte oftmals in zornigem Spott ausgerufen. «Na, meine Herren? Von wem mag das wohl sein?» – «Horaz!», antwortete die verängstigte Klasse wie ein Mann.

Ach, flüchtig entgleiten die Jahre …

«Herr Doktor Bahlow?»

Ertappt schluckend: «Ja?»

«Ach, hier sind Sie. Ich habe mir Sorgen gemacht.»

«Ich», Bahlow zupfte ein Käferbein von der Unterlippe, «war nur», Wind kommt auf, «wo selbst die Könige», blättert weiter, erstirbt. Als der Entomologe aus einem wirren Traum von unterirdischen Gängen und Kammern erwachte, schlug sein Herz nicht mehr. Die Geräusche der Steppe umwogten das Zelt wie jenseitiges Gelächter. Bahlow horchte einige Minuten vergeblich in sich hinein und betastete das Handgelenk, doch da war kein Puls. Bestürzt richtete er sich auf. Die Segel- und Taschenklappen seines Herzens hatten die Arbeit eingestellt; kein Blut strömte mehr durch die Arterien und Arteriolen. Rasch befreite er sich vom Moskitonetz, rutschte auf den Knien zum Zelteingang und schlug die Plane zurück. Gelbes Mondlicht beleckte seine pelzigen Oberschenkel und die schattige Grube der Scham, in der eine verschreckte Hirschkäferlarve schlief. Hennig, dessen feldherrliches Zelt kaum einen Steinwurf entfernt stand, veranstaltete gerade mit Hilfe einer flackernden Petroleumlampe fröhliches Schattentheater, indem er (wie um Bahlows Leid zu verhöhnen) die bucklige Gestalt eines schreibenden Gnoms auf die mottenfleckige Plane warf. Bisweilen hielt das schwarz gefiederte Abbild einer dämonenhaft vergrößerten Klaue inne, dachte nach und huschte daraufhin wieder emsig über das unsichtbare Papier. Bahlow räusperte sich, prompt hob Hennig den Schattenkopf, lauschte. Bahlow hielt den Atem an, bis der bohnenförmig gebogene Schädel wieder im Buckel des Kobolds eingesunken war. Nein, darüber durfte er nicht reden. Was sollte er Hennig denn erzählen? Entschuldigen Sie, aber ich fühle mich auf einmal so tot? Nein, das war höchstens ein Adnex für den Bericht. Darüber durfte man nur schreiben, niemals reden! Bahlow biss sich in den Unterarm und registrierte dankbar, wie ein stetig anwachsender Schmerz aus dem seitlich geöffneten Oval drang, das die Zähne in die Haut prägten. Na, also! Empfände ein Toter Schmerzen? Wohl kaum. Also bin ich nicht tot. Doch diese Schlussfolgerung hatte einen Haken, an dem ein verfaulter Köder hing: Was, wenn dies alles eine schreckliche, der Vorhölle verwandte Abart der Unsterblichkeit wäre? Der Schatten in Hennigs Zelt wuchs ins Unermessliche, räkelte sich, vollführte einige grazile Tanzschritte, die Bahlow an der Geistesverfassung des Paläontologen zweifeln ließen, und löschte die Lampe. Ich bin tot, dachte Bahlow, ich bin in der Hölle. Erst fahren sie mich unter einem unbarmherzig weißen Himmel über den Styx, dann holen mich irre Teufel am Hafen ab. Einer schleppt mich zu seiner Tochter, der andere zu James Cook, der breitbeinig auf dem Tendaguru hockt und die Sterne in seinen Riesenfäusten zerquetscht. Knackendes Geäst, flüsterndes Gras, der Dschungel kicherte und zirpte, in immer kürzeren Abständen fielen Bahlow die Augen zu, doch erst als seine Beine völlig zerstochen waren, kroch er zurück unter das schützende Moskitonetz, um mit auf der Brust gekreuzten Armen im herzschlaglosen Meer der Nacht davonzutreiben. Loch. Unter uns. Schwarz. Tief. Nicht reinfallen! Obacht! Am jenseitigen Rand des Loches angekommen, schob sich ein luftiger Teppich aus Vogelgezwitscher unter Bahlows Füße, der Schlaf glitt auf die hohe See zurück, der Schiffbrüchige erreichte das Ufer und schüttelte die Stiefel aus, in denen mehrere Stinkwanzen und ein Hundertfüßer eine erschöpfende Orgie gefeiert hatten. Die Stinkwanzen entwichen, der perplexe Hundertfüßer stellte sich nach einigen Sekunden tapsigen Umherirrens tot, ein starres, beinbewehrtes Stöckchen, das Bahlow zertrat, ehe er das Zelt verließ.

 

Natürlich schlug sein Herz, hatte es die ganze Zeit über getan, aber dennoch kehrte der Lebenswille (ein entpuppter Falter, dessen Flügeladern sich nur allmählich mit Blut füllen) erst zurück, als er sich am Ufer eines brackigen Tümpels reinigte. Mit dem Lebenswillen kam die Angst. Plötzlich erinnerte Bahlow sich nämlich daran, dass Hennig ihm erzählt hatte, wie häufig man neben den üblichen Antilopen- und Schweinespuren die Fußabdrücke von Leoparden oder Löwen in Lagernähe finde.

Er kehrte in einem Zustand mitteilsamer Auflösung zu den Zelten zurück; Hennig erwartete ihn mit einer zerbeulten Blechkanne und einer Tasse ohne Henkel. «Hier, trinken Sie einen Kaffee. Sie sehen aus, als ob Sie im letzten Augenblick dem Schlund eines Löwen entkommen wären! Zucker? Zu stark?»

«Auf gar keinen Fall. Nehmen Sie keinen Kaffee?»

«Ich habe schon. Sie sollten einen bewaffneten Boy mitnehmen, wenn Sie sich vom Lager entfernen.»

«Unglaublich, dass es Leute gibt, die ihr Leben ohne Kaffee fristen!» Bahlow leerte die Tasse, die Zelte wurden abgeschlagen und verstaut, dann marschierten sie weiter.

«Eine Frage, Doktor Bahlow! Haben Sie sich jemals mit der Paläontologie beschäftigt?»

«Nicht näher …» Er kratzte sich unauffällig am Oberschenkel. «Meine paläontologischen Kenntnisse beschränken sich auf die Beobachtung von Silberfischchen in Pariser Hotelbadezimmern.»

«Na, immerhin!», sagte Hennig, und Bahlow beeilte sich hinzuzufügen, er habe durchaus vor, seine Defizite in dieser jungen Wissenschaft («in dieser im Vergleich zum untersuchten Gegenstand bestürzend jungen Wissenschaft») mit Hennigs freundlicher Hilfe wettzumachen.

«An mir soll es nicht liegen», lachte Hennig, und die Art, wie er Bahlow dabei ansah, ließ diesen argwöhnen, dass er dem jungen Mann leid tat. Seltsam. Er tat Hennig leid. Das muss man sich erst einmal vorstellen! Er, der mittlerweile eine Monographie über James Cook hätte schreiben können, tat Hennig leid! Und gleichzeitig tat ihm Hennig leid, eigentümlich, die Überlegungen bogen sich zum Kreis, dieser begann zu rotieren, und ehe Bahlow schwindlig werden konnte, brachte er den Kreis zum Stillstand, indem er ihn in Gedanken energisch durchstrich. Gleichzeitig blieb auch Hennig stehen und zog den Kompass zu Rate. «Es geht immer nach Nordosten.» Die Nadel zitterte unter dem streng prüfenden Blick. «Nur ein Narr könnte den Tendaguru verfehlen.»

«Und was ist das?», fragte Bahlow und deutete mit der Wasserflasche auf eine Schirmakazie, in deren flachgedrückter, schiefer Krone seltsame Früchte baumelten.

«Nester des Webervogels.»

«Vogelnester?»

«So ist es», lachte Hennig.

«Schön», sagte Bahlow. «Und ich dachte schon …»

«Was dachten Sie?»

«Nichts», murmelte er. Dieser niederländische oder war es ein flämischer Maler, der diese Kreaturen, als sie am Strand spielten, schwarzweiße Reproduktionen in einem illustrierten Journal, am Strand, der eine Eule fliegen ließ, die Hitze lähmte das Denken am Strand, seine Füße marschierten im Rhythmus gedachter Lieder, eine Eule fliegen ließ, bei jedem Schritt blinkten Silben im Kopf auf, un, be, klei, det, am, Strand, ahh, ohh, uhhh, Bahlow erlief Worte, ganze Sätze, die Zeilen eines vulgären Gassenhauers, und nur in den kurzen Pausen zwischen Kehrreim und nächster Strophe war die ferne Stimme seines Begleiters zu vernehmen. Gelegentlich wurde es jedoch, und das war sehr schlimm, totenstill, und Bahlows Gedanken segelten auf den stygischen Gewässern einer bangen Gewissheit voraus. Dennoch war es nicht zu leugnen, dass man ihn sah. Hennig sah ihn. Die Neger sahen ihn. Und es war ebenfalls nicht zu leugnen, dass sein Herz schlug. Und wie es schlug! Nanu? Was hatte diese Aufregung zu bedeuten! Humba, humba, täterä! «Was sagen die?»

«Sie wollen, dass Sie mitkommen», übersetzte Hennig.

Von nun an riefen die Träger fast viertelstündlich Bahlow herbei, um ihm einen Käfer oder ein großes Insekt zu zeigen und danach strahlend zu beobachten, wie der Käfermann es durch einen eleganten Schwung des Fangnetzes seiner stetig wachsenden Sammlung einverleibte. Nur selten hörte man noch Gelächter oder ein leise gesungenes baba kufa, mama kufa. Und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Nachdem zwei seichte Zuläufe des Namgaru durchschritten waren, marschierte der kleine Trupp zwischen dem Likonde- und dem Notoplateau hinaus in das freie, weite Land der Obstgartensteppe. Mit Bahlows Gesicht tat sich derweil Erstaunliches. Als Kinder hatten sie die Ohrenquallen, die der Ostwind in die Förde drängte, aus dem Meer gefischt und sich damit erbitterte Schlachten geliefert. Hätte man ihm damals hingegen eine mit einem Stock geschleuderte Feuerqualle ins Gesicht geworfen, danke sehr, ich habe genug gesehen, Bahlow gab Hennig den Taschenspiegel zurück, das abgestandene Wasser des Tümpels hatte seiner ohnehin entzündeten Gesichtshaut übel mitgespielt.

«Verzeihen Sie! Ich hätte Sie vor stehenden Gewässern warnen sollen.»

Bahlow rang sich ein Lächeln ab. «Nun habe ich es selbst herausgefunden. Der Sonnenbrand tut sein Übriges.» Sein Unsriges? Unsriges fernem Heimats? Bahlow ergriff ein schmerzhaftes Heimweh nach Kiel, dieser kühlen, in Dunst und Sprühregen gehüllten Stadt, auf deren breiten Chausseen der Seewind regierte. Als er – oh, wie lange das nun schon her war! – das Hauptpostamt verließ, hatte der salzige Ostwind alle Wolken vom Himmel gewischt, und wie die Straßen damals dampften! In Kiel brauchte man keinen Kompass, in Kiel kannten die Füße ihren Weg, wählten Abkürzungen, erinnerten sich an Schleichpfade, blieben artig stehen, damit man die Auslage eines Tabakladens gebührend bewundern konnte. Und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff!