Fahlmann

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Er löschte die Lampe, kroch unter das Moskitonetz, spürte den Lauf der Luger unter dem linken Schulterblatt, und wie so oft in den letzten Nächten erwartete sie ihn hinter den geschlossenen Lidern. Bilderbecks Tochter trug ein gewagtes Reformkleid, er legte ihre Schultern frei, küsste feuchte Pentagramme den Rücken hinab, glitt davon. Danach lief Bahlow ziellos durch die kleine Stadt in seiner Uhr. Vor einer Konditorei blieb er stehen, die Luft roch nach Vanille, auf einmal strömte Hitze durch alle Gassen und aus dem zersplitternden Schaufenster stieg der fürchterliche Konditor, in den sich sein Lateinlehrer verwandelt hatte, und flüsterte mit glasierter Stimme: «Ich bin der Dschungel, und ich gebe dir deinen wahren Namen.»

Wimmernd wälzte sich Bahlow auf die rechte Seite.

ENDE DES ERSTEN BaNDES

BaND ZWEI

1Zumindest für einen Brief endete damals die postale Odyssee in (wenn schon klugscheißen, dann richtig!) Ithaka, dem Briefkasten der Familie Fahlmann: Sehr geehrter Herr Fahlmann, ich fürchte, wir sind der falsche Verlag für Ihre Erzählungen. Wir haben nichts Vergleichbares im Programm, und Ihnen wäre mit einer Veröffentlichung letztlich nur ein Bärendienst erwiesen. Mit der Bitte um Nachsicht, Ihre unleserliche Unterschrift. Ich warf die Rätselbotschaften, zu denen ich die Absage zerfetzt hatte – leichbar, Bärend, chsi – in die Mülltonne und machte mich auf den Weg zur Uni.

Da es immer unwahrscheinlicher schien, jemals vom Schreiben leben zu können, hatte ich vor einigen Semestern beschlossen, mein Studium so rasch wie möglich zu beenden. Die Betonung liegt hierbei auf «möglich», denn der Umstand, dass ich an zwei Tagen der Woche nicht zur Uni konnte, weil ich Särge von hier nach dort schleppte, wirkte sich nicht gerade vorteilhaft auf die Geschwindigkeit aus, mit der ich mich auf die Magisterprüfung zubewegte, eine hinterhältige Rätselfragen ausheckende Eissphinx, die drohend am intellektuellen Horizont aufragte; schwarze Wolken verhüllten ihr imbeziles Antlitz.

Bei unseren zufälligen Begegnungen im Hausflur wollte Mutter oft wissen, wie lange ich noch zu studieren gedächte. Ich beruhigte sie stets mit vagen Hinweisen auf die nahende Prüfung und stolperte geschäftig zur fragensicheren Wohnung hinauf. Mutter hatte ihr Studium genossen. Sie würde nie verstehen, wie sehr mich die Inkompetenz meiner Professoren ängstigte, die ihren vermutlich verhängnisvollsten Niederschlag in der ausgelassenen Willkür der Prüfungsfragen finden würde. Aber was war schon von Schlafmützen zu erwarten, die ihre langweiligen Vorlesungen aus überholten Nachschlagewerken zusammenkopierten! Weitaus unangenehmer als die Professoren waren jedoch die Kommilitonen, ungern lesende, sich am Hochdeutsch die Zunge brechende, Deutsch auf Lehramt studierende Kretins. Später würden sie Jens unterrichten, keinen Deut fähiger als die Lehrer, die mich während der Gymnasialzeit geplagt hatten: In jedem Kafkatext fanden sie den Herrn Papa, und der Vaterkonflikt prangte ehrfurchtgebietend an der Tafel, bis ihn das nicht weniger törichte Geformel des Mathematiklehrers umnebelte: a = p : (f + el). Bei Trakl musste regelmäßig das großnasige Schwesterchen herhalten, bei Benn waren es die Nazis und die arme Else. Der Ich-Erzähler wurde dummdreist mit dem wehrlosen Schriftsteller gleichgesetzt, und was nicht im Lehrerhandbuch steht, ist natürlich falsch. «Hallo! Bitte mal aufpassen! Das kommt in der Arbeit dran! Hört mir mal kurz zu – auch ihr da hinten in der letzten Reihe! Trochäus hat zuerst die – Moment mal, nein, das ist ein Jambus, Fah-re mit der Ei-sen-bahn, nein, verflixt noch eins, irgendwie ist das beides.» Und während man in mehrstündigen Kursarbeiten die alleridiotischsten Fragen beantwortete, raschelte der überforderte Dussel am Lehrerpult legasthenisch mit der Tageszeitung. Das alles war mir nicht erspart geblieben; das alles würde Jens nicht erspart bleiben.

Bereits in der Grundschule tyrannisierten sie ihn mit ihren wahnhaften Primitivallüren und ihrer Spannerneugierde. So hatte er einmal als Hausaufgabe für den Sachkundeunterricht seine Eltern «in Ausübung ihres Berufs» (was für mich wie «in flagranti» klang) malen müssen. Susanne setzte er auf einen Gabelstapler und ließ sie gesichtsbreit grinsend und busenlos an einem Regal mit Waschmitteln vorbeidüsen, deren bunte Packungen «Omo», «Dash» und «Weißer Riese» schrien. Mit mir hatte es Jens leider nicht so einfach, und das Bild, das er uns schließlich präsentierte, zeigte mich untätig am Küchenfenster, eine lange, traurige Bohnenstange neben einem Kaffeebecher, der auf dem frei im Raum schwebenden Strich der Fensterbank stand (die Entdeckung der Zentralperspektive stand Jens noch bevor). «Am Fenster!», stöhnte ich, nachdem wir ihn spielen geschickt hatten. Ich legte beide Bilder nebeneinander auf den Wohnzimmertisch. «Er weiß nicht, was ich mache!» – «Woher soll er das denn wissen?» – «Er muss doch wissen, dass ich schreibe!» – «Vielleicht hält er das für keine richtige Arbeit. Die Väter seiner Freunde …» – «Jaja! Schon verstanden! Die sind natürlich Baggerfahrer, Polizisten, Tierärzte, Dompteure oder Was-weiß-ich! Alles gut zu malen. Aber mit mir hat er den oberschwarzen Peter gezogen.» – «Ich werd mal mit ihm sprechen. Er kann dich ja an der Uni malen.» – Und so saß ich einige Tage später hinter einer Schulbank, die an eine aufrecht stehende Schnellhefterklammer erinnerte. Meine Arme lagen brav auf dem Tischstrich, und in der rechten Hand hielt ich ein phänomenal großes Schreibgerät. Ich sah sehr aufmerksam aus. In Wahrheit hat mich die krampfhafte Akademisierung von Literatur nie interessiert.

Meiner Meinung nach ticken Leute nicht mehr richtig, die das Vorkommen von «und» oder «Huhn» in Goethes Liebeslyrik untersuchen oder umfangreiche Monographien über Neufundländer im Romanwerk Fontanes vorlegen. Auch wenn es ausnahmsweise mal nicht um unds, Hühner oder den blöden Rollo ging, waren die Vorlesungen und Seminare, die ich besuchte, ein lästiges, zeitraubendes Ärgernis, das einem nichts vermittelte, was man sich nicht mit Hilfe eines quergelesenen Fachbuchs binnen weniger Minuten angeeignet hätte. Doch, um nun im Ton versöhnlicher und eine Spur sachlicher zu werden, in diesem Sommersemester besuchte ich meine Seminare (Thomas Manns Romane, Hausarbeit; De Saussure und die Folgen, Sitzschein) mit bewundernswerter Regelmäßigkeit, denn der Weg zur Bushaltestelle führte an der Bäckerei Gallinger vorbei.

Ich räusperte mich, bestellte eine beklommene Schnecke, hielt dem selbstsicheren, fast abschätzigen Blick tapfer stand, murmelte: «Das ist alles!» und malte mir dabei detailreich aus, dass sie längst, «ich wusste es von Anfang an», in mir, «Sie sehen so gebildet aus», den mysteriösen Verehrer, «und jetzt bitte von hinten», vermutete, der sie mit geistreich-romantischen Briefen beglückte. Unwahrscheinlich. Sie weiß ja nicht einmal, dass ich ihren Namen kenne! Jasmins Kuchenschere biss in eine rosinengespickte Schnecke, hob sie aus der Theke und versenkte sie in einer Papiertüte, die ein leises, altjüngferliches Hüsteln von sich gab, als sie mit einigen geübten Handbewegungen zugefaltet wurde. Habe dich heute wieder gesehen, sieh, ich steige hinab, in deinem Schoß zu vergessen, vielleicht sollte ich ihr einen dritten Brief schreiben, vergessen? Nur nicht! Jetzt nur nichts vergessen! Schleunigst versuchte ich, mir Jasmins Aussehen einzuprägen (vielleicht für einen Gastauftritt in meinem Roman, vielleicht für eine handlungsbegleitende Phantasie im Badezimmer), wusste aber, noch während ich es versuchte, dass als Frucht dieser Anstrengung lediglich gebräunte, kräftige Arme, ein flacher Bauch und grüne Augen Bestand haben würden. Ich lächelte, sie lächelte, sie lachte, ich zitterte, sie legte die Tüte auf die Theke, blies mit einem kecken Vorschieben der Unterlippe ein Haar aus der rechten Wimper und fragte: «Machen Sie eine Diät?»

«Nein, nein!», antwortete ich schnell und sagte dann etwas sehr Dummes: «Ich bin alleine hier.» Ein Blinder tastet sich durch einen Raum. Von der Decke baumeln Seile. Er muss an einem ziehen. Neunundneunzig Seile sind Attrappen, aber das Hundertste ist an einer Falltür befestigt, auf der ein Amboss steht. Ich zog mit aller Kraft am hundertsten Seil. «Normalerweise», fuhr ich betäubt fort, «komm ich mit Heinz.» Diese Bemerkung ließ mich so viel Boden unter den Füßen verlieren, dass es kaum schlimmer kommen konnte. Doch es kam schlimmer. «Heinz Brenner», hörte ich mich nämlich erläutern, «ein Arbeitskollege. Der wartet sonst immer draußen im …» Hoppsa! «… Auto.» Beinahe «Leichenwagen» gesagt! «Er behauptet zwar immer, dass er nichts wolle …» Stimmt hier der Konjunktiv? Großer Gott! Und wenn er stimmte, käme ihr das nicht reichlich behämmert vor? Wolle? Wollte? «… aber ich bring ihm immer was Süßes mit, und er, der Heinz, meine ich, freut sich wie … wie …» Wie was? Wie wer? Wie wer oder was freut sich Heinz? Nanu? Was mag denn wohl an diesem Seil hängen? Noch ein Amboss? Ich riss an dem herabbaumelnden Seil wie ein betrunkener Glöckner, und mir stürzte, jetzt tot umfallen bitte-bitte, ein heiseres «wie Oskar» in den Mund.

Probleme mit der Tüte, Wiedersehen, ich hob die Tüte vom Boden auf, Probleme mit dem Geldbeutel, ohweh, ich hob den Geldbeutel vom Boden auf, klemmte die Tüte unter den Arm, steckte den Geldbeutel in die Gesäßtasche, Probleme mit der Tür, fester drücken, ting, lassen Sie sie ruhig auf, dann kommt frische Luft rein, ting, Wiedersehen, danke für die Schnecke, ich erreichte die Bushaltestelle verschwitzt und beschämt.

Ich trat in der Bäckerei Gallinger auf wie ein sprachlicher Vollspastiker. Normalerweise brachte nur Susannes Mutter das Kunststück fertig, die Bildwelten zweier oder mehrerer umgangssprachlicher Redewendungen aufs Allerdümmste miteinander zu verschmelzen. Doch ihr legendärer Ausspruch «fit wie Nachbars Turnschuh» stand meinem Bäckereigestammel in nichts nach. Ob es nicht einfacher wäre, Jasmin alles zu gestehen? Ich kaufe die Schnecke nur wegen dir, ich werfe sie an der Bushaltestelle in die Tonne, denn nachher kaufe ich mir mindestens eine helle Nussecke beim Teuren Arthur, supergute Nussecken gibts bei dem, da kann man alle Schnecken vergessen, die ihr Gallinger euch so zusammenbackt …

 

Schnaubend hielt der Bus auf dem Campus. Die Türen zischelten, legten sich mächtig ins Zeug, schließlich teilten sich die dicklippigen Gummiwülste und gebaren eine Wolke junger, wissensdurstiger, lachender Menschen und ein bedrücktes, reichlich ramponiertes Exemplar der Gattung Georg fahlmanniensis L. Der hatte sich als Junge regelmäßig eine eingeschweißte Zeitschrift namens Yps gekauft, unter deren Folie ein kurzlebiges Plastikspielzeug klemmte, das den mysteriösen Namen «Gimmick» trug. Typische Gimmicks waren das Um-die-Ecke-kuck-Fernrohr, die Mondmaske oder der Zauberbumerang, unnötiger Plastikkram, den man selbst oder mit väterlicher Hilfe zusammenbaute und der längst kaputt war, wenn das nächste Yps erschien. Worauf will ich hinaus? Sie ahnen es nicht! Wetten? Nehmen wir einmal an, die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft wäre ein Ypsheftchen. Was wäre dann die Sprachwissenschaft? Richtig, sie wäre das Schwarze Gimmick, ein lästiges, sich von Schlaftabletten nährendes Nebenfach, das einem, ohne dass man sich dagegen wehren kann, mitgeliefert wird. Zum Glück machte ich bei Frau Professor Bangmann nur einen Sitzschein. Sie war eine traurige, triefäugige Koryphäe im Verschriften mundartlicher Alltagsgespräche, die ihrer Jahre als Feldforscherin (schiefes Hütchen, Tonbandgerät) mit Wehmut und leidender Flüsterstimme gedachte. Mir grauste es vor dem Seminar, vor neunzig Minuten einschläferndem Wortgeplätscher. Unweit der Haltestelle überquerte ich ein schmales Sträßlein und wurde zu einem Wellenkamm des Studentenstroms, der sich zwischen frisch gestutzten Hecken in südliche Richtung ergoss, um auf Höhe des grauen Betonturms, der so geheimnisvolle Fächer wie Experimentalphysik und Elektrotechnik beherbergte, in ein Delta der tausend Möglichkeiten zu münden, dessen dünne Arme auf staubigen Parkplätzen, vor der Buchhandlung, der Bank, dem Lädchen und den gläsernen Eingangstüren zahlreicher Gebäude versiegten.

BsssSSS (die freundliche Attacke) – SSSssSSS (um den Kopf herum) – SSSssss (in Richtung ein Uhr davon). Unerschrocken hielt der Käfer auf Bau 31 zu (Rechtswissenschaft) und wurde zu einem taumelnden Punkt vor den Betonwänden der traditionslosen, nach dem Zweiten Weltkrieg in gedankenloser Windeseile aus dem Boden gestampften Universität. Mit einem Mal erschien mir alles unwirklich. Mir war, als hätte ich die wirkliche Welt auf dem Dachboden zurückgelassen. Allein am Tisch mit der mürrischen Schreibmaschine fühlte ich mich sicher; hier auf dem Campus dagegen war ich ein ältlicher, verlegener Geist, unsichtbar für diese grauenhaft jungen Mädels in ihren bauchfreien Shirts und knappen Shorts. Jetzt, wo ich das alles wahrheitsgetreu niederschreibe, wird mir schmerzhaft bewusst, dass das Wichtigste und Erinnerungswürdigste meines Studiums die hellen Nussecken des Teuren Arthur waren. Lausche ich in mich hinein, höre ich noch immer den semitheatralischen Seufzer, mit dem er meine klingelnde Handvoll Kleingeld entgegennahm. Dienstags waren die Nussecken noch weich und köstlich, doch je näher das Wochenende rückte, desto härter wurden sie. Bevor ich jedoch an diesem Tag dem miesepetrigen Edeka-Verkäufer achtzehn Zehnpfennigstücke aus der Kleingeldtasse in die hohle Hand zählte, schlug ich in der Universitätsbuchhandlung meinen Namen im VLB nach, um mich zu vergewissern, dass es mich noch gab, obwohl mich niemand wahr-, geschweige denn ernstnahm. Danach kaufte ich ein Taschenbuch (den Chandler hatte ich letzte Nacht ausgelesen) und kuckte dabei einer Studentin in die Bluse, die sich neben der Kasse nach Philosophischem bückte.

«Don Juan war Analphabet», hatte Winkler einmal behauptet (oder zitiert?), um, ehe ich widersprechen konnte, mit einem triumphierenden Schlenker des Zigarillos fortzufahren (fortzuzitieren?): «Allein dem Voyeur, diesem Don Juan des Geistes, ist als göttliches Geschenk die Gabe des Schreibens gegeben.» Als Gegenargumente fielen mir damals leider nur ein halbes (Casanova schrieb seine Memoiren erst im Alter – also nach den Frauen) und ein gänzlich indiskutables ein, nämlich eine erfolgreiche, längst verstorbene belgische Romanfabrik, die angeblich von den Autoren, die sie bewunderten (Maugham, Gide, sie selbst), keine Bücher lesen konnte, weil diese ihr viel zu langweilig waren. Freundliche, kleine Brüste, die Studentin richtete sich auf und sah mich böse an, der un-sichtbar Seiende verliert sein un-sichtbares Sein durch das anwesende, weibliche Gewahrwerden seines ihn sichtbarmachenden Beobachtens, vielleicht sehe ich heute Viola, ich hatte sie dienstags schon einmal vor der IB getroffen, lange, rote Haare, Zahnspange, bezauberndes Lächeln, Bärendienst, was für ein Schwachsinn, ich sollte das Skript morgen gleich wieder wegschicken, guten Arsch hat sie auch, hoffentlich wird Jens nicht so wie ich, der biologische Stempel, wenigstens stehe ich im VLB, hat uns allen die Sau ins Fleisch gedrückt, bück dich nochmal, bück dich, bück dich, besucht bestimmt das Seminar über Existentialismus, glotz nicht so, du Bumskuh, wohin mit dem Buch, braucht keiner zu sehen, was ich lese, Inge, vielleicht läuft mir Inge, hat viel größere Titten, übern Weg, und jetzt nichts wie ab nach Nussecktopia.

Der Teure Arthur seufzte herzerweichend, ließ meine Zehner auf das klebrige Gummi des Warenbands fallen, und ein zählender Finger stieß auf jede einzelne Münze nieder, um sie ungläubig anzutippen, «Bon brauch ich nicht», sagte der Mensch, der ich an der Uni war (und den ich nicht sonderlich mochte), und nahm die backfrische Dienstags-Nussecke aus der Tüte. Draußen, unter der gelb-blauen, das Schaufenster horizontal teilenden Edeka-Banderole überquerte Professor Capart den Parkplatz. Unverkennbar der abgehackte Gang, der beständig aus dem Takt zu fallen drohte. Unverkennbar auch die breit aufgefächerten Hände, die auf Hüfthöhe glattstreichende Bewegungen in der Luft vollführten. Ich trödelte aus dem Laden, verzehrte die Nussecke in der Deckung einer Vogelbeerhecke und steuerte erst auf den Eingang zu, nachdem Capart schon einige Minuten lang in Bau 35 verschwunden war. Doch kaum hatte ich das Gebäude betreten, sah ich ihn im Bilderrahmen der Aufzugskabine. Eine Hand blockierte die Lichtschranke, die andere winkte mir zu. Oh, wie ich diese verhängnisvollen Begegnungen hasste! Einmal hatte Capart urplötzlich am Urinal neben mir gestanden (in Bau 12, wenn ich mich recht entsinne). Krampfhaft hielt ich den Blick gesenkt, drückte, presste und schwieg dabei so verbissen wie ein Sprengmeister bei der Entschärfung einer Nitroglycerinbombe in einem Erdbebengebiet. Vielleicht, hoffte ich in den Tagen nach diesem peinlichen Rendezvous, hat er mich nicht erkannt, denn wir hatten schweigend und versagend nebeneinander gestanden, bis ich kapitulierte, ein Erfolg vortäuschendes Tröpfchenschütteln andeutete, den Spatz wegpackte, die Spülung betätigte und mich davonstahl, um meine Lieblingstoilette in der Musikwissenschaft aufzusuchen. Bäuchel, ein Zechkumpan von Heinz, pflegte fast alles, was er erzählte (und das war nicht viel), mit der Frage «Und was lernen wir daraus?» und der prompten Antwort «Nichts!» zu beschließen, und mit einem ähnlichen Resümee (Wie weit darf eine Metapher gehen?) sollte ich diesen anekdotischen Fussel von der Weste meiner Erinnerung (so weit?) zupfen, und sofort stehe ich wieder, Spannungsmusik, Grabesstimme, im blutbespritzen Aufzug des Todes.

Professor Capart begrüßt mich herzlich (meine Veröffentlichung in einem angesehenen Verlag imponiert ihm), der Leuchtpunkt der Lichtschranke verlässt seinen braun gesprenkelten Handrücken, wird unsichtbar, und die zugleitende Tür beschert uns eine unerträgliche Intimität. Ich schnüffele verhalten. Die Flügel von Caparts fleischiger, an der Spitze gespaltener Nase überzieht ein Heer schwarzer Mitesser; im rechten Mundwinkel baumelt ein kleiner, trockener Krümel; das linke Auge wirkt ungewöhnlich feucht. Worüber soll ich mit ihm reden, mit diesem unentwegt Horaz zitierenden Langweiler, dieser tragischen Gestalt, die darunter leidet, dass ihre großen Jahre in Tübingen und Brüssel vorbei sind, diese glanzvolle Zeit, in der die Fachwelt ihre Publikationen noch raunend zur Kenntnis nahm? Seit vielen Jahren hat Capart keinen Satz mehr veröffentlicht. Mit stockendem Staunen trägt er seine alten Vorlesungen vor und katapultiert damit die nichtsahnenden Studenten zurück in die siebziger Jahre. Alle ernstzunehmenden Arbeiten bürdet er Polkinger auf. Der würde meine Magisterarbeit zwar als einziger Erdbewohner lesen, recht begabt, und die Ränder mit seinen ahnungslosen Anmerkungen verzieren, stilistisch schwach, ungenauer Ausdruck, schwerer logischer Fehler, aber wie ein greiser römischer Imperator, der schon bessere Zeiten gesehen hat, behält Capart sich das Recht vor, die alles entscheidende Endnote zu vergeben. Am besten unterhalte ich mich mit ihm übers Wetter. Der Aufzug löst sich mit einem motivationsarmen Ruck. «Jetzt gehts los, Herr Fahlmann!», sagt Capart aufgeräumt und gibt mir erneut Gelegenheit, Bekanntschaft mit seinem säuerlichen Mundgeruch zu machen, der sich heute mit einem mich melancholisch stimmenden Mottenkugelduft mischt, der aus dem Sommeranzug aufsteigt. «Na», der Krümel springt auf den Hemdkragen, wo er sich sichtlich wohlfühlt und es sich bequem macht, «was macht die Wissenschaft?»

«Gut», sage ich. «Trotz», und jetzt ist es soweit, «des Wetters.» Ich bemühe mich, ein intelligentes Gesicht zu machen, Doppelnullnummern, das um Tage verspätete Echo eines James-Bond-Vortrags von Winkler scheppert mir durch den Kopf, nur die Doppelnullnummern, aber Capart will leider nicht, haben die Lizenz, übers Wetter reden, zum Töten.

Stattdessen erkundigt sich die freundliche Doppelnull, die den jungen Dichter ins Herz geschlossen hat, leutselig: «Und was macht die Literatur, Herr Fahlmann?»

«Wie meinen Sie das?», frage ich unschuldig.

«Ihre Literatur. Das, was Sie so schreiben.»

Der Aufzug hält im Verteilergeschoss, öffnet sich, wartet, niemand steigt zu. «Ich werde demnächst wieder was veröffentlichen», gestehe ich. Die Tür schließt sich, schließt sich jedoch nur halb, denn Caparts linkes Hosenbein hat die Lichtschranke erschreckt. Überglücklich gleitet die Tür wieder auf, um den Aufzug einige peinigende Sekunden länger als zuvor warten zu lassen.

«Und was gedenken Sie demnächst zu publizieren, wenn ich fragen darf?»

Die Tür schließt sich. «Zwei Gedichte in einer Anthologie.»

«Kennen Sie sie auswendig?»

Was für eine saublöde Frage! «Nein, leider nicht.»

«Darf man die Titel der Gedichte erfahren?»

Der Aufzug setzt sich in Bewegung. «erste worte. letzte worte.»

«Aha», Capart denkt nach und verkündet dann mit selbstgefälligem Kopfgewackel: «Geburt, Adoleszenz und Tod.»

Peng! Ich bin abhängig von jemandem, den ich für einen völligen Trottel halte.

Natürlich steige ich in Caparts Auto, wenn er mir anbietet, mich in die Innenstadt mitzunehmen, auch wenn ich dort nichts verloren habe. Am Rathausplatz bedanke ich mich dann artig, sehe dem Volvo nach, bis er außer Sicht ist, und nehme den nächsten Bus zurück zur Uni. Aber im Gegensatz zu Marsitzky ist Capart weder gemein noch hinterhältig, und genau genommen fürchte ich auch nicht ihn, sondern seine Willkür, die, wie ich ahne, die Folge einer unbeschreibbaren Inkompetenz ist. So muss ich jederzeit damit rechnen, dass mir ein gruseliger Zufall (Polkinger, ein Missverständnis, üble Nachrede, eine unvorsichtige Veröffentlichung) Caparts Gunst und die Eins für die Magisterarbeit entzieht. Heute weiß ich, dass ich Capart damals mochte; ansonsten hätte mich der Mottenkugelgeruch seines altmodischen Sommeranzugs nie anrühren können, doch dieses Wissen ändert nichts; es macht alles bloß schlimmer. «Sie beschreiten da einen mutigen Bogen, wie er nicht selten begangen (…) vom ersten Gestammel des Kindes, das beglückt die Welt begrüßt (…) Ihr lyrisches Philosophieren von der Wiege bis zur Bahre sozusagen (…) wissen sicherlich, Herr Fahlmann, was der Dichterfürst (…) rief mit ersterbender Stimme: Mehr Licht!»

Endlich hat der Aufzug die Zieletage erreicht und macht die Saumseligkeit der Fahrt mit einem energischen Aufreißen der Tür wett. Er hat nicht nach der Hausarbeit gefragt, denke ich erleichtert. Ich hätte sie bereits vor fünf Wochen abgeben müssen. Oder vor neun? «Ach, Herr Fahlmann, ich wollte Sie was fragen! Da habe ich gestern schon … Etwas Dringendes. Was war es denn nochmal gleich? Ach, ja … Waren Sie mit Ihrer Lesung zufrieden?»

 

«Ja …» Ich hole in Gedanken aus, gleite dabei aber so heillos in geist- und sternlosen Weiten davon, den Kescher verloren, den Kompass verlegt, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als den Vokal unbarmherzig in die Länge zu ziehen. Manchmal vermittelt gerade diese Form ohnmächtiger Sangeskunst den Eindruck besonnener, selbstkritischer Distanz. Kaum ist mein schier endloses «a» verhallt, schieße ich, ohne etwas dagegen tun zu können, ein heiter-gelassenes «durchaus zufrieden» nach, um ein Höchstmaß tiefer Bedeutung in der Tradition Fontanes vorzutäuschen.

«Herr Polkinger hat mir davon berichtet. Ich höre dann bald von Ihnen?»

«Bitte?»

Er tritt aus dem Aufzug. «Ihre Hausarbeit. Sie können Sie ja in mein Fach legen.»

Ich versichere Capart, das tun zu können, bald tun zu werden, voraussichtlich nächste, nein, schon diese Woche, vielleicht nächsten Montag, ähm, da arbeite ich, also Dienstag, ich zupfe das klebende Hemd vom Rücken, nein, alles in Ordnung, danke der Nachfrage, auf Wiedersehen.

Dabei hatte die Sache mit der Hausarbeit ganz harmlos angefangen! Nach der ersten Sitzung des Thomas-Mann-Hauptseminars hatte ich Professor Capart das abgeschmackte Thema Personennamen bei Thomas Mann vorgeschlagen, weil mir das der einfachste Weg zu sein schien, locker an einen Hauptseminarschein zu kommen. Keine umfangreiche Primärlektüre, kaum brauchbare Sekundärliteratur, keine Schinderei. Capart hatte nichts gegen die Personennamen einzuwenden und freute sich sogar über das «ungewöhnliche und ambitionierte» Thema. «Möchten Sie übernächste Woche referieren?» – «Kein Problem!», sagte ich, las in der Nacht vor dem Referatstermin einige Mann-Romane quer, kritzelte die Namen der darin auftauchenden Personen auf ein Schmierblatt, schmiss am folgenden Tag eine Fenetyllin ein, betrat den Seminarraum kaum verspätet und improvisierte fast fünfzig Minuten über Figuren wie Doktor Grabow, Pastor Pringsheim, den Speicherarbeiter Grobleben, Herrn Permaneder, Hofbräu, Herrn Nachbohr und Mamsell Jungmann. Bei Hofbräu und Herrn Nachbohr handelte es sich, wie ich Tage später herausfand, um Fehlgeburten des Querlesens, denn auf den Seiten 329 f der Buddenbrooks heißt es lediglich:

«Es ist nicht gerade Hofbräu, Herr Permaneder, aber immerhin genießbarer als unser einheimisches Gebräu.» Und der Konsul schenkte ihm von dem braun schäumenden Porter ein, den er selbst um diese Zeit zu trinken pflegte.

«I donk scheen, Herr Nachbohr!» sagte Herr Permaneder kauend und merkte nichts von dem entsetzten Blick, den Mamsell Jungmann ihm zuwarf.

Und was hatte ich so schön über die beiden gesprochen! Ich konnte von Glück sagen, dass ich nicht auch noch über die Herren Porter und Zeit oder den chinesischen Rikschafahrer Donk Scheen referiert hatte, aber auch dann wäre Capart wahrscheinlich entzückt gewesen. Ja, er war dermaßen aus dem Häuschen, dass er mir nach der Sitzung vorschlug, meinen «glänzenden Vortrag» zum Fundament einer bahnbrechenden Magisterarbeit zu machen, beziehungsweise gleich über dieses «hochinteressante und ergiebige Thema» zu promovieren. Zuerst brauche er jedoch die verschriftlichte Fassung des Vortrags. «Das bedeutet keine Mühe für Sie. Sie müssen bloß alles niederschreiben, und Ihre Hausarbeit ist in trockenen Tüchern!» Thomas Manns letzte Tagebucheintragung vom 29. VII. 1955 endet abgeklärt: Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dies Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten. Soll heute etwas im Stuhl sitzen. – Verdauungssorgen und Plagen. Mir ging es seinerzeit kaum anders: Ich saß am Schreibtisch, hatte Darmdrücken und es erwies sich als schlichtweg unmöglich, das Referat zu rekonstruieren. Ich hatte alles vergessen. Langsam wird es sich lichten. Ich experimentierte mit Fenetyllin, mit Bier, mit guter und mit schlechter Laune, doch die Mosaikstückchen, die ich aus den Fenetyllinsümpfen zerrte, waren größtenteils unbrauchbar. Kurz streckte der Pastorensohn Grünlich den Arm aus dem Morast, winkte mir kraftlos zu, heiratete Tony und versank mit einem gellenden Aufschrei in der schwarzen Brühe. War Christian Buddenbrook nun mit einer Dame zweifelhaften Rufs namens Puvogel – oder Puffvogel? oder Pufforgel? – befreundet, oder spielte mir da mein Gedächtnis einen Streich? Vielleicht sollte ich mit Müller-Rosé aus dem Krull beginnen.

Manns große Kunst der Namensgebung, schrieb ich zögernd, zeigt sich am Deutlichsten, fuhr ich Mut fassend fort, in der Figur des schäbigen Schauspielers Müller-Rosé, den Felix Krull mit seinem Vater in der Garderobe des Theaters (Namen des Theaters nachschlagen!) aufsucht. Dadurch dass Mann den deutschen Allerweltsnamen «Müller» (im Namenslexikon prüfen!) mit dem im Volksmund «Rosé» genannten Roséwein paart, erreicht er, Mann, einen komischen Kontrast von einer schalen Schäbigkeit, die auf den fetten, schwitzenden Träger dieses Namens zurückfällt. Langsam kam ich in Fahrt. Denn gerade beim Roséwein handelt es sich um ein Produkt zweifelhafter Güte. Für Roséweine, hastiges Blättern, bzw. Weißherbstweine werden die Rotweintrauben nach einigen Stunden von der Maische abgekeltert und anschließend wie weißer Most vergoren. Nach der Hauptgärung folgt meist eine gelindere Nachgärung, die einen biolog. Säureabbau usw. Ich schrieb den kompletten Eintrag aus Meyers Taschenlexikon ab und fühlte mich dabei noch schäbiger als der gute Müller-Rosé mit seinen entzündeten Pickeln und dem schlecht sitzenden Toupet. Und wie sollte ich mit Professor Kuckuck verfahren, der, wenn ich mich nicht täuschte, die letzten Seiten des Krull mit seiner beleibten (?) Anwesenheit erfüllt? Sollte ich etwa seitenweise ornithologischen Schwachsinn zum Besten geben? Kuckucke [niederdt.] (Cuculidae), weltweit verbreitete Fam. schlanker, vorwiegend braun und grau gezeichneter, sperling- bis hühnergroßer Vögel mit rd. 130 Arten, v. a. in Wäldern, Steppen, parkartigen Landschaften und bei Thomas Mann, dem ungekrönten Meister der Namensgebung, dem dornengekrönten Meister des geistreichen Tagebuchs.

Sie wollen Beispiele, Professor Capart? Nun gut, hier sind die Beispiele, aber sagen Sie hinterher nicht, man hätte Sie nicht gewarnt! – Gedünstete Zwiebelringe bei der Arbeit verzehrt. K. klagt über meine schweren Blähungen (undatiert). – Verblüffend frühzeitiger Samenerguss mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit (2. III. 45). – Gute Laune dank Frivol (5. IV. 32) – Ich riss das Blatt aus der Maschine. Dieser Planet kann nicht kolonisiert werden! Dieser Fall wird nicht übernommen! Dieses Haus hat weder Fenster noch Türen! Ja, es überstieg meine Kräfte, diese Arbeit zu schreiben. Das alles raubte mir die Lust am Leben. Keine Sekunde länger durfte ich über diese bescheuerten Namen nachdenken! Was trinken Sie zum Geburtstag? – Einen Müller-Rosé, Frau Nutte! Ich konnte nicht länger an meinem eigenen Roman weiterarbeiten, wenn sich neben dem Schreibtisch der schiefe Turm der Thomas-Mann-Bände erhob. Vorwurfsvoll. Lindgrün. Doof. Ich brachte die Bücher zurück in die Universitätsbibliothek, wo sie hingehörten. Tage später verlegte ich den Zettel mit der amüsanten Namensliste. Zwei Wochen später erinnerte mich Polkinger lautstark daran (die tüteligen Damen von der Institutsbibliothek bekamen alles mit), dass ich den Abgabetermin der Hausarbeit längst überschritten hätte. Ich faselte etwas von plötzlichen Sterbefällen in der Familie und rief am selben Abend Professor Capart unter seiner Privatnummer an. «Die Arbeit ufert aus. Es war unumgänglich, einen langen Exkurs einzuschieben, zu dem größere Recherchen in der UB notwendig waren.» – Verwundert: «Einen Exkurs?» – «Ja, einen Exkurs über …» Fontane fiel mir ein. Und Reuter. – «Einverstanden. Reichen Ihnen drei Wochen?» – «Selbstverständlich.» – «Hat er dir noch Zeit gegeben?», rief Susanne aus dem Wohnzimmer.