Fahlmann

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

die tiere im huhn

der bär der bär

was tun was tun

so schwer so schwer

oh huhn du armes armes

oh bär auch ein armer ein armer

barmherzigkeit fürs huhn

und gnade dem bären dem armen

dem armen bären im huhn

Sie wurden gedruckt. Alle zwanzig. Wurden genauso kommentarlos gedruckt, wie erste worte, letzte worte gedruckt werden würden. Mein großzügiger Verlag hatte mir bereits das Honorar für beide Gedichte überwiesen. Wenn ein Lyriker pro Gedicht drei Schachteln milde Zigaretten (Stückpreis der Schachtel: 5,45 DM) und ein Bier (Preis pro Glas in Mollingers Eck: liebenswerte 2,50 DM) verdient und noch 15 Pfennig Rest behält (hurra!), wie viel verdient er dann mit zwei Gedichten? Zusatzaufgabe: Überlege! Lohnt sich die Plackerei, wenn heutzutage selbst ein Hilfsarbeiter einen Stundenlohn von 12,00 DM bekommt? Jens sprang aus dem Bett und ging neben mir nieder wie eine Bombe. «Ich muss jetzt fernsehen! Mama hats erlaubt.» Ich öffnete den Mund, um zu fragen, was er sich denn ansehen wolle, doch er kam mir zuvor, rief: «Tiere! Tiere!» und hatte das Zimmer verlassen. Richtige Antwort: Der Lyriker verdient mit zwei Gedichten satte 38 Mark. Als ich einige Minuten später das Wohnzimmer betrat, fand im Zoologischen Garten eine Inventur statt. Eine Dutzendschaft erregter Wissenschaftler und mürrischer Wärter vermaß Kamele und zählte Flamingos, eins, zwei, drei, die Vögel setzten sich in Bewegung, vier-fünf-sechs, begannen zu rennen, siebenacht, Flügelschlagen, neun, nein, ich fang nochmal von vorn an; man katalogisierte Pinguine (sie standen der Sache skeptisch gegenüber, aber einigermaßen still), diskutierte hitzig, zählen wir die Wildenten nun mit oder nicht, und verzeichnete akribisch die Ergebnisse. «Da Schlangen sehr langsam wachsen, ist jeder Zentimeter wichtig.» Man sah, wie eine Gruppe Männer eine oberschenkeldicke Schlange auf dem Boden des Reptilienhauses zu strecken versuchte. «Pro Meter Schlange», tönte der Onkel Fernsehsprecher, «braucht man einen Mann zum Festhalten.» Die Männer machten sich an der Schlange zu schaffen, zerrten sie über die Kacheln, streckten das Vieh, legten das Maßband an, lasen ab, und plötzlich schlug ein hornbebrilltes Mitglied der Vermessungskolonne in Gönnerlaune vor: «Geben wir noch zehn Zentimeter zu, weil sie nicht ganz ausgestreckt ist.» Danach machte sich der unbekümmerte Trupp daran, Heuschrecken und Gottesanbeterinnen in Terrarien mit verdreckten Scheiben zu zählen, und ich ging zu Susanne in die Küche. Ich wünschte so sehr, sie zu kennen. «Es tut mir leid», sagte ich.

«Kann es ruhig!»

Fischstäbchen, Möhren und Erbsen aus der Dose, Kartoffeln – Kinderessen.

«Ich hab mich wie ein Idiot benommen.»

«Schon vergessen!», sagte sie.

Sofort ging es mir wieder gut. Ich verspürte sogar Lust, heute Nacht zu schreiben. Der Roman ging von der Exposition in die Handlung über. Ich mochte meinen Helden. Susanne sah in ihrem kurzen Rock und dem engen, bunt bedruckten T-Shirt, unter dem sich die beherzt zugreifenden Flügel des BHs abzeichneten, großartig aus, kaum zu glauben, dass sie nur drei Jahre jünger ist, wahrscheinlich hat sie nichts mit dem Weiß-Haar-Mann, nur ein netter Arbeitskollege, ein Geschenk war sie, ein unverdientes Geschenk, dessen launisches und unordentliches Wesen ich liebend gerne in Kauf nahm. Ich schloss sie in die Arme, der Flaum über ihrer Oberlippe glänzte golden, im Wohnzimmer schrie ein Pfau. Wir alberten bloß ein wenig herum, es gab ohnehin keine Gelegenheit zum seit Tagen immer notwendiger werdenden Sex. Aber als sie sich wieder dem Herd zuwandte, um unser Abendessen umzurühren, stellte ich mich dicht hinter sie, fasste ihr zwischen die Beine und grunzte brünstig: «Ich gehe über.»

«Das ist nicht witzig», meinte sie.

Ich fand schon. Im Beerdigungsinstitut hatten wir nur selten mit übergegangenen Leichen zu tun, aber kam das vor, stank das Lager noch Tage danach nach Verwesung. Der schlimmste Geruch, den ich je gerochen habe, entströmte einem totalverlöteten Zinksarg, der uns in einem heißen Sommer über den Landweg aus Spanien erreichte. Damit dem Fahrer des ungekühlten Leichenwagens der Zinksarg nicht um die Ohren fliegt, ist am Fußende desselben ein Ventil angebracht, aus dem der Druck entweichen kann. Wohlgemerkt: Nur der Druck kann entweichen, denn als wir den Sarg in der Leichenhalle öffneten (die Angehörigen wollten ihren im Urlaub ertrunkenen Verwandten noch einmal betrachten), erfuhr ich am eigenen Leib, was es heißt, ein grünes Gesicht zu bekommen. Wahrscheinlich hat der Gesetzgeber die barbarische Sitte der häuslichen Aufbahrung nur verboten, um eben diese grünen Gesichter zu vermeiden, die ich bis dahin für eine Erfindung zweit- bis drittklassiger Schundautoren gehalten hatte. Auch die Aufbahrung in Leichenhallen wird nicht gerne gesehen, doch von hundert Fällen enden höchstens drei als verfaulende Schneewittchen hinter der Glasscheibe einer mit betörendem Lilienduft geschwängerten Kapelle.

In unseren gemäßigten Breiten gibt es nur selten Geruchsprobleme: Ein Flies am Boden des Sargs, die sogenannte Matratze, saugt austretende Flüssigkeiten auf und verhindert außerdem, dass den Sargträgern bei der Beerdigung die Leichensuppe über die Schultern rinnt. «Der sparsame Onkel Jörg», Winkler hörte mit wachsender Begeisterung zu, «kleidet die Särge mit einer dicken Lage Altpapier aus. Das erfüllt seinen Zweck genausogut wie eine Matratze und ist weitaus billiger. Deshalb steht neben unseren Mülltonnen eine häufig frequentierte Altpapiertonne für die Nachbarschaft bereit.» Ich grinste Winkler an: «Onkel Jörg hat nichts dagegen, mit einem offenen Geheimnis zu leben.» Dass im Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann bisweilen doch eine übergegangene Leiche eintrudelte, lag an diversen Medikamenten (Krebs) oder einfach daran, dass der Tote zu lange rumgelegen hatte (etwa wegen einer Obduktion). «Aber das ist nicht unser Bier, sondern das der Verwandten, die sich bei uns oder den schlechtbezahlten Friedhofsangestellten ein letztes Stelldichein mit dem Verstorbenen erkaufen. Heinz sargt im Lager alles mit bewunderungswürdiger Akkuratesse ein, das Leichenhemd ist hinten offen, tideldum, rasch knöpfende Finger, die Decke mit einem eleganten Schwung – El Toro! – hoch bis zur Hüfte gezogen, dann schraubt er den Sarg zu, wir fahren zum Friedhof und überlassen den Inhalt der wohlverdienten Verwesung. Hiermit ist unsere Arbeit getan. Was nun übergeht, betrifft fremde Nasen. Laut Gesetz muss der Tote zwischen 48 bis 96 Stunden nach dem Ableben unter die Erde kommen», Winkler öffnete seine dritte Bierdose, «doch hierbei wird das Wochenende nicht mitgezählt. Stellen wir uns nun einmal vor, der Donnerstag wäre ein Feiertag, am Freitag hätte der Pfarrer keine Zeit – bis Montag ist unsere geduldig wartende Leiche heillos übergegangen, und Gnade dem, der noch einmal am Sarg schnüffeln will!»

So weit, so gut. Solches Zeug will Winkler wissen.

Zurück in die Küche!

«Ich gehe über», flüsterte ich, die rechte Hand zwischen Susannes Beinen. Ihre Schenkel spreizten sich, meine Linke suchte, fand Brust, Susanne ließ mich gewähren, bog dann den Kopf zurück, bis ihre Wange an meiner lag, und flüsterte mir nicht ohne Schadenfreude ins Ohr: «Essen ist fertig!»

«Jens!», rief ich. «Essen!» Jens war eine Sexbremse: Wegen ihm mussten wir jegliche Aktivität auf Nächte verschieben, in denen ich viel lieber schlafen, arbeiten oder was Ordentliches lesen wollte.

«Komme gleich!»

«Du kommst jetzt!», rief Susanne, und Jens kam sofort. Ich war nie versessen darauf, eine Autorität für meinen Sohn darzustellen, bin es nie gewesen. Nur gut, dass er mich nie in Mollingers Eck sah, nichts von meinem Doppelleben wusste, nicht ahnte, wie häufig sein Vater Molli mit einem kräftigen Rülpser herbeizitierte oder Nobbinger dazu beschwatzte, sich einen Furz anzuzünden. Jens durfte nie erfahren, dass wir allabendlich einen fettleibigen Simpel aufzogen, der bei den Stadtwerken arbeitete. Aus schwer ersichtlichem Grund nannten wir ihn Goethe, gaben ihm Schnäpse aus, bis er auf allen Vieren über den Boden kroch und allen Befehlen Folge leistete, die man ihm zurief, während es mir in einem sorgsam verschlossenen Hinterstübchen des Bewusstseins, wo sich prall gefüllte Bücherregale und ein Schreibtisch befanden, vor mir selbst graute. Doch davon wusste Jens nichts. Davon wusste Susanne nichts. Davon wusste Großvater nichts. Und Heinz und Onkel Jörg waren wie ich. «Liest du mir nachher weiter vor?», fragte Jens.

«Vielleicht morgen», sagte ich, denn ich wollte mir nach dem Abendessen noch zwei schnelle Biere mit Achim in Mollingers Eck genehmigen, um mich ein wenig in Schreiblaune zu bringen.

«Versprochen?», fragte Jens.

«Versprochen!», sagte ich.

Susanne sah von ihrem Teller auf.

2Anfang Juni erwachte der Held meines Romans unter den beharrlich zuschlagenden Typen der Schreibmaschine zum Leben. Sogleich tat er nicht mehr alles, was ihm das luftige Gedankenexposé befahl, und nahm sich sogar die Freiheit heraus, Gastspiele in meinen Träumen zu geben, was ich als gutes Zeichen dafür wertete, dass mir sein Charakter gelang. Das Dreckgeschirr auf der Spüle brüllte nach Abwasch, der kann warten, Jens und Susanne hatten das Haus verlassen, endlich Ruhe, drüben gespensterte Onkel Jörg durch seine Wohnung, ein gutgelaunter Zauberer in einer benachbarten Hauswelt. Er winkte mir zu, die Ärmel seines lilafarbenen Bademantels flatterten, ich winkte zurück, Mutters Hochfrisur tauchte ins Blickfeld, unter ihren Pfennigabsätzen knirschte der Schotter, sofort trat Onkel Jörg vom Fenster zurück, seine Hände fuchtelten abwehrend; es gab Differenzen zwischen ihm und Mutter. Übertrieben geschminkt und in einem grellgrünen Kostüm verschwand sie um die Ecke des Beerdigungsinstituts. Ich redete damals wenig mit ihr und konnte kaum glauben, dass sie dieselbe Person war, die mich nach dem Sandmännchen ins Bett gebracht hatte, mir Schlaflieder vorsang, mich zudeckte, mir eine Woche lang meine Lieblingsgerichte kochte, um mich zu trösten, weil ich zum dritten Mal in die Klinik musste, oder mir, letztes Beispiel, die Fingernägel schnitt, bevor eine schnatternde Horde «Tante» Monikas und jovialer «Onkel» Richards zu Besuch kam. Na, kleiner Mann, was macht die Schule? Ein richtiger Junge hat immer ein Messer, ein Stück Schnur und eine Glasmurmel in der Hosentasche. Gibst du mir mal bitte den Süßstoff, Marianne! Immer nur lesen, das ist nicht gut für die Augen. Du musst viel Karotten essen, oder hast du schon einmal, wuha, einen Hasen mit einer, wuhaha, Brille gesehen, wuhahaha? Marianne, dein gedeckter Apfelkuchen ist einfach prima! Ein Zischen, ich drehte mich um, der Wasserkessel hüllte sich in Nebelschwaden, Schritt, Schritt, ich schaltete den Herd ab (erschöpftes Säuseln, weniger Dampf), setzte der Thermoskanne den Filterhut auf, follow the yellow brick road, Schrank auf, Kaffeedose, wo ist der Löffel, sprudelndes Wasser, Susanne, Jasmin, Inge, Koffeinschlamm, ewiger Durst, ewiger Hunger, ewige Angst, bei Tantalos haben die Götter die ewige Geilheit vergessen, erneut füllte ich den Filter und lauschte dem ansteigenden Tropfengesang, der aus dem Inneren der Kanne gluckste – und wenn das Leben nichts wäre, als eine fast endlose Chance, Kaffee zu trinken, schrieb ich ins Notizbuch, hätte es dann nicht mehr und unverrückbareren (dieses Wort ist feige unterschlängelt) Sinn, als man ihm mit Religion, Liebe, Kunst usw. geben könnte?

 

Beim Niederschreiben dieses Gedankens pfiff ich vor mich hin, heute ist kein Arbeitstag (keine Särge!), kein Unitag (keine Langeweile!), ich nahm die Tasse, schreiben, die Kanne, schreiben, das Notizbuch, schreiben, und stieg, ungefährliches Schwippschwapp, hinauf ins Dachbodenbüro, hinauf zu Thomas Manns Personennamen, hinauf zu meinem Roman. Wieder höre ich das Knarren der Stufen, sehe den Zeitungsstapel auf dem Treppenabsatz, den Zettel Schriftsteller bei der Arbeit an der Tür, peinlich, sollte ich abhängen, ach, ist doch egal, sieht sowieso keiner hier oben, winselnd schwingt die Tür in den Raum, wo eine vom trüben Auge der Dachluke beleuchtete Lichtung den anrückenden Sperrmüllschwadronen wacker standhält. Holzkisten versuchen die freie Fläche zu erobern, Wäschekörbe machen sich zum Entern bereit, ich erinnere mich, erinnere mich, ich erinnere mich gut. Vom Standardinventar des typischen Hollywoodspeichers (die einbeinige Schneiderpuppe, die defekte Standuhr, das Schaukelpferd aus der Kindheit des Helden, der Schrankkoffer mit den Memoiren Jack the Rippers) ist hier oben lediglich die defekte Standuhr vertreten, ein glotzäugiger Zyklop mit erstarrten Hoden.

In die Knie gesackte Pappkartons kriechen dem Lichtfleck unter der Dachluke entgegen, eine Garnitur verdreckter Gartenmöbel türmt sich an der Nordwand, ich lasse die Ostwand und die Kleiderschränke hinter mir, denen beim Öffnen ein capartähnlicher Duft entströmt, eine verhaltene Mottenkugelnuance im modrigen Odeur meines Büros, hier arbeitet einer, dessen Namen in Staub geschrieben wurde. Nach wenigen Metern mündet der Pfad in eine gerodete Fläche, die sich inmitten des Gerümpeldschungels auftut. Hier lebt mein Schreibtisch, Staub, prustendes Niesen, ich stoße das gestauchte Rechteck der Dachluke auf: Frischluft! An der schiefen Wand über dem Schreibtisch hängen die Porträts meiner literarischen Heroen. Misstrauisch beobachten sie, mit welch zuversichtlicher Entschlossenheit ich heute Tasse und Thermoskanne auf den Tisch stelle, Platz nehme und das Notizbuch aus der Brusttasche des Flanellhemds ziehe. Gute Notiz, das eben mit dem Kaffee, kann man eventuell einarbeiten, morgens, wenn er wach wird, vielleicht einen Kaffee mit den anderen. Ich schenke Kaffee ein, lege das Notizbuch neben einen zum Zigarettenkippenigel metamorphosierten Aschenbecher, der bewegliche Schachtelhalmarm der vorzeitlichen Lampe beugt sich in lüsterner Neugierde über das Innenleben der soeben entkleideten Schreibmaschine, links von mir liegen die fertigen Seiten des Romans auf einem leeren Bierkasten, der sich vergebens (natürlich werden wir ihn beim Umzug vergessen) nach Pfand und dem geselligen Gerassel der Leergutannahme sehnt, schreiben, ich muss schreiben, ich muss jetzt endlich schreiben!

Wenige Minuten später legte ich die Arme auf den Tisch und den leeren Kopf darauf. Unten in der Küche war mir alles so leicht erschienen. Als bräuchte ich nur, tripptrapp, hinaufzugehen, Kaffee zu trinken (prompt dampft es aus der erinnerten Tasse), und wäre dann in der Lage, eine Seite nach der anderen runterzureißen, druckreife Seiten, perfekte Seiten, hundert Seiten, anspielungsreich, stilsicher, der Papierstapel wächst, dreihundert Seiten, und wächst, achthundert Seiten, neunhundert, und wächst weiter ins Unermessliche, Büchnerpreis, Spiegelinterview, und im Blitzlichttaumel würde ich allen danken. Danke, lieber Verleger! Danke, lieber Lektor! Danke, lieber Leser! Danke, Georg Fahlmann! Danke! Danke! Danke!

Als ich noch mit der Adler Tippa 1 schrieb (sie verstaubt im wenig erforschten Süden des Gerümpel-Dschungels), pflegte ich willkürliche Buchstabenkombinationen zu tippen, um mich in Schreiblaune zu bringen. Mit heftigem Tastendruck weckte ich die Typenhebel und ließ sie aus dem Korb schnellen. Ungelenk schoss das Q um die Ecke, knallte hart und entschieden aufs Papier. Das Z und das H schlugen brutaler zu, sie waren die Preisboxer unter den Typen, und wehe dem, der es wagte, ihre Freundinnen schief anzusehen! Die 1 kratzte so haarscharf die Kurve, dass man froh war, wenn dieser todesmutige Rennfahrer lebendig das Ziel erreichte. Perkkk!, stanzte das verschlagene i ein Loch ins Papier, und ein Druck auf die Leertaste zu Füßen der durchbrochenen Buchstabentreppe schob die Walze nach Klingstadt. Doch nun (heute schreibe ich mit der Hand) saß ich vor einer moderneren, aber nicht weniger störrischen Schreibmaschine. Nein, keine Personennamen. Heute nicht! Und du brauchst gar nicht erst mit dem Schreiben anzufangen! Dein Held schläft noch. Oder siehst du irgendwelche Bilder vor deinem inneren Auge? Nein. Na, also! Und hörst du irgendwelche Stimmen? Nein. Na, bitte! Und was soll ich jetzt tun? Dir bleiben nicht viele Möglichkeiten, Georg! Ich klappte das Notizbuch auf, wir können es ja später noch einmal versuchen, viel später, du schreibst sowieso am besten nachts, prüfte einige als Motti verwertbare Zitate, down these mean streets a man must go, und puzzelte wie so oft, wenn meine untreue Muse fremden Literaten zu Diensten war, an meiner persönlichen, kläglich einfältigen Philosophie herum, durch deren Verschriftung ich Ordnung in mein unsortiertes Leben zu bringen hoffte: auf den ersten Blick eine Bibliothek, auf den zweiten ein Dachboden mit einer Schreibmaschine, auf den dritten ein dem Verfall preisgegebener Palast mit Jens und Susanne, auf den vierten eine Vorstadtkneipe mit Achim, auf den fünften ein Wohnzimmer mit Winkler, auf den sechsten ein Transit mit Heinz usw. Dies alles jedoch nur in der Zeit vor der Abreise.

Noch war ich nicht in Paris. Noch wünschte ich nicht, mein Leben wäre für alle Zeiten ‹unsortiert› geblieben. Noch arbeitete ich fast täglich an meinem Roman. Abermals (zurück!) taucht das schwingende Lot (zurück, zurück!) in den Zeitsee, Mnemosyne hat heute leichtes Spiel mit mir und versetzt mich wieder auf den Dachboden. Ich halte etwas in der Hand, es fühlt sich glatt und warm an, ein Buch, ein kleines Buch. Ich steckte den Notizblock in die Brusttasche und betrachtete die Schreibmaschine. Vergiss es! Kurzfristig erwog ich, wieder ins Bett zu gehen, das Gesicht in Susannes duftendem Kissen zu vergraben, ein verlockender, ein gefährlicher Gedanke, denn ich fand es seit einigen Wochen immer beschämender, von Jens geweckt zu werden, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Was ist dein Vater von Beruf? – Keine Ahnung, der liegt den ganzen Tag im Bett und schläft. Ein Knattern näherte sich, schwoll im Hof an, flatterte zwischen den Hauswänden wie ein aufgescheuchter Lärmvogel, beruhigte sich, die Vespa stotterte noch einige Verwünschungen, dann blieb ihr mit einem heiseren Röcheln die Luft weg. Leisere Geräusche folgten: Helmausziehen, Vespa an die Wand lehnen, Nase hochziehen, Schleim in die Mundhöhle husten, herzhaft ausspucken.

«Alte Sau!», rief ich zur gekippten Dachluke hin.

«Selber Sau!», schallte es draußen. Schritte, Heinz öffnete die Tür des Büros (das Riffelglas klirrte), Tach, Jörg (Heinz), mach zu, es zieht (Onkel Jörg), und mit dem Geräusch plötzlichen Lufteinsaugens glitt die Tür über den Teppich des Beerdigungsinstituts, klackte ins Schloss. Die Stille, die sich nun wieder über das Haus stülpte, störten lediglich die monotonen Versfragmente der Vogelbarden, denen in ihrer geistlosen Balzerei der alles verbindende Kehrreim entfallen war. Wahrscheinlich trinkt Heinz jetzt ein Frühstücksbier mit Onkel Jörg. Die beiden mussten sich nicht mit fliehenden Worten rumplagen, mit fehlendem Sinn, mit verpatztem Rhythmus, mit Jasmin. Flasche auf, zum Wohl, und weg damit! Ex oder Arschloch! Nöte mit weißbleibenden Seiten waren ihnen so fremd wie Mülleimer voller Absagen. Von der Verflüssigung des Kosmos, schrieb ich ins Notizbuch, strich es durch, schrieb: Dobitris & Flabitris, strich auch das.

Vor einigen Tagen hatte mich Heinz nach einem missglückten Bäckereibesuch darüber aufgeklärt, was es mit den Dobitris und Flabitris auf sich hat. «Und was bist du?», fragte ich. – «Sonderfall», strahlte Heinz. «Ich bin ein Bitri!» – «Ich auch», lachte ich. «Wenns die richtige Temperatur hat, eiskalt musses sein, ists mir scheißegal, ob man mein Bier zapft, in eine Dose eingeschweißt oder mit grünem Glas ummantelt hat.» – «Und was müssen Bitris jetzt tun?», rief Heinz. Er brachte den Blinker mit einem lässigen Handkantenschlag zum Ticken, bremste, der zupackende Gurt drückte mir die Luft aus den Lungen und der rechte Vorderreifen des gleichermaßen verdutzten Transits erklomm den Bordstein vor Sonjas Hähnchen Grill. «Hier kommen die Dobitris!» Heinz zog die Handbremse, sprang aus dem Wagen, grölte Frechheiten über die Straße, die auf das Konto einer jungen Mutter im Minirock gingen, dann öffnete ein Schulterstoß die Glastür der Imbissbude. «Zwei Bier für die Männer, Schätzchen, und ne weiße Curry für mich!» Heinz sah mich an, ich nickte, er korrigierte: «Zwei weiße Curry für die Männer!» Außer dem alten Hanjob, der am Tresen klebte, waren wir die einzigen Gäste. «Halt ja die Raffel», raunzte Heinz im Vorbeigehen, «sonst nehmen wir dich nachher mit!» Hanjob lachte wie ein sich aufbäumendes Pferd, fuchtelte in der Luft herum, rief etwas Unverständliches, wiederholte es mehrfach (sang ein Gedicht?) und gab erst Ruhe, als ihm Sonja (verhärmtes Frätzchen, schiefer Mund, Papageienlachen) ein kleines, mit Mumienbinden aus Packpapier umwickeltes Fläschchen reichte. Danach verkündete sie strahlend: «Ich mach euch heute Extralange!» Hanjob wieherte und biss sich erschrocken auf die Unterlippe, als ihm Heinz mit dem gebogenen Zeigefinger drohte. «Hättst wohl auch gern nen Extralangen?» Hanjob begann vor Angst zu zittern, und Heinz murmelte mit einem raschen Blick in meine Richtung: «Bestell dir nochn Underberg, Hanjob! Geht auf mich.» Ich legte die Zigarettenschachtel neben einen verbogenen Plastikteller, den verkrustete Brandwunden als Aschenbecher auswiesen – und da sah ich mein grinsendes Spiegelbild in der Glastür. Richtig. Ich grinste. Ich war froh. Stellen Sie sich das bitteschön vor! Nichtsahnend blickt der Unglückliche in den Spiegel – und sieht sich darin grinsen!

Damals war ich so viele Menschen, aber nur als Heinz’ Begleiter (und manchmal auch als angehender Quartalssäufer in Mollingers Eck) besaß ich ein derart unbekümmertes Naturell, dass es mich abends, wenn ich die Erlebnisse des Tages im Kopfkino der Schlaflosigkeit Revue passieren ließ, mit Staunen erfüllte. Hammett hätte alles distanziert beobachtet; Chandler hätte Sonjas Hähnchen Grill gar nicht erst betreten; und ernstzunehmende Schriftsteller wissen wahrscheinlich gar nicht, dass es sowas wie Sonjas Hähnchen Grill überhaupt gibt; und ich, nun, ich benahm mich hier etwa so, wie R. S. Prather schreibt: Ein dümmliches Grinsen im Gesicht stand ich am brusthohen Plastiktisch und wartete auf meine Currywurst. In Sonjas Hähnchen Grill gab es noch die gute, alte, richtige Currywurst, nicht diesen Beschiss, den sie einem mittlerweile fast überall anzudrehen versuchen. Die aus der Schnippelmaschine gepurzelten Wurststücke wurden mit Ketchupgirlanden garniert, dann ging darauf ein Schwefelregen aus dem Currystreuer nieder, und schließlich flutete man die leckere Sauerei mit der seit Tagen munter vor sich hinblubbernden Schaschliksauce. Dazu gab es einen zähen Doppelweck zum Tunken. «Und jetzt zu euren Extralangen!» Sonja legte zwei tiefgefrorene Weißwürste auf den Rost, Heinz drängte sich hinter ihr vorbei, kniff ihr in den knochigen Arsch (erfreutes Quietschen), fummelte am Kühlschrank herum und kam hüftschwingend hinter der Theke hervor, zwei Halbliterdosen schwenkend wie Rumbakugeln. Heinz ist einer dieser Menschen, heißt es im Notizbuch, die ins Leben einsteigen wie in einen Linienbus. Unbeirrt fährt der Bus durch die Stadt, hält an Bierhallen, an Kneipen, an Fitnessstudios, an Würstchenbuden – und schließlich am Friedhof. Heinz hatte nie eine ordentliche Schule besucht, er floh vor seiner Familie, er soff sich das Hirn weg, und ihm würde die wunderbarste aller Fluchten, das Lesen, sein ganzes Leben lang versagt bleiben. Wahrscheinlich hat er noch nicht einmal Die Bienen aus dem Monsterfilm gelesen, und da ich die Bienen jetzt ins Spiel gebracht habe, muss ich, aber das kennen Sie ja mittlerweile von mir, weit ausholen, aber das mache ich nur, weil es wichtig ist, zwo, drei, weit ausholen mit dem Gedankenkescher, vier und hep! – ein schneller Kescherzug durch die Zeit und los!

 

An meinem dreißigsten Geburtstag (Susanne telefonierte damals noch nicht täglich mit dem Weiß-Haar-Mann, sondern erzählte mir, was sie beim Einkaufen erlebt hatte) saß ich mit Heinz in Onkel Jörgs Büro. Wir tranken Himbeerlikör, weil sonst nichts da war, und unterhielten uns über seine Vergangenheit als Powerlifter: Urkunden, Rekorde und persönliche Bestleistungen. «Kniebeuge und Kreuzheben, da war ich über 200 (dohwarisch iwwerzweihunnerd). Und auf der Flachbank hab ich 177,5 Kilo gedrückt. Ich hätt auch die 180 gepackt, aber dann kam mir die Scheißzerrung dazwischen. Musste mir immer Eisbeutel auf die Schulter legen, einreiben und so Zeugs, und dann hab ich irgendwie den Anschluss verpasst. Na ja, vielleicht trainier ich irgendwann wieder. Auf der Bank sind bestimmt noch 125 Kilo drin.» – «Was würd ich denn so packen?», fragte ich. Heinz drückte die Zigarette aus, Kopfwiegen, Genickkratzen. «Vielleicht 60 Kilo.» Zum ersten Mal sah ich bewusst die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln. Und wie grau sein Haar geworden war! Heinz steckte sich eine Gauloises an. «60 Kilo ist vielleicht ein bisschen großzügig geschätzt, aber du bist ja ziemlich sehnig vom Sargtragen, vielleicht packst du ja die 50 Kilo (paggschdujoh diefuffzischkielo), aber», tiefes Luftholen, «du hast ja heute Geburtstag (awwerdu haschdjohheudgeburdsdah)!» Er legte ein silbern glänzendes Taschenbuch auf den Tisch und ließ es zu mir rüberschlittern:

Der berühmte Privatdetektiv

SHELL SCOTT

Kriminal-Bestseller von R. S. Prather

DIE BIENEN AUS DEM MONSTERFILM

Heiser: «Du liest doch gern.» Auch heiser: «Danke! Das les ich direkt heute Abend!» – «Was ist denn das?», fragte Susanne, als ich nach Hause kam. – «Hat mir Heinz zum Geburtstag geschenkt.» – »Pack das bloß weg, bevor Jens es in die Finger bekommt!» – «Kleine Kostprobe gefällig?»

Sie rannte an den riesigen Seetang-Gewächsen vorbei, sprang über fleischfressende Pflanzen und raste vor der kochendheißen Lava davon. Sie trug ein Negligé, das die Farbe dünnen Nebels hatte, und es rutschte ständig ihre Schenkel hoch, während sie lief, und ihre bloßen Beine leuchteten weiß im Sonnenlicht. Sie rannte sehr schnell, aber die Riesenaustern holten trotzdem auf.

Klack-klack machten die Austern. (…)

Ja, es sah so aus, als ob die Austern sie einholen würden. Sie war zwar der kochenden Lava entkommen, aber jetzt stand sie am Klippenrand, vor ihr lag das schreckliche Meer des Feuers. Sie saß in der Falle.

«Sowas liest man bestimmt in Spitzbergen!» – «Du machst das Buch sofort wieder zu!», sagte Susanne. Ich protestierte: «Aber jetzt gehts doch erst richtig los …»

Cherry schrie – das machte sie sehr schön.

Und hinter ihr kamen die Riesenaustern näher.

Cherry schrie wieder, jetzt eine halbe Oktave höher.

Klack-klack. «Iiiihhh.» Klack-klack. «Iiiiiihhhhh.» Klack-klack-klack! «Iiii aaaahhhhh!»

»Der Esel ist doch klasse!» – »Ganz große Klasse!», seufzte Susanne. Zwei Tage später, als ich wieder mit Heinz unterwegs war, wollte er natürlich wissen, ob es gut gewesen sei. «Was?», fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Er bot mir eine Gauloises an. Dankend lehnte ich ab. Klack-klack machten die Austern. Schwungvoll bog er in die Von-Boka-Straße. Cherry schrie – das machte sie sehr schön. Er warf den dritten Gang rein. Leise: «Buch. Das Buch. War das Buch gut?» – «Welches Buch?» – «Das Krimibuch, das ich dir», Räuspern, «zum Geburtstag, du weißt schon … vorgestern (vohrgieschder) … das Buch halt.» – «Ahhh, das Buch!» Ich mimte einen Anfall spontanen Erinnerns, aber die Riesenaustern holten trotzdem auf. «Das war Klasse.» Klack-klack. «Spannend.» Iiii aaaahhhhh! «Habs in einem Rutsch durchgelesen. Ich mag so Privatdetektivkram. War ne verdammt gute Idee von dir!»

Und Heinz saß glücklich hinter dem Steuer im Kommunionsanzug, saß da wie ein Junge, der seiner Mutter heimlich einen Kuchen zum Muttertag gebacken hat, aber weil ich leider kein guter Schauspieler bin, kein überzeugender Lügner, schien er doch was gemerkt zu haben, denn an meinem nächsten Geburtstag kehrte er wieder zu seinem Standardgeschenk (Flasche Cognac) zurück. Die Bienen aus dem Monsterfilm erhielten jedoch einen Ehrenplatz im Bücherregal, und oft erklärte ich Susanne, sie (die Bienen) wären das allerschönste Geschenk, das ich in meinem Leben bekommen hätte. Heinz fehlt mir, krakelige Schrift, unter meinen Schuhsohlen rumpelt die Métro und verführt die Espressotasse zu einem Scheppertänzchen auf dem Tellerchen, vielleicht (zurück, zurück!) sollte ich meinen Helden von Riesenaustern träumen lassen. Quatsch, wenn ich anfange zu klauen, bin ich keinen Deut besser als Winkler! Ich deckte die Schreibmaschine ab, kann Traumszenen in Büchern ohnehin nicht ausstehen, eine Wolke, die wie ein aufgequollener Wattehase aussah, schwamm durch das Himmelsrechteck in der schrägen Wand, unten klingelte das Telefon, hör auf zu arbeiten, klingelte es erlösend, hör auf zu arbeiten, mach heute Nacht weiter, hör auf, leg dich schlafen, gibs auf, aber flitz jetzt erst mal runter und heb meinen Hörer ab, du Depp! Ich hoffte natürlich, dass Inge es so hartnäckig läuten ließ. Wieso ruft sie mich erst jetzt wieder an? Aber allein, die Tatsache, dass sie wieder anruft …

Doch es war Struebing, der hilflose Buchhändler.

«Spreche ich mit Herrn Fahlmann?»

«Am Apparat!»

«Ihr Großvater ist wieder da.»

«Aha», sagte ich.

«So geht das nicht weiter!»

«So», sagte ich.

«Er kann doch nicht unentwegt … du liebe Güte!»

«Mein Großvater ist ein erwachsener Mann. Reden Sie mit ihm!»

«Würde ich ja gerne, aber er hört mir nicht zu!»

«Herr Struebing. Eine Frage. Was habe ich mit der Sache zu tun? Ich kann meinen Großvater nicht an die Leine legen.»

«So etwas würde ich nie von Ihnen verlangen. Gott bewahre! Aber es geht nicht an, dass er …»

«Geben Sie ihn mir! Ich rede mit ihm.»

Ich setzte mich auf den Boden, den Rücken am Schuhschrank, das Telefon auf dem Schoß. Om wischte durch die Katzentür, sah mich, erstarrte eine Schrecksekunde lang, gähnte dann gelangweilt, warf sich auf den Fußabstreifer und reinigte eine affektiert abgespreizte Vorderpfote. Bisweilen hielt er inne, um mich anzustaunen; ich staunte schonungslos zurück.