Fahlmann

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der Entomologe beobachtete mürrische alte Männer, die im Schlick nach Muscheln gruben. Die Hosenbeine hochgekrempelt watete er durch das warme Wasser, und als das Mittelmeer seine Füße umspülte, behutsam den Boden unter den Sohlen untergrub, sackte er tiefer in den Sand und versuchte wankend und armrudernd das Gleichgewicht zu wahren, Symbole, Wolken, Zeichen, Bahlow malte Schlaufen und Kreise in den Sand, ja, er fühlte sich tatsächlich wie die Figur in einem groß angelegten Spiel, die ihre ohnmächtigen Züge auf dem Brett (sei es zu Fuß durch Marseille oder mit dem Schiff nach Dar es Salaam) aus der Vogelperspektive verfolgt, und mit einer Wärme, die er nicht für möglich gehalten hätte, gedachte er seines Craniums, der bergenden Schale, die sein Ich vor dem Zugriff der anderen schützte. Der restliche Tag geizte nicht mit weiteren Botschaften. Natürlich wies die an einen Kutschverschlag gepinselte Abkürzung MDL auf seine Reiseroute hin (Marseille – Dar es Salaam – Lindi). Und bedeutete die Sandschnur im Treppenhaus, die plötzlich abriss, nicht die erzwungene Abreise aus Kiel? Von Eindrücken übersättigt fiel Bahlow in das zu weiche Bett.

Als er erwachte, kam ihm sein Verhalten am Vortag lächerlich vor, diese krampfhafte Suche nach Zusammenhängen. Sie wollten, dass er nach Afrika fuhr, um Insekten zu sammeln. Also würde er es tun. Tat er das nicht, gaben sie den Behörden verfängliche Hinweise. Er verbummelte den Vormittag, gönnte sich den kostspieligen Luxus einer Rasur. Zur festgesetzten Stunde wartete er am Quai du Port und trank starken Kaffee aus einer verblüffend kleinen Tasse. Die Schattenblätter eines Lorbeerbaumes huschten über Tischplatte und Handrücken, Frauen, Mädchen, Bahlow vermied es, ihnen in die Augen zu sehen, erschienen sie ihm doch so unberührbar fern wie die exotischen Käfer in den versiegelten Schaukästen seiner Studienzeit. Schönheit bevölkerte die knöcherne Stadt, im Französischen heißt es «la mort», femininum, bloß nicht in die Augen sehen. Zu seiner Rechten bewachte das bleiche Fort Saint-Jean die Einfahrt des Alten Hafens, Bahlow fütterte die Tasse mit Zuckerstückchen und versteckte Kinn und Oberlippe in einer grüblerischen Hand, hatte doch die Konjunktion seiner empfindlichen Gesichtshaut mit dem schabenden Messer eines Marseiller Barbiers zu unappetitlichen Pusteln geführt, Pusteln, die aufplatzten, wenn er mit dem Fingernagel daran kratzte, Pusteln, die milchige Tropfen freigaben, durchzogen von feinen Blutfäden, Mädchen, Frauen. Der junge Mann, der in einem Café an der Hafenpromenade auf einen Außenagenten der Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas wartete, trug einen verdreckten Ulster (mit dem er erfolgreich eine ärmliche Tuchweste verbarg), der Stehkragen scheuerte am Sonnenbrand, und obwohl sich ein drittes Lebensjahrzehnt in Form eines straff gespannten Gürtels abzuzeichnen begann, wirkte Bahlows Erscheinung kraftlos und schwächlich, das Echo einer asthmatischen Kindheit in ständig wechselnden Seebädern. Frauen. Mädchen. Was, wenn sie alle nackt gingen? Sich vor ihm nach Münzen bückten? Ablenken. Muss mich ablenken, muss ganz Auge werden.

Neugierige standen auf der Plattform des Forts Saint-Jean; als ironischen Kommentar zu Bahlows Warten ließ man ein Schiff in den Vieux Port einfahren: den Anker zum Grundfassen gerichtet, die Bugsprietwände losgehakt. Auch der lästige Mitreisende namens Strigaljow, der am Nachbartisch eine Zeitung in offenbar kyrillischer Schrift las, betrachtete das Schiff, und als sich ihre Blicke kreuzten, nickte die verhärmte Gestalt freundlich; Bahlow errötete vor Ärger. Nicht genug, dass ihm dieser Strigaljow während der Bahnfahrt unaufhörlich von den Abgründen der russischen Literatur berichtet und ihm kandierte Früchte aufgenötigt hatte, nein, der aufdringliche Bursche musste sogar in derselben Pension wie er Quartier beziehen, einer billigen Unterkunft, zu der eine Treppe von der Allée de Meilhan hinaufführte. Heute Morgen hatte Bahlow ihn im Frühstücksraum demonstrativ geschnitten. Unauffällig ließ er die Repetieruhr in der Hosentasche anschlagen: fünfzehn Uhr und fünfzehn Minuten. «Doktor Bahlow?»

«Ja?»

«Wir sind verabredet. Mein Name ist Kuider.» Der Greis legte einen Stock mit Elfenbeinknauf zu Bahlows weichem Hut auf einen freien Stuhl. Kuider trug spiegelnde Lederschuhe, eine einreihige Weste, gestreifte Kammgarnbeinkleider (dunkel), die Manschetten und Frontknöpfe glänzten golden. Bahlow war froh, sich eine schwarze Diplomatenkrawatte umgebunden zu haben. Neben ihnen warf Strigaljow einige Münzen auf das Tischchen und entfernte sich in ungelenker Hast. Kuider legte den Zylinder auf den Tisch, warf den Cutaway über die Lehne des zur Garderobe umfunktionierten Stuhles. Seine Bewegungen wirkten jugendlich, aber Bahlow konnte Kuiders tatsächliches Alter nicht schätzen, braune Flecken, Pergamenthaut, Falten und Furchen bildeten Spinnennetze und Flussdeltas, Augen, strenge Augen, eine gebieterische Stimme fragte: «Sie sind gut angekommen?»

«Ja. Gut. Gestern Nachmittag.» Mit gelindem Erstaunen musterte Bahlow Kuiders Halskette, an der ein kreisförmiges daumennagelgroßes Amulett aus rauchigem Silber baumelte: Ein Andreaskreuz schmiegte sich in einen Ring. Bahlows umherwandernde Tasse hatte auf der Tischplatte ebenfalls einen Ring hinterlassen, wässrig braun, gedankenverloren malte Bahlow mit dem Finger ein Kreuz in den Kaffeekreis, sieht wie das Amulett aus, lästig, wie Kuider seinen Blick zu fangen suchte, um ihn schließlich zu packen und festzuhalten. «Wie war die Reise, Doktor Bahlow?»

«Gut», antwortete dieser und fügte, um nicht unhöflich zu erscheinen, hinzu: «Etwas anstrengend.»

Kuider rieb die Hände gegeneinander. «Sie scheinen nicht zum Plaudern aufgelegt zu sein. Lassen wir uns also directement zum, sagen wir, offiziellen Teil des Treffens übergehen. Die Angelegenheit ist nicht ungefährlich. Unser erster Mann …» Der Kellner trat an den Tisch, und Kuider bedeutete ihm mit einer grausam beiläufigen Geste, nicht gestört werden zu wollen. «Wie unpassend! Wo war ich stehen geblieben?» Der Kellner zog sich ins schattige Innere des Cafés zurück.

«Sie sagten, es sei nicht ungefährlich», bemerkte Bahlow.

«In der Tat. Valdsky, unser erster Mann, ein Missionar, meldet sich seit vier Monaten nicht mehr. Es ist unwahrscheinlich, dass er noch am Leben ist, aber halten Sie die Augen offen. Ein Bild von Valdsky wurde Ihrem Dossier beigefügt.»

«Meinem Dossier?»

«Keine Sorge. Ich werde es Ihnen gleich aushändigen.»

«Was habe ich zu tun?»

Kuider lachte tonlos. «Sie sammeln Insekten für die Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas.»

«Nein, ich meine, was soll ich wirklich tun?»

«Insekten sammeln.» Wieder lachte Kuider. «Dafür werden Sie von der Firma bezahlt. Und weil Sie diesen Auftrag von uns bekommen haben und nicht von der Firma, bitten wir Sie, außerdem die Augen offen zu halten. Das ist, hoffe ich, nicht zu viel verlangt.»

«Und wenn ich nein sage?»

«Das werden Sie nicht wagen! Sie wissen das, und wir wissen das. Sie haben doch sicherlich geahnt, dass uns Ihre Vorliebe für das weibliche Geschlecht nicht verborgen geblieben ist – ansonsten hätten Sie unser Angebot wahrscheinlich ausgeschlagen. Oder sollte ich eher sagen …»

«Was habe ich zu tun?», fragte Bahlow kalt.

«Sie haben zu beobachten. Sie haben zu berichten.»

«Weiter nichts.»

«Das reicht uns vorerst.»

«Vorerst?»

«Ich darf Ihnen hier und heute nicht mehr verraten. Nur so viel: Wir halten es für überaus wichtig, dass Sie unvoreingenommen sind.»

«Unvoreingenommen?»

«Ja.» Hiermit schien das Thema für Kuider erschöpft zu sein. Er wandte sich ab, rief in perfektem Französisch nach dem Kellner. «Nehmen Sie auch einen Absinth, Doktor Bahlow?»

Dieser nickte zögerlich; Kuider bestellte zwei Absinth.

«Sie dürfen mir wirklich nicht mehr verraten?»

«Nein.» In amüsiertem Bedauern hob Kuider die Hände. «Ich weiß nicht, ob Sie das entschädigen wird, aber ich habe den Auftrag, Sie mit den Hintergründen der Expedition vertraut zu machen, der Sie sich in Kürze anzuschließen gedenken.» In der Nähe des Tendaguru-Berges, etwa drei bis fünf Tagesreisen von der Küste entfernt, war ein Ingenieur der Lindi-Schürfgesellschaft namens Sattler über einen gigantischen Knochen gestolpert, der quer über dem Pfad lag, der sich von Lindi aus ins Innenland schlängelt. Bei dem halb aus dem Erdboden herausgewitterten Stück handelte es sich um einen Beinknochen enormen Ausmaßes, und als der bekannte württembergische Geologe Professor Fraas zu Forschungszwecken in der Kolonie weilte, unterrichtete ihn Sattler bei einem Gläschen Portwein über diese Kuriosität. Fraas, ein Mann der Tat, zog am folgenden Tag mit zwanzig Trägern ins Landesinnere, wo er in einem wissenschaftlich höchst bedenklichen Gewaltakt einige prachtvolle Fundstücke ausgrub, um sie nach seiner Heimkehr der Stuttgarter Öffentlichkeit zu präsentieren. «Ein geschickter Schachzug, um die Gelder für die dringend notwendige wissenschaftliche Expedition zu organisieren. Ich lese Ihnen nun einen», Kuider blätterte in einem Notizbuch, «Auszug aus einem unveröffentlichten Manuskript vor, das uns Dr. Sproesser von der Schweizerbart’schen Verlagsbuchhandlung hat zukommen lassen. Ah, hier haben wir es! Es war eine nationale Ehrenpflicht, den Schatz, der im deutschen Boden Afrikas ruhte, mit allen Mitteln zu heben und für die wissenschaftliche Welt nutzbar zu machen. Das Berliner Geologisch-Paläontologische Universitäts-Institut und Museum unter der Direktion Herrn Geheimen Bergrats Professor Dr. Branca nahm sich der Sache an.» Bahlow bedeutete dem Kellner, ihm noch ein Gläschen des köstlichen Anislikörs zu bringen. «Ein Komitee unter dem Protektorat Sr. Hoheit des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Regenten von Braunschweig, erließ einen Aufruf, um die Mittel zur Ausrüstung und Entsendung einer Expedition zusammenzubringen und in erfreulich kurzer Zeit hatte der Opfersinn privater und korporativer Förderer der Wissenschaft die nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt. Im Ganzen dürften sich die Kosten auf 180.000 Mark belaufen haben, eine recht bescheidene Summe, wenn man – hier fehlt das Wörtchen ‹diese›! – etwa mit der gleichzeitig ins Werk gesetzten Südpolarexpedition vergleicht, für die 1 ½ Millionen gesammelt …»

 

Der Absinth nahm Bahlows Hand und führte ihn davon, seine Augen schwebten über dem Vieux Port, den kleinen Segelbooten, den wie Lanzen emporgereckten Masten, benutzten die bleichen Kalksteinhäuser als Stufen, hüpften den Hügel hinauf und sahen gemeinsam mit der Notre-Dame de la Garde über das Meer. Hier war Bahlow gestern schon einmal gewesen und hatte die Inselfestung Château d’If entdeckt, dessen feuchte Kerker Dumas mit seinem Grafen von Monte Christo unsterblich gemacht hatte. Mit diesem Gedanken glitten Bahlows Augen in die Höhe und zogen in einem großzügigen Bogen über dem glitzernden Meer davon. Aus weiter Ferne berichtete Kuider, die Expedition habe seit 1909 ihr Lager am rechten Ufer des Mbemkuru-Flusses aufgeschlagen, am Tendaguru-Berg. «Die Leitung obliegt Herrn Dr. Janensch, Kustos am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum. In unseren Augen ist er harmlos. Ihm geht ein Dr. Edwin Hennig zur Hand. Er ist Assistent an demselben Institute, ein Träumer, weitaus harmloser als Janensch.» Das wohltuende Sprudeln der Quelle erstarb. «Hören Sie mir überhaupt noch zu?»

Bahlow nickte hastig. Der Anisgeschmack des Absinths hatte seine Mundhöhle mit grünem Samt ausgekleidet. Seine Hände verschränkten sich auf dem Tisch zu einer aufmerksamen Wiege.

«Sie graben dort in Kronland, was bedeutet, dass die Eingeborenen auf dieser Fläche keine Felder bewirtschaften oder anlegen dürfen. Aber es lag freilich nicht an den Saurierfunden, dass das Gouvernement dieses Gebiet so überaus rasch und bereitwillig zum Kronland erklärte, so bedeutsam diese Funde für die Paläontologie auch sein mögen.»

«Ach», bemerkte Bahlow.

Kuider bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, ehe er die einschläfernde Rede erneut aufnahm. Verstand Bahlow richtig, ging es nun um irgendwelche einflussreichen Kreise, welche die Expedition ursprünglich hatten verhindern wollen, aber diese Kreise schienen dann doch nicht – doch nicht was? – die Expedition verhindert zu haben? «Denn», fuhr Kuider verständlicher als zuvor fort, «das hätte erst die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit geweckt. Lassen wir sie nur ihre Knochen ausgraben, dachte man sich.» Über diesen plötzlichen Wechsel ins Szenische musste Bahlow herzlich lachen. «Agent dieser Kreise», sprach Kuider ungerührt weiter, «ist Herr Besser von der Niederlassung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft in Lindi. Ein äußerst gefährlicher Mann. Auf ihn müssen Sie besonders aufpassen.»

«Aufpassen?»

«Auf Herrn Besser müssen Sie Ihr Augenmerk richten!», wiederholte Kuider, und der Entomologe nickte benommen. Ungefragt brachte ihm der Kellner einen dritten Absinth. War der Mann, der dort drüben an einer niedrigen Mauer lehnte, nicht Strigaljow? Er redete auf einen jungen Burschen ein, der verdächtig dem Kellner glich. Bahlow wollte Kuider diesbezüglich informieren, doch der redete, redete, redete. «Sie wohnen in Lindi bei Bilderbeck, einem Ägyptologen, er weiß über alles Bescheid, er ist einer von uns.» Einer von uns, höhnte es in Bahlows Kopf, einer von uns! Wer waren diese wir, die alles wussten, alles besser konnten? «Dort holt man Sie ab. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte Ihrem Dossier. Hier!» Eine flache Ledermappe erschien in Bahlows Hand. «Und das werden Sie auch benötigen.» Palais Royal, Carreau du Temple, Jardin des Plantes.

«Was ist das?»

«Ein Stadtplan von Paris. Sie werden ihn brauchen.»

«Einen Stadtplan von Paris in Afrika?»

«Das hat schon seine Richtigkeit. Hier!»

Bahlow nahm das dritte Geschenk entgegen, ein Tuch, öliges Zeitungspapier, der beunruhigend lange Lauf einer Luger. «Packen Sie um Gottes Willen die Waffe weg!» Ein Pappschächtelchen, aha, Patronen! Sie glänzen so schön im Sonnenlicht. «Weg damit!» Alle sind sie unfreundlich zu mir, Bahlow stand auf, eine kräftige Hand griff seinen Ärmel. «Sie wissen, dass Ihre Zeit befristet ist?»

«Meine Zeit?»

«Alles hängt davon ab, wie schnell die Post durchkommt. Ihr Verbündeter ist der Süd-Monsun.»

«Der Süd-Monsun», überlegte Bahlow. Endlich fiel ihm ein, was er Kuider schon die ganze Zeit über hatte fragen wollen. «Wieso ich?», trumpfte er auf.

«Von Herder hat Sie uns empfohlen.»

«Von Herder?» Bahlow wankte davon, versuchte sich im Gedränge der Rue de la Canebière zu verflüchtigen, kroch am Boden umher, klammerte sich an ein Hosenbein, jemand schleppte ihn eine steile Treppe hinauf, und als er am frühen Abend erwachte, packte er die Luger in den Koffer, faltete die zerknitterte Straßenkarte von Paris zusammen, mit der er sich zugedeckt hatte; es wurde dunkel. Bahlow saß am Fenster, den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt. Ein abgekartetes Spiel, dachte er. Sie lassen mir nicht den Hauch einer Chance! Es klopfte an der Tür, einmal, zweimal, dreimal. «Sind Sie da?» Bahlow hielt die Luft an, gab keine Antwort.

Wenn das eigene Leben eine Geschichte ist, sei sie nun von einem oder von mehreren mysteriösen Unbekannten geschrieben, so muss es darin auch Perioden geben, in denen man zwischen den Zeilen lebt, und in diesen Zeitläuften, wenn der weiße, leere Raum endlos zu werden droht, erwartet man ungeduldig den Beginn des nächsten Kapitels. Bahlow verbrachte die ersten Tage auf hoher See in der Kabine, während das Schiff den Halbbogen eines W’s in die Wellen des Mittelländischen Meeres zeichnete, und als er endlich aus dem geschwollenen Bauch des Dampfers emporstieg, um einen ereignislosen Tag mit einem Spaziergang auf dem Vordeck zu beschließen, befuhren sie bereits die Straße von Sizilien. Hier setzte das Schiff zum zweiten Bogen des W’s an, der aber bald, sie befanden sich auf Höhe von Kreta, abflachte, um in bedenklichen Schnörkellinien abzusinken: Wie ein wollüstiger Molluske saugte Afrika den Dampfer in den Suezkanal.

Bahlows Kabine lag über dem Maschinenraum, und längst war das zermürbende Stampfen der Kolben ein fester Bestandteil der Träume geworden. Schlief er nicht, beschäftigte er sich inständig mit dem Dossier, als könnte er dadurch das peinigende Versagen am Quai du Port wettmachen. Ich werde abwarten, nahm er sich vor, und nichts, dachte er oft, spricht dagegen, sich selbst beim Leben zu beobachten, ganz so, als läse man einen Roman. Kuiders Dossier enthielt seitenweise maschinenbeschriebenes Papier, Landkarten, Zeitungsartikel, auch Notate in selbstbewusst ausbordender Schrift, und bald wusste Bahlow, dass es sich bei den Dinosaurier-Lagerstätten nicht um Land- bzw. Sumpfablagerungen wie in Nordamerika handelte, denn bei den Grabungen in Deutsch-Ostafrika habe man auch Muscheln, Reste von Fischen und fossile Vögel gefunden. Deswegen sprach Professor Dr. Branca, der Direktor des Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums, die Vermutung aus, hier sei «Verschiedenartiges» (ein Ausdruck von Hennig) in einem brackigen oder salzigen Küstengewässer zusammengeschwemmt worden. Zwar befänden sich die Knochen durch den Wasserabschluss in weitaus besserem Zustand als ein auf der Landoberfläche verwester Kadaver, aber die Chancen, jemals ein vollständiges Skelett zu finden, schätzte der Expeditionsleiter Dr. Janensch als höchst gering ein: Vor Jahrmillionen hat das Wasser alle Skelette auseinandergerissen und die Knochen in alle Himmelsrichtungen verstreut. Anfangs glaubte Bahlow an ein Missverständnis, doch nach und nach stellte sich heraus, dass die Knochen tatsächlich aus dem afrikanischen Boden ragten. Und gab es da nicht eine dunkle Erinnerung an einen Mann, der über einen Knochen stolperte? Einen Mann, der gerne Portwein trank? Bahlow wünschte, er hätte nie von dem verfluchten Absinth gekostet!

In der Nachbarkabine ertönten Volkslieder, plötzlich rummste es, und danach war es lange still, bis die Stimme genau dort wieder einsetzte, wo sie ein unbestimmtes Vorkommnis unterbrochen hatte; und während es nebenan das Wa-hand-ern sang, widmete Bahlow sich wieder dem Dossier. Irgendwelche Hebungen und Senkungen des Erdbodens, re-he-hecht-er Müller sein, hatten also die Schicht mit den Fossilfunden nach oben geschoben, die Schichten korrigierte er sich streng, denn die Tendaguru-Expedition grub in drei unterschiedlichen Etagen, nebenan kehrte Stille ein, grub sozusagen in drei Saurier-Stockwerken, die harte Sandsteinbänke mit reichlich maritimer Fossil-Fauna voneinander trennten. Schon auf den schmalen Negerpfaden, die von dem Sockelplateau des Tendaguru in die Mbemkuru-Niederung hinabführten, war es aufgefallen, dass die knochenführende Saurierschicht nicht nur die Oberfläche des Sockelplateaus zusammensetzte, sondern noch zweimal in tiefern Lagen angetroffen wurde, jedes Mal in der Oberflächenform eine Terrainstufe mit Steilabsturz nach Westen bildend. Es schien, als sei das Land nach dieser Richtung in Staffeln abgesunken und habe so terrassenförmigen Aufbau erlangt. Diese Auffassung musste aber alsbald weichen … Der Stewart brachte das Abendessen. Bahlow verbarg den rasch abgenommenen Tropenhelm hinter dem Rücken. Im Spiegel gefiel ihm der verwegene Helm, und er verkleidete sich täglich damit als Abenteurer und Entdeckungsreisender, aber vor einem Fremden – und gar vor einem Stewart! – wäre er sich albern vorgekommen.

Die Firma hatte ihn mit allem eingedeckt, was er benötigen würde: Reisegepäck, entomologische Ausrüstung, Nachschlagewerke, Bestimmungsbücher, und da die zur Verfügung gestellte Kleidung von wirklich herausragender Qualität war, hatte Bahlow seine eigene Garderobe eines Nachts Stück für Stück aus dem Bullauge geworfen, das auf die schaukelnde Leere hinausschaute. Es war wie ein Abschied, die alten Hüllen trieben davon, er würde neu beginnen, beobachten, berichten, mein Freund ist der Süd-Monsun. Nach einigen Tagen erschöpfte sich der Volksliedvorrat; der musikalische Mitreisende ging zu Kirchenliedern über; und die dünne Wand tönte vom Ruhm und der Gerechtigkeit Gottes, derweil Bahlow Abschriften von Hennigs Korrespondenz durchging. Nicht einige wenige, einander nahe verwandte Formen, sondern eine ganze äußerst mannigfachige Fauna der Kreidezeit liegt in deutsch-ostafrikanischer Erde verborgen, schrieb Hennig seiner Braut. Sie war, vermutete Bahlow, erheblich jünger als Hennig. Dieser erzählte seinem «Mausebärchen» nie von Dinosauriern, sondern stets von «Schreckens-Echsen». Das Gesicht unter dem Tropenhelm blickte in den Spiegel und sagte: «Schreckens-Echse!» Und wieder: «Schreckens-Echse!» Es lachte gellend. Informativer (aber nie weniger schwärmerisch) fielen Hennigs Kurznotizen aus, die er in regelmäßigen Abständen im Archiv für Biontologie der Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin veröffentlichte. Unter der Tropensonne entspann sich eine Ausgrabungstätigkeit, wie sie noch nicht im Dienste der jungen paläontologischen Wissenschaft gestanden hatte!, jubelte es hier zum Beispiel, und Bahlow erfuhr, indes der Musikant nebenan offenbar Selbsterfundenes zum Besten gab, die Sammlung des amerikanischen Milliardärs Carnegie (der vor einigen Jahren dem Kaiser, wie Bahlow sich zu erinnern glaubte, Gipsabgüsse vollständiger Skelette zum Geschenk gemacht hatte) sei durch die Ostafrika-Funde rasch übertrumpft worden. Der Abguss des amerikanischen sog. Diplodocus im Berliner Museum zeige zwar eine Länge von 25 Metern, eine Höhe von 4–5 Metern, und der Oberarmknochen messe ganze 0,95 Meter, aber der Oberarm des größten Tieres vom Tendaguru umfasse nicht weniger als 2,10 Meter! Es sind zwar nur Einzelteile, hatte jemand (Kuider?) unter diesen Artikel geschrieben, aber dieser «unerwartete Schatz» (der Unbekannte spottete hier über eine Formulierung Hennigs aus einer anderen Publikation) macht die Geologisch-Paläontologische Abteilung des Berliner Museums den berühmten nordamerikanischen Sammlungen ebenbürtig!

Beobachten, berichten, aber auf was habe ich denn überhaupt zu achten? Bahlow nahm die Mahlzeiten weiterhin in der Kabine ein. Er fühlte sich zunehmend wie ein Schauspieler, der sich ohne Textbuch auf eine schwierige Rolle vorbereiten soll. Nachts träumte er von gewaltigen Urwesen, die sich in seichten Küstengewässern in Fetzen rissen; bei einem Kostümfest in der Messe hatte er einen kurzen Auftritt in Tropenmontur (als er bemerkte, dass nicht nur er auf diese Idee gekommen war, zog er sich in die Kajüte zurück); ansonsten verlief die Seereise ohne nennenswerte Vorkommnisse, es sei denn, man wertete die stetige Zunahme der Außentemperatur als Besonderheit. Unter die Rubrik Vermischtes wäre vielleicht aufzunehmen, dass sich Bahlows Äquatortaufe wegen der rüden Zurschaustellung seemännischer Derbheit als nicht enden wollender Alptraum gestaltete, dass das mörderische Klima des Roten Meeres ihn zweieinhalb Tage lang mit leichtem Fieber ans Bett fesselte, und dass ihm, als das Fieber endlich nachließ, auffiel, dass er nicht wusste, wem er überhaupt Bericht erstatten sollte. Der Zimmernachbar hatte quietschenden Damenbesuch oder einen Herzanfall, ab Dar es Salaam begann Bahlow mit der Chinin-Prophylaxe, und schon ratterte die Ankerkette von der Winde: Dicke Manntaue verbanden das Schiff mit dem afrikanischen Festland.

 

Drei kichernde Stewarts trugen das Gepäck an Deck, beteuerten, ihm auch weiterhin zu Diensten zu sein, wie komme er denn sonst an Land – und lösten sich in Luft auf wie Flaschengeister. Minutenlang stand Bahlow inmitten seiner Habseligkeiten. Er schwitzte. Unter dem rechten Arm klemmte der lange Stab eines Fangnetzes. Schließlich entschied er sich dafür, erst die sperrige Holzkiste an Land zu bringen, welche unentbehrliche Dinge wie Gläser, Präparierplatten, den zerlegten Lichtselbstfänger und Flaschen mit Essigäther enthielt. Dann den Seesack und die Reisetasche. Zuletzt die Hutschachtel (Tropenhelm!) und die Rolle feinsten Maschendrahtes.

«Zu viel Gepäck?», scherzte es hinter seinem Rücken. Die Stimme erkannte Bahlow auf Anhieb! Sie gehörte zweifelsohne seinem musikalischen Kabinennachbarn, der sich ungeniert an Bahlows Hilflosigkeit weidete. Der schafsgesichtige Herr stellte sich dicht neben ihn und riss einige flaue Witzchen über gewisse Leute, die ihren ganzen Hausrat mitnehmen, wenn sie verreisen.

«Ich bin Entomologe», entschuldigte sich Bahlow.

«Na, dann viel Spaß mit Ihren Käfern!», verabschiedete sich der andere, und Bahlow sah nicht ohne Neid, wie triumphierend er dabei sein kleines Köfferchen schwenkte. Licht. Grell. Die Eindrücke verschmolzen zu einem Flimmern. Jenseits der glitzernden Wellengipfel verschwand der Witzbold im Menschengedränge des Kais. Bahlow ging in die Hocke, umfasste die Kiste mit beiden Armen, richtete sich ächzend auf. Nach der langen Schiffsreise schien der rissige Boden zu schwanken. Die Kiste senkte sich auf den atmenden Lehm, er sah schlanke, hochgewachsene Massai in rotbraunen Baumwolltüchern, rötlich gefärbte Zöpfe, das Haar quer von Ohr zu Ohr gescheitelt, vorne hing eine Strähne in die Stirn und klemmte unter einem Band aus Kaurimuscheln. Bahlow hatte keine Zeit, sich völkerkundlichen Betrachtungen hinzugeben, stürzte das Fallreep wieder hinauf, um den Seesack und die Tasche zu holen. Am liebsten wäre er jedoch zurück in die Kabine geschlichen, um dort ein Nickerchen zu machen, hätte sich gerne in den Eingeweiden des Schiffes versteckt, Tage, Wochen, für immer, er griff den Seesack, sah zum Ufer hinüber: Zwei junge Burschen machten sich an seiner Kiste zu schaffen.

«Heh!», schrie er und taumelte an Land. «Heh!»

Die Burschen hielten inne, sahen ihn ausdruckslos an. Bahlow fuchtelte mit dem Fangnetz vor ihren Gesichtern herum. Ungerührt hoben die Burschen die Kiste an. «Heh! Das ist meine Kiste!»

«Das geht schon in Ordnung, Doktor Bahlow.»

Bilderbeck stellte sich vor und gab Anweisungen in Kisuaheli, woraufhin die Boys die Kiste sorgsam absetzten und davoneilten, um sich Bahlows restlichem Gepäck anzunehmen. Bilderbeck grinste den Entomologen an – solange, bis dieser sich unbehaglich fühlte. «Heiß hier», bemerkte Bahlow. Bilderbeck grinste ins Leere. «Gottseidank weht eine leichte Brise», meinte Bahlow.

«Eine leichte Brise, jaja, gewiss!» Bilderbeck strich sich sandfarbenes, fettiges Haar aus der braun gebrannten Stirn. «Gottseidank! Brise. Da haben Sie recht. So! Das wäre dann wohl Ihr gesamtes Gepäck!» Einige Worte auf Kisuaheli an die Träger, dann vertraulich zu Bahlow: «Sie haben den Halleyschen Kometen um eine knappe Woche verpasst. Er hing vom 25. April bis zum 26. Mai über den Palmen. Ein solches Schauspiel! Sie ahnen es nicht! Er wurde mit jedem Tag größer.» Bilderbeck wiegte den Kopf, als könnte er es noch immer nicht fassen, den Himmelskörper mit eigenen Augen erblickt zu haben. «Am 19. Mai nahm er fast zwei Drittel des Himmels ein. Wie ein gigantischer Scheinwerfer! Sein Schweif erstreckte sich über unseren Zenit. Das Gouvernement hat durch seine Bezirksämter, Akidate und Jumbenschaften die eingeborene Bevölkerung gewarnt, dass keine Hungersnöte oder ähnliches damit verbunden seien, aber dennoch …» Der Boden schlingerte, schwankte. Bisweilen warf Bahlow einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihnen die Boys tatsächlich mit dem Gepäck folgten und sich damit nicht ins dichte Gebüsch am Straßenrand schlugen. Strandkasuarinen und Palmen überschatteten die breiten Straßen Lindis, gelegentlich erhellte das weiße Leuchten eines Hauses im Kolonialbaustil das satte Grün wie ein jäher Magnesiumblitz. Bilderbeck sei Ägyptologe, hieß es in Kuiders Dossier erstaunlich kurz angebunden, habe ab 1903 am Wörterbuch der ägyptischen Sprache mitgearbeitet, 1905 Examen Rigorosum, 1906 Dissertation, ab 1909 Außenagent der Firma Staudinger & Bang-Haas in Lindi. Es verwunderte Bahlow kaum, dass die Insektenhandlung einen Ägyptologen für sich arbeiten ließ. Vermutlich entzifferte er die Hieroglyphen auf Schmetterlingsflügeln. Bahlow wollte die spaßhafte Bemerkung gerade anbringen, denn Bilderbecks unglaubwürdiger Bericht über den Halleyschen Kometen hatte sich längst in der schwarzen Unendlichkeit des Weltenraumes verflüchtigt, und sie gingen schweigend nebeneinander einher, doch da deutete der Ägyptologe mit dem Sjambok auf ein Gebäude, das wie die Kreuzung zwischen einer Festung und einem maurischen Palast aussah. «Das Bezirksamt. Ich bedauere, Ihnen nicht mehr von Lindi zeigen zu können, aber wir sollten so wenig Zeit wie möglich auf den Straßen verbringen. Gerüchten zufolge, ach! Ich möchte Sie nicht beunruhigen.»

«Sie tun es aber justament.»

«Also gut. Es sind einige Fälle von Pest aufgetreten.»

«Pest?», lachte Bahlow ungläubig.

«Jaja», sagte Bilderbeck mit einem schiefen Lächeln. «Aber sie schlachten die Ratten ab. Schlagen sie mit Knüppeln und Holzschuhen tot. Sie kriegen das natürlich in den Griff. Erst drei Tote, und wir haben die drei bereits isoliert, als deren Fieber stieg. Im Inderviertel natürlich.»

«Und Sie meinen …?»

«Ungefährlich. Kein Grund zur Besorgnis!»

«Die Pest», murmelte Bahlow. «Die Pest in Lindi!»

Eigentlich zum Piepen, in welch krudes pseudoafrikanisches Geschehen man ihn hier versetzt hatte. Die Pest! Lächerlich! Pestkranke in Lindi! Ein Komet! Was für ein gewaltiger Mummenschanz! Und das ausgerechnet dann, wenn er ankam. Beiläufig schob man ihm diese Informationen zu. Ganz unauffällig, versteht sich. Schwarze Boys trugen das Gepäck. Selbstverständlich Palmen. Wessen Text war seine Welt geworden?

Das Schwanken der Sandstraße, das sich selbst bei dem mehrminütigen Fußmarsch nicht legte, brachte Bahlow auf bodenständigere Gedanken. In Kiel, erinnerte er sich, hatte er als Kind oft über die Matrosen auf Landgang gestaunt. Mit kraftvoll breitbeinigem Staksen waren sie vom Hafen gekommen. Er hatte damals vermutet, sie hätten sich diesen Gang angewöhnt, um auf einem schwankenden Schiffsdeck das Gleichgewicht wahren zu können. Aber nun begriff er, dass man so und nicht anders gehen musste, um nicht auf einem widerspenstigen Erdboden zu stürzen. Selbst die Dielen in Bilderbecks prachtvollem Haus bewegten sich unter den Sohlen!