Fahlmann

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Nachdem die Boys mit dem Gepäck im Obergeschoss verschwunden waren, fragte Bahlow, der nicht beabsichtigte, weiterhin als Komparse mitzuspielen, den man nur blöde anzugrinsen brauchte: «Ich erbitte mir nun eine präzise und umfassende Auskunft. Was habe ich hier zu tun?»

«Wie meinen Sie das?»

«Man hat mir gesagt, ich würde weitere Instruktionen …»

«Ach, so», unterbrach Bilderbeck hastig. «Darüber reden wir später. Sie wollen sich doch vorher sicherlich frisch machen. Nach der ermüdenden Reise und dem Fußmarsch …»

«Nein, eigentlich nicht. Könnten Sie mir nicht jetzt sofort …»

«Nun gut, aber dann lassen Sie uns wenigstens dabei einen geeisten Tee auf der Veranda nehmen.» Bilderbeck ging voraus, drehte sich plötzlich um: «Sie haben doch nichts gegen geeisten Tee?»

«Nein», beeilte sich Bahlow zu bemerken. «Natürlich nicht. Wieso sollte ich?»

Ein weiß livrierter Boy brachte einen Krug Eistee und stellte zwei hohe Gläser auf den runden Tisch zwischen den Korbsesseln. Bahlow wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Boden unter dem Sessel stampfte und rollte, als befände sich unter Lindi ein riesiger Maschinenraum, dessen Turbinen in betäubender Synchronizität zu allen Gedanken standen. Bahlow stieg einigen dieser dröhnenden Gedanken nach, und bald nahmen sie die Gestalt davonhuschender Schemen an und lockten ihn in staubige, selten begangene Korridore. Türen zu fast vergessenen Erinnerungen schwangen auf. In einem Raum erwartete ihn die mit Kork ausgeschlagene Schachtel seiner ersten Käfersammlung. Eine knarrende Stiege führte von dort hinauf zu einer Wiese, auf der sich ein verstörter Knabe über eine Sandwespe beugte, deren Stachel sich in den Leib einer Raupe gesenkt hatte. Die wehrlose Raupe wand und verdrehte sich, aber die gebogenen Kieferzangen der Ammophila sabulosa hielten sie unbarmherzig im Nacken gepackt. «Macht Ihnen das Klima zu schaffen?»

«Es ist ungewohnt», sagte Bahlow. Der wollüstige Todeskampf der Raupe verschwamm, und er bemühte sich, seiner Stimme einen weltmännischen Klang zu geben. «Vor allem ungewohnt, weil die Luft so …» Verzweifelt suchte er nach dem mot juste. Rechts befanden sich Worte wie «warm» und «heiß», linker Hand wurde es «feucht» und «drückend», die Sandwespe zerrte die gelähmte Raupe zu ihrer Bruthöhle. Mit jedem Schritt kam Bahlow weiter von dem Pfad ab, an dessen Ende das gesuchte Wort erstrahlte wie der Name Gottes, das gesuchte Wort, das, soweit er erkennen konnte, mit einem dampfenden «sch» begann, geräuschlos schwangen weitere Türen auf, er sah ein lachendes Mädchen auf einer Schaukel, machte erschrocken kehrt und erreichte über Leitern und Wendeltreppen das Hauptgebäude. Derweil trank sein regloser Körper einen Schluck Tee und labte sich am leichten Wind, der vom Meer herüberwehte. Aus der Ferne erklang die Schiffsglocke; der Dampfer würde bald ablegen. Wie viele Tagesreisen waren es zum Tendaguru? Drei bis fünf? Hatte er das richtig behalten? Drei bis fünf Tage im Dschungel? Er dachte über das Wort «Urwald» nach, über unwegsames Gestrüpp, über Knochen, die aus der Erde ragten. Auf einmal erschienen ihm die vereinzelten Palmen, die sich auf der sandigen Grasfläche vor der Veranda erhoben, wie Späher einer feindlichen Macht. Je weiter sie vom Haus entfernt standen, desto enger rückten sie zusammen, bis die Schatten zwischen ihren Stämmen zu einem undurchdringlich grünen Dunkel wurden.

«Schwül?»

«Wie bitte?»

«Sie sprachen von der Luft.»

«Ja, schwül. Das ist das Wort, das ich gesucht habe.»

«Im Landesinneren ist es trotz der Meeresferne wesentlich angenehmer.»

«Freut mich zu hören. Darf ich?»

«Nur zu! Bedienen Sie sich!»

Bahlow schenkte sich Eistee nach. Schwül. Natürlich war die Luft schwül. Wieso entglitten ihm die Worte? Nahm seine Verwirrung etwa in dem Maße zu, in dem er seine Umgebung als wirklich anerkannte? Aber an diesem strahlenden, tiefblauen Himmel, der sich über Lindi wölbte wie eine umgedrehte Schüssel aus japanischem Porzellan, konnte man doch nicht zweifeln! Und hier, hier war seine Hand, unauffällig glitt sie über seine Brust, und hier, in seiner Brust, schlug sein Herz! Mit geheucheltem Interesse hörte er Bilderbeck zu, der anekdotenähnliche Begebenheiten aus dem Lindier Leben zum Besten gab. Sonnenbrände auf Glatzen, defekte Eismaschinen und bunte Abende im Bezirksamt. «Es gibt Lieder», behauptete Bilderbeck unvermittelt, «die begleiten einen, wohin man geht. Auch wenn man sie nur ein einziges Mal in seinem Leben gehört hat. Kennen Sie die Suleikalieder?» Bahlow gestand, sie nicht zu kennen. «Es gibt die Suleikalieder von Mendelssohn und die von Schubert. Die Mendelssohn-Vertonungen gefallen mir, ehrlich gesagt, besser. Darin muss der Sopran nicht so trällern.» Bilderbeck lachte laut auf. «Der Insekten frohes Völkchen! So heißt es im ersten Suleikalied! Der Insekten frohes Völkchen!» Bahlow lächelte vorsichtig. «Ah, Musik!», schwärmte Bilderbeck. «Musik! Das ist die wahre Sprache der Seele!»

Bahlow, der nicht wusste, wie er auf diese Offenbarung reagieren sollte, nippte am Tee; eine Eidechse huschte über die Holzveranda; fast gleichzeitig flog zwischen den Palmen ein exotisch bunter Vogel auf; und wieder erklang die Schiffsglocke. Nun löste man die Leinen, nun wurde das Fallreep eingezogen, und unaufhaltsam glitt die letzte Verbindung zu einem leidlich alltäglichen Leben auf den flirrenden Wassern der Bucht von Lindi davon – glitt hinaus auf den Indischen Ozean. Wie um Bahlows wehmütigen Gedanken das Pathos zu nehmen, stieß ihm der Tee auf.

«Möchten Sie vielleicht etwas anderes trinken?», fragte Bilderbeck, dem die unbehaglichen Schmatzer, mit denen sein Gast den gallig-sauren Geschmack in seinem Mund analysiert hatte, nicht verborgen geblieben waren. «Der arme Valdsky hat mir vor einer Weile mal eine Kiste exzellenten weißen Sherrys geschenkt.» Bilderbeck klatschte nach seinem Boy. In der Tat! Bahlow hatte selten einen so guten Sherry getrunken. Vermeintlich kennerhaft hielt er das funkelnde Glas gegen die Sonne und bemerkte großspurig: «Ich habe selten einen so guten, trockenen …» Er brach ab. Bilderbeck hörte nicht zu, sondern grinste selbstvergessen ins Leere. Dabei zupfte er in unangenehmer Weise an einem obszön großen Hautzipfel, der sich in der Mitte seiner Oberlippe befand. Fortwährend befingerte er diesen Zipfel. Er wirkte wie besessen davon, ihn langzuziehen, durchzukneten, anzunagen, und jedes Mal, wenn dies geschah, wandte ein peinlich berührter Bahlow den Blick ab. «Doktor Bilderbeck?» Besessenes Zupfen. «Doktor Bilderbeck?»

Wie aus einem Traume erwachend: «Ja?»

«Der Sherry ist ausgezeichnet.»

«Trinken Sie nur! Der Bursche wusste, was gut ist. Wenn Sie noch einen wollen – bedienen Sie sich!»

«Liebend gern!» Bereits der erste Schluck hatte den schlechten Geschmack vertrieben, soweit, so gut, aber das verzweifelte Bemühen, das Gespräch auf die Mission zu bringen, deren Durchführung Bahlow auf deutsch-ostafrikanischem Boden oblag, blieb weiterhin fruchtlos. Bilderbeck tat so, als hörte er die zunehmend ungeduldig werdenden Fragen nicht, und grinste blöde ins Leere, um aus diesen Absencen mit Vorträgen über abseitige Themen zu erwachen. So hatten sie heute schon den Halleyschen Kometen, das Erhebende der Musik und die Vorzüge einer fleischarmen Ernährung durchgenommen. Stellte Bahlow Fragen, vertröstete ihn Bilderbeck auf ein Später, das mit jedem Glas Sherry illusorischere Züge anzunehmen begann. Tapfer nahm der Entomologe einen neuen Anlauf. «In Marseille hat man mir gesagt, Sie gäben mir weitere Instruktionen. Sie haben vorhin einen Namen erwähnt. Valdsky. Ich weiß von Kuider … «

«Nicht so laut!», zischte Bilderbeck. «Was wissen Sie von Kuider?»

«Ist dieser Valdsky nicht der Missionar, der …»

«Was wissen Sie von Kuider?»

«Das, was ich Ihnen gerade zu sagen versuche. Valdsky soll …»

«Ach, hören Sie auf mit Valdsky!» Grimmig befingerte Bilderbeck seine Oberlippe. «Sie trinken hier seinen Sherry, also machen Sie ihn nicht schlechter, als er war!»

«Ich wollte keineswegs schlecht von …»

Bilderbeck schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab: Ein schlankes Mädchen mit dunkelblondem Haar hatte die Veranda betreten. Katzengleich strich sie an Bahlows Korbsessel vorbei; ihr leicht süßlicher Schweißgeruch erinnerte an Vanille. Bahlow deutete eine Verbeugung an; sie schwang sich auf das Verandageländer. Der Ägyptologe nahm die Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das ölige Gesicht. Das Mädchen gab Bahlows Verbeugung mit spöttisch aufgeworfener Oberlippe zurück. Unter ihrer weißen Bluse zeichneten sich kleine, zart entwickelte Brüste ab; leichter Flaum glänzte über den aufgesprungenen Lippen; und als sie den Arm hob, um einen Pfosten der Veranda zu umschlingen, schimmerte das Haar ihrer linken Achselhöhle durch den Stoff. Bilderbeck hatte sich seit ihrer Ankunft in brütendes Schweigen zurückgezogen.

Hier in Deutsch-Ostafrika ist scheinbar alles möglich, dachte Bahlow, den am meisten der Umstand verwirrte, dass sie Männerhosen trug. Er leerte das Glas, schenkte wieder nach. Männerhosen! In einem verrufenen Berliner Lokal (sein Freund Nägele überredete ihn zum Besuch) hatte Bahlow zum ersten Mal in seinem Leben Frauen in Hosenröcken gesehen, und einmal, ja, das hätte er beinahe vergessen, also einmal hatte er ein Mannweib in Radlerinnenhosen auf Spiekeroog gesehen. Das Mädchen, Bahlow nahm an, dass sie höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre zählte, lehnte mit dem Rücken an einem der Stützpfosten, die Füße auf das Geländer gelegt, die Beine überkreuz, und als sie einen neugierigen Blick auf ihn richtete, verbeugte sich Bahlow ein zweites Mal. «… läuft nachts unterirdisch», hörte er den Ägyptologen schulmeistern. «Ja, die Sonne! Ja, die Sonne reist in der Nachtbarke Mesektet durch die Unterwelt.» Bahlow sah ihr in die Augen. Trotzig hielt sie dem Blick stand. Er trank einen Schluck. Lecker. Der lange Schatten der Sherryflasche verwandelte den Tisch in das Zifferblatt einer Uhr. Der ferne Bilderbeck sprach weiter, Ägypten, Ägypten, und auf einmal zog die stetig sprudelnde ägyptische Zisterne eine für Bahlow gänzlich unverständliche Parallele zu Mitternachtssonne, Nordkap, Spitzbergen, doch als er höflich nachhaken wollte, was Bilderbeck denn mit diesem groben Unfug bezwecke, stellte er fest, dass er zu betrunken war, um den Trupp davonhastender Wörter (schlüpfte da nicht «Ägypten» unter Bilderbecks Korbsessel?) in einem anständigen Satz zu versammeln. Er erhob sich, ein Glas fiel zu Boden, zersprang.

 

«Wir sollten unser Gespräch auf morgen verschieben», sagte Bilderbeck schroff. Er wandte sich an seine Tochter: «Würdest du bitte so freundlich sein, Herrn Bahlow das Gästezimmer zu zeigen?»

Das ist doch nicht nötig, nicht nötig, hoppsa, nicht so schnell, bitte! Dankbar registrierte Bahlow, dass sie im Salon und im Flur bisweilen innehielt, damit er Anschluss gewinnen konnte. Dann stieg sie vor ihm die Treppe hinauf, bedächtig, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt. Sie streckt ihren Hintern raus, dachte Bahlow. Das kleine Luder bietet mir ihren Hintern geradezu an! Mit einer unsicheren Bewegung schob er ihr die rechte Hand zwischen die Beine und bewegte sie langsam zwischen den Schenkeln hin und her.

Sie stieg die Treppe hinauf, ohne sich umzudrehen, atmete aber schwerer und drückte ihren Unterleib fest gegen seine sägende Hand. Als sie im ersten Stock ankamen, stieß sie mit gerötetem Gesicht hervor: «Das ist Ihr Zimmer!» Bahlow sah ihr betäubt nach. Seine Spucke schmeckte wieder säuerlich, ekelhaft, aber er hätte sie trotzdem auf den Mund geküsst, diesen kleinen Engel. «Hallo?», rief er leise. «Hallo?» Er roch an seiner Handkante. «Hallo?»

Sie kam nicht wieder. Er irrte eine Weile im Obergeschoss umher, stieß auf eine offene Tür, erschrak, murmelte Entschuldigungen, kicherte, nein, da lag gar kein fremder Herr im Bett, da hatte bloß jemand seinen Pyjama ausgepackt und ihn mit mumiengleich über der Brust gekreuzten Armen (oh, diese albernen Scherze der Ägyptologen!) auf der Bettdecke drapiert. Bahlow übergab sich in die Nachttischschublade und legte sich ins Bett, einem unentwegt zu kentern drohenden Dampfer inmitten eines schwarzen traumlosen Ozeans. Bahlow erwachte in der schaukelnden Gewissheit, sich noch immer auf hoher See zu befinden. In der Nachbarkabine vergnügte sich der schafsgesichtige Witzbold mit einem ordinären Weibsbild, deren Kopf er stöhnend an die Wand schmetterte – aber waren das nicht Schreie? Beharrlich schob sich das Gästezimmer über die Kajüte. Bahlow seufzte, sah auf die Uhr, unten schlugen Türen, halb vier, jemand brüllte eine Anweisung auf Kisuaheli, eine leise Stimme gab eine bekümmerte Antwort. Vielleicht hat sie ihrem Vater alles erzählt?

Bahlow verspürte das Bedürfnis, die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen, aber dann siegte die Besorgnis, sie hat ihm alles erzählt, angefasst hat er mich, untenrum, ängstliche Füße verließen das Gästezimmer, tasteten sich Stufe um Stufe hinab zu dem quadratischen Treppenabsatz, wo die Treppe in einer heftigen Bewegung zum Hausflur hin abknickte. «Gehen Sie sofort in Ihr Zimmer zurück!», schrie Bilderbeck. Er umklammerte die Griffe eines gewaltigen Nussknackers, Bahlow blinzelte, nein, kein Nussknacker, vielmehr erinnerte das gewichtige Gerät in Bilderbecks Händen an eines dieser Essbestecke, mit denen man in vornehmen Restaurants Hummerscheren zu knacken pflegt – allerdings hatte dieses Alptrauminstrument die Größe einer Heckenschere. «Gehen Sie! Sofort!», brüllte Bilderbeck. Den Flur erfüllte ein flackernder Lichtschein. «Oder muss ich Ihnen erst Beine machen!» Bahlow schloss zweimal hinter sich ab, lehnte sich schwer atmend gegen die Tür des Gästezimmers. Diese Facette Afrikas bedurfte einschneidender Emendationen! Unten schrien Menschen, brüllten, lachten, etwas wurde die Treppe hoch- und gleich darauf wieder runtergeschleift; ein dumpfer Aufprall ertönte. Irres Gelächter erklang, während man etwas Sackartiges, Schweres über die Dielen zerrte. Trat für einen Moment Stille ein, wurde Bahlows Phantasie durch alptraumhafte Gefilde gehetzt. Doch diese Stilleperioden währten nie lange. Jemand drosch mit einem Hammer auf splitterndes Holz, Glas zersprang mit einem befreiten Klirren, jemand gab flehende Laute von sich, brutal brüllte man ihn nieder, die Haustür wurde zugeschlagen. Geschwind trat Bahlow ans Fenster. Auf der Sandstraße war niemand zu sehen. Doch halt! Am Straßenrand verbarg sich zwischen den Palmen eine dünne Gestalt. Bahlow sah weiße Augen und eine Reihe grinsender Zähne. Die Gestalt deutete zu ihm herauf, gestikulierte erregt, trat einen Schritt zurück und verschmolz mit den Schatten. Jemand sang im Korridor vor dem Zimmer ein kehliges Lied. Leichte Schab- und Kratzgeräusche erfüllten das Treppenhaus. Dann kehrte Stille ein, völlige Stille.

Als Bahlow am nächsten Morgen das Zimmer verließ, erwartete ihn ein verwüstetes Heim. Aufgerissene Schränke erbrachen Kleider und Hausrat; der Cocktailtisch versuchte sich an einem Kopfstand; Bücher, die aussahen, als hätte man sie mit aller Kraft an die Wand geworfen, bedeckten die geborstenen Dielenbretter. Man wird Sie am späten Vormittag am Hafen abholen, stand auf dem Zettel, den ein Federmesser an einen Stützbalken heftete. Erwähnen Sie mich nicht. Ich melde mich bei Ihnen. Halten Sie sich an Ihre Weisungen. Alles Gute! Bilderbeck. Weisungen? Er hatte keine Weisungen. Fluchend stieg Bahlow die mit Menschenkot besudelte Treppe hoch, packte den Pyjama in die Reisetasche und nahm, auch auf die Gefahr hin, sich zum Gespött zu machen, den Tropenhelm aus der Hutschachtel und setzte ihn auf. Licht. Überhell. Brennend. Sonne. Haustür schräg in den Angeln. Quietscht. Kracht an die Hauswand. Denken. Gestern sind wir. Orientieren. Raus hier! Nur raus hier!

Bilderbecks Anwesen krönte eine Anhöhe, von der aus sich die Sandstraße in eine Senke hinabschlängelte, an deren Grund die Luft flirrte wie kochendes Wasser. Von der Senke aus würde es fast ebenerdig zum Hafen gehen. Also los! Bahlow trug die Kiste ein Stück in die Senke hinab und kehrte zu Bilderbecks Haus zurück, wo ihn sein übriges Gepäck erwartete. Bald leisteten Reisetasche und Seesack der Kiste Gesellschaft. Bahlow kehrte um, um die Rolle Maschendraht und das Fangnetz zu holen, und schon hatte sich seine gesamte Habe um gut fünfzig Meter dem Hafen genähert. Der aus allen Poren schwitzende Entomologe setzte die Maschendrahtrolle und das schlappe Fangnetz jedoch nicht bei der Kiste, der Reisetasche und dem Seesack ab, sondern trug sie – an Camp Eins vorbei – zu einem wiederum fünfzig Meter näher am Hafen liegenden Punkt, den er im Geiste Camp Zwei nannte. Als Bahlows Gepäck sich zwei weitere Stationen auf den Hafen zubewegt hatte, trat ein pockennarbiger Europäer aus dem Dickicht am Wegesrand und erwartete ihn am sog. Camp Vier, das Bahlow in diesem Augenblick mit Seesack und Reisetasche komplettierte. «Ich nehme an, Sie sind der Entomologe Bahlow, der zur Tendaguru-Expedition stoßen soll.» Bahlow nickte. Vielleicht würde ihm der Mann helfen, das Gepäck zum Hafen zu transportieren. «Hier! Geben Sie das bitte von Geinitz!» Bahlow nahm den Umschlag entgegen. Vor einigen Tagen war er über das Oberdeck geschlendert, ein lauer Abend, ich habe als einer der letzten Reisenden den Tropenanzug angelegt, Kamelkarawanen zogen am Ufer des Suezkanals entlang, auf einmal stand dieser Heizer oder Kohlentrimmer oder Was-auch-immer vor ihm, ein rußiges Gesicht, maulwurfsartig blinzelnde Augen. Genau! Der Fremde erinnerte Bahlow an den verschreckten Heizer, der sich ähnlich lauernd und gehetzt umgesehen hatte.

«Man holt Sie am Hafen ab.»

«Ja», antwortete Bahlow.

«Das war keine Frage.» Mit zwei weit ausholenden Schritten erreichte der Pockennarbige den Straßenrand; grüne Wellen schlugen über ihm zusammen. «Sie werden dort bereits erwartet», kam es aus dem Dickicht, gefolgt von einem sich eilig entfernenden Rascheln und Knacken.

Bahlow steckte den Umschlag in die Innentasche der Jacke, bückte sich nach der Kiste. Bei Camp Fünf schloss sich ihm eine Gruppe Kinder an, die das Gebaren des schweißgebadeten schimpfenden Weißen entzückte, der mit einem großen Haufen Besitztümer durch die Lande zog. Bahlow verfluchte erneut sein Versagen am Quai du Port, schrie: «Weg von der Kiste!» Mehr Kinder, Frauen, Männer, Camp Sechs, Sieben, die Meute wurde ausgelassener, johlte, wenn ihm der Tropenhelm in die Augen rutschte, sang, Camp Acht, Bahlow verfluchte sein Versagen auf Bilderbecks Veranda. «Nur beobachten!», höhnte eine Stimme in seinem Kopf, die unangenehm an die seines Lateinlehrers erinnerte. «Sein Leben führen wollen, als läse man ein Buch! Carl, sie geben dir das Afrika, das du verdienst!» Gegen Mittag erreichte Bahlow den Hafen als Mittelpunkt eines beweglichen Volksfestes. Und so begann sein afrikanisches Abenteuer.

5Oft habe ich das Gefühl, mich in der Etage geirrt zu haben, verirrt in einem Haus, über dessen Eingang ein Schild angebracht ist, auf dem in den unsicheren Krakeln eines Fünfjährigen DAS LEBEN steht. Heute sehe ich geflissentlich über das selbstmitleidige Pathos des Betrunkenen hinweg (in jenen Tagen erwachte meine Neigung zu autobiographischer Bestandsaufnahme erst, wenn ich ein gewisses Level erreicht hatte, ein Level, das bei etwa vier Bier aufwärts lag), mir geht es vielmehr um dieses Gefühl der Verunsicherung, das in obigem Notizbucheintrag weit weniger durch eine Metapher ausgedrückt wird, als es den Anschein erwecken mag: Im Alter von fünf Jahren hatte ich mich tatsächlich einmal in der Etage geirrt. Damals besuchte ich mit meinen Eltern «Onkel» Richard, einen zotenreißenden Kegelbruder meines Vaters. Was «Onkel» Richard von Beruf war, weiß ich nicht mehr. Irgendwas mit Holz. Jedenfalls hatte er Geld und veranstaltete regelmäßig Gesellschaften mit Tanz und kaltem Büffet. Im Mittelpunkt dieser Feiern stand nie er, sondern seine um einige Jahre jüngere Frau, «Tante» Monika. Sie trug zur Freude aller anwesenden Kegelbrüder tief dekolletierte Kleider und war unglaublich doof. So ersetzte sie mit kokettem Augenaufschlag die Vokale vermeintlich anstößiger Wörter durch mit Pünktchen bekleidete Umlaute. Dem-und-dem gehöre mal so richtig der «Ärsch» versohlt, konnte sie sich empören, oder sie erzählte, Richard sei es wegen eines aufgewärmten Fischgerichts so schlecht gegangen, dass er die ganze Nacht lang «gekötzt» habe, wobei sie das «ö» in die Länge zog und mit einer Achterbahnfahrt heiterer Tremoli verzierte.

Ich erinnere mich noch gut, wie sie mich, als ich vom «Klöchen» kam, mit der Frage bestürmte, ob ich ein kleines oder (dramatische Pause) großes Geschäft gemacht habe. «Klein», log ich. Sie nestelte an meinem Hosenladen herum und schob mich nach einigen Tätschlern aufs «Pöpili» ins Wohnzimmer zu den übrigen Gästen. Hier diskutierte Vater über Politik, Mutter half wohl in der Küche beim Garnieren der Platten, gelangweilt aß ich einige Cracker, stopfte mir die Hosentaschen mit Fischlis voll und schlenderte unbeachtet zwischen den Erwachsenen umher, bis mir «Onkel» Richard einige Münzen in die Hand drückte und mich zum Zigarettenautomaten an der Ecke schickte. «Der hängt so tief, da kommst du dran, kleiner Mann! Meine Hausmarke heißt Lasso. Wie das Ding, mit dem die Herren Cowboys die Kühe fangen.» Ha! Wenn der denkt, ich weiß nicht, was ein Lasso ist, hat er sich geschnitten! Breitbeinig wie ein Westernheld näherte ich mich dem Zigarettenautomaten und wartete, bis ein älteres Ehepaar vorbeispazierte. Erst dann warf ich mit größter Selbstverständlichkeit die Münzen ein und zog am Griff der Lasso-Schublade, worin die Zigarettenschachtel lag wie in einem Metallsarg. Leider würdigte mich das Ehepaar keines Blickes. Ich trödelte noch eine Weile enttäuscht am Automaten herum, dann ging ich zurück.

Die beiden in zwei aufrechten Reihen balancierenden Klingelknöpfe an der Leiste neben der Haustür erinnerten mich an die Zitzen einer Sau (dieses biologische Fachwissen hatte ich wahrscheinlich aus der Sendung mit der Maus), und auf den Zehenspitzen stehend drückte ich mit dem Kochlöffel, den mir meine Mutter wohlweislich mitgegeben hatte, die dritte Zitze von unten. «Ja, bitte?» – «Ich bins.» – «Wer ist da? Hallo? – Hallo?» Geduldig erklärte ich der Sprechanlage, einer mechanisch klingenden, aber dennoch superblöden «Tante» Monika, wer ich war. Endlich begriff sie. «Ah, du bist es, Georgli!» Das Schloss brummte, ich drückte die Tür auf, stapfte die Treppe hoch, erster Stock, stapf, stapf, stapf, zweiter Stock, netterweise hatte man die Wohnungstür offen gelassen, damit ich nicht zu klingeln brauchte, ich trat ein – und stand in einem leergeräumten Flur. Die Garderobe war verschwunden, stockfleckige Tapeten lösten sich von den Wänden, kein Teppich bedeckte mehr den Boden, die Stille war greifbar. Beklommen öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer, aber auch hier erschreckten mich kahle Wände. Keine Bilder, keine Gardinen. Der Luftzug der in den Raum schwingenden Tür trieb dicke Wollmäuse über einen Holzfußboden, auf dem nur helle Flächen zurückgeblieben waren, die Echos von verschwundenen Möbeln und Teppichen. Sie haben alles mitgenommen, dachte ich. Noch nicht mal die Lampen haben sie hängen lassen. Deshalb hat er mich also Zigaretten kaufen geschickt. Ich schrie so laut, dass man mich in der dritten Etage hörte. Nach geraumer Zeit fanden mich «Onkel» Richard (belustigt) und Vater (verlegen) in der leeren Wohnung: In der Speisekammer, die Knie an die Brust gezogen. «Wir sind oben!», erklärte Vater. «Ein Stockwerk höher.» Und kurz darauf: «Siehst du, wir sind alle noch da!» Doch ich ließ sein Bein erst wieder los, als wir zu Hause aus dem Taxi stiegen.

 

Ein ähnliches, wenn auch nicht so traumatisches Erlebnis hatte ich Jahre später, als ich mich mit der Métro verfuhr. Ich war unterwegs zur Station Jussieu, versuchte den Kulturteil einer französischen Zeitung zu lesen, malte Kreise und Schlaufen unter Paris, die Buchstaben einer außerirdischen Schrift, wir tauchten aus dem Boden auf, um eine überirdische Station anzulaufen, ein Moment kurzen Glücks, dann riss es uns wieder hinab in die Dunkelheit. Auf einmal hielt die Métro, und sämtliche Passagiere stiegen in einer beunruhigenden Gelassenheit aus, als wüssten sie alle etwas, das ich nicht einmal ahnte. Ich ließ die unverständliche Lektüre auf einem pflichtbewussten Sitz liegen, der nicht hochklappte, um nach dem sich entfernenden Hintern des Aufstehenden zu schnappen, und folgte der Menge. Ein Meer von Köpfen glitt auf einer langgezogenen Rolltreppe in eine tiefere Etage. Hier verkehrten richtige Züge, RER, stand an den Wänden, seltsame Pläne, seltsame Namen, eine Welt unter der Métro, Châtelet Les Halles, halt, das kenn ich doch, umherirren, Schilder, Rolltreppen, endlose Gänge, Spiegel, Schilder, Treppen hinauf, Treppen hinab, Schilder, ein Drehkreuz, ja, bestätigte mir ein deutscher Familienvater, die violette Linie fahre zum Porte de Clignancourt, bei Barbès-Rochechouart stieg ich aus (wie immer verkaufte der alte Araber Nüsse und Gewürze auf seiner umgedrehten Apfelsinenkiste, ich freute mich richtig, ihn zu sehen), quetschte mich in einen überfüllten Wagon, fuhr eine Station weiter in Richtung Porte Dauphine und hatte mich erst wieder halbwegs beruhigt, als ich die Station Anvers durch das vertraute Jugendstiltor verließ.

Achim, mit dem ich an unserem Stammplatz in Mollingers Eck saß, konnte ich meine beiden «Etagen-Erlebnisse» nicht erzählen. Er war nicht in Stimmung für ein ernsthaftes Gespräch. Ich hielt ihm mein Bierglas hin. Wir stießen an. Ich hatte mich eben an diese beiden Erlebnisse erinnert, weil Heinz behauptet hatte, er wäre vor einigen Jahren mit einigen Freunden durch die Kneipen gezogen und hätte Betrunkene aufgegabelt, um sie in anderen Städten auszusetzen. «‹Klar fahrn wir dich nach Hause!›, haben wir denen gesagt, und wenn wir gemerkt haben, dass sie so breit waren, dass sie nix mehr geschnallt haben, gings ab auf die Autobahn.» Heinz zauberte eine Zigarette hinter dem Ohr hervor, brach den Filter ab, sagte: «Hat mir Molli geschenkt», steckte sie an und sprach weiter, wobei er die Tabakfäden, die an der Lippe kleben blieben, trocken zur Seite spuckte. «Also stellt euch vor, ihr wankt durch die Stadt, thp, und wisst absolut nicht, wo ihr seid, thp, thp, und ihr orientiert euch am, thp, Karstadt, aber so wie hier hat das Karstadt noch nie ausgesehen, thp, tshp, Scheißzigarette!» Er zerquetschte sie im Aschenbecher. «Alles falsch, ihr kennt die Straßennamen nicht, kennt die Straßen nicht, auch wenn sie so heißen, wie sie sonst heißen, und wenn ihr dann zum Bahnhof geht …» – «Ist der Bahnhof ein unheimliches, ein fremdes Gebäude», ergänzte ich. Heinz nickte und zündete sich mit sichtlichem Behagen eine Gauloises an. «Gemein!», sagte Achim anerkennend, der seit seiner Bemerkung über Heinz’ «modische Kleidung» zu großen Respekt hatte, um auch nur eine Spur Skepsis an dessen Geschichte zu zeigen. – «Und das habt ihr wirklich gemacht?», fragte ich. – «Yup!» – «Wie oft?» – «Vier-, fünfmal war das bestimmt.» – «Klasse!», sagte ich. – «Jau!» Heinz stützte die Fäuste auf den Tisch, stand auf. «Ich geh dann mal zurück zu den Jungs am Tresen!» Achim sah Heinz’ breitem Rücken nach – und in diesem Augenblick biss die erste Erinnerung an. Schnell zog ich die Leine ein: Am Haken baumelte ein schreiender Junge in der leergeräumten Etage eines Mietshauses. Kaum hatte ich den Fang vom Haken gelöst und die Leine erneut ausgeworfen, fing ich die zweite Erinnerung: Ein verstörter Tourist mit erbärmlichen Französischkenntnissen, der inmitten routinierter Pendler eine steile Rolltreppe ins Unbekannte hinabfährt.

«Glaubst du ihm?», fragte Achim. «Es war eine gute Geschichte», sagte ich diplomatisch, bedeutete Molli mit einem zweifingrigen V, noch zwei Bier zu zapfen, und nach dem fünften legte der Abend ab, verließ den Hafen und glitt auf einer unbewegten, trüben See davon, die mein Kugelschreiber gegen Mitternacht in einem Strudel des Selbstmitleids aufrührte, als ich nämlich am Küchentisch obigen Etagen-Satz ins Notizbuch kritzelte, ehe ich zu Susanne ins Schlafzimmer schlich.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich mich am folgenden Montag wieder in der falschen Etage befinden und gleichzeitig eine Irrfahrt in einer verrückt gewordenen Métro machen würde, während mich böse Unbekannte sturzbesoffen in einer fremden Stadt ausgesetzt hatten. Das klingt übertrieben, vielleicht auch eine Spur zu originell, aber bei meiner Lesung in der Volkshochschule kam alles zusammen. Nach einer schlaflosen Nacht, in der mich der bevorstehende Auftritt mit Krakenarmen umklammert gehalten und mein Gehirn jedes Mal heftig zusammenpresst hatte, sobald es sich anschickte, im Watte-Reich des Schlafs zu versinken, kroch ich am Montagmorgen als verängstigter Schatten aus dem Bett. Bereits um neun Uhr kratzten wir das erste Unfallopfer von der Straße. Der Fahrer des blutverschmierten Mercedes saß auf einem Gartenmäuerchen; zwischen seinen Sandalen krümmten sich halbgerauchte Zigaretten; das Mädchen, entschuldigte er sich bei den Umstehenden, sei auf die Straße gerannt, einfach so, der Aufprall habe sie auf die andere Fahrbahn geschleudert, er schluckte, vor den Omnibus. Heinz hob die Decke an, die man über den kleinen Körper gebreitet hatte, kam fluchend zurück. Wortlos zog ich die Zinkwanne aus dem Transit und klappte sie auseinander. Die weiteren Termine waren weniger bedrückend: Krankenhäuser, Hausbesuche, die übliche Routine. Heinz philosophierte über seine Freunde, die good ol’ Totenwürmer, ich brütete düster vor mich hin, und als wir irgendwann nachmittags an einer roten Ampel standen, rammte mir Heinz den Finger in die Seite und fragte in kaum verhohlener Besorgnis: «Sag mal, willst du heute nicht in die Bäckerei?»

«Nein.»

«Was isn los?»

Ich erzählte ihm von der Lesung.