Fahlmann

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Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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«Ich denk, das macht dir Spaß!»

«Macht es auch.»

Heinz sah mich fragend an.

«Ach, ich weiß ja auch nicht», seufzte ich und rührte den Tabakqualm im Inneren des Transits mit einer hilflos schöpfenden Handbewegung auf, «das ist eine komplizierte Angelegenheit.»

Danach versuchte mich Heinz bei einem eiskalten Feierabendbierchen in Sonjas Hähnchen Grill zu trösten, indem er mir einen Witz nach dem anderen erzählte. Frauen beim Arzt, Blondinen in der Badewanne, der Ameisenbär im Edelpuff. Laue Pointen umgaukelten die zerfranste Peripherie meines Bewusstseins, als mich Onkel Jörg gegen Abend zur Volkshochschule brachte. Er hatte Heinz zur Nachtbereitschaft verdonnert und freute sich vermutlich schon, dass sie binnen einer Stunde «sterngranatenvoll» im Büro sitzen würden. Onkel Jörg war ein Verführer in Sachen klarer Schnaps und Heinz ein willfähriges Opfer. Ich hätte mir auch lieber einige Kurze hinter die Binde gekippt, anstatt mich vor aller Welt lächerlich zu machen! «Nö, brauchst du nicht, ich nehm mir nachher ein Taxi. Sauft nicht zu viel. Und danke fürs Rumbringen!» Onkel Jörg hupte zum Abschied, ich winkte ihm nach, betrat die Volkshochschule und ließ mich von pfeilförmigen Pappschildern in den Keller leiten, dessen Wände irgendein Unbegabten-Workshop mit abstrakten Gemälden geschmückt hatte, zu denen Titel gepasst hätten wie Trauriges blaues Quadrat oder Alberner grüner Rhombus.

An der Rückwand des Seminarraums, in dem ich lesen sollte, hatte man mehrere Tische in einer pornographischen Assemblage versammelt: Sie kletterten übereinander, besprangen sich und reckten in wohliger Trägheit die nackten Metallbeine in die Luft. Nur ein einziger Tisch distanzierte sich von dem schamlosen Treiben, ein Tisch, den eine Leselampe und ein umgestülptes Glas als mein «Pult» kenntlich machten. Ich drehte das Glas um, stellte die mitgebrachte Wasserflasche, kohlensäurearm, rülpsfeindlich, so daneben, dass nur ich allein das Etikett lesen konnte, knipste die Lampe an, sie funktionierte, noch sechsundzwanzig Minuten, knipste sie aus und saß ähnlich ausgeknipst vor den leeren halbmondförmig aufgebauten Stuhlreihen. Aus dem Ranzen des Mädchens war ein Schulbuch auf die Straße gerutscht, Mathematik, viertes Schuljahr, ich zwang mich, an den Ameisenbären im Bordell zu denken, tap, tap, tadap, krebsten meine Finger in nervösen Märschen über die Tischplatte, noch zweiundzwanzig Minuten, dachte ich, eine nackte Frau sitzt in der Badewanne, dachte ich, Großvater kam mit kleinen, vorsichtigen Schritten in den Raum geschlurft.

Ich stand auf, ging ihm entgegen. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, bereitete ihm das Gehen größere Mühe. Lediglich seine Augen schienen nicht so rasch zu altern wie der Rest des Körpers; es waren verschmitzte Augen, seltsam vergrößert durch lupendicke Brillengläser.

«Aufgeregt?», fragte er mitfühlend.

«Ich sage nicht ja, ich sage nicht nein.»

«Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.»

Ich sah ihn verständnislos an.

«Es wäre schlimm, wenn du nicht aufgeregt wärst.»

«Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie ist es absurd, wenn man – ach, wünsch mir doch einfach Glück!»

Er klopfte mir auf die Schulter und suchte sich einen Sitzplatz. Ich verdrückte mich, um im Flur eine Zigarette zu rauchen. Die ersten Besucher kamen. Ein Germanistikstudent, den ich vom Sehen kannte, grüßte mich, spähte in den Saal, entdeckte Großvater und wollte witzig sein.

«Der alte Sack», sagte er, «hat sich bestimmt im Raum geirrt»

«Das mag wohl sein», murmelte ich und ersann blitzschnell eine elegante und äußerst schmerzhafte Methode, Großvater zu rächen, eine Methode zudem, die jede Gewalttat an Heimtücke übertraf. «Ich hab dir was zu gestehen», sagte ich. Er näherte sich erwartungsvoll. Ich setzte eine bekümmerte Miene auf. «Es handelt sich um etwas höchst Vertrauliches. Es ist mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Kurz und gut», ich senkte die Stimme: «Du riechst unbeschreiblich aus dem Mund. Weißt du, wie sie dich nennen?»

«Wie?», schnappte er atemlos.

«Sie nennen dich Mister Mundgeruch.»

Mit belegter Stimme: «Wer?»

«Alle an der Uni nennen dich so. Weißt du noch, wie Professor Capart vor deinem Atem zurückgewichen ist, als du ihn mal nach einer Seminarsitzung was gefragt hast? Richtig zurückgezuckt ist der. Und ‹Puh!› hat er gesagt, ganz leise, aber wir habens alle gehört. Tja, seitdem nennen sie dich so. Wirklich alle. Sogar die Erstsemester nennen dich Mister Mundgeruch.»

Er bedankte sich für meine Ehrlichkeit, verstrickte sich in unzusammenhängenden Bemerkungen über unverträgliches Mensaessen und bitteren Automatenkaffee und betrat den Raum, in dem ich gleich lesen musste, um dort sichtlich angeschlagen zwischen den Stuhlreihen umherzuirren. Ich war beeindruckt. Er hatte sogar die Sache mit Capart geschluckt – und das, obwohl er kein bisschen aus dem Mund roch! Zufrieden rauchte ich eine zweite Zigarette, sitzt die Frau also splitterfasernackt in der Badewanne, klopf, klopf, klopf, kommt der Klempner rein, hallo Georg! «Wie schön, dass Sie gekommen sind.» Ich begrüßte eine von Mutters unsympathischen Herrenbekanntschaften mit Handschlag und flitzte danach zur Toilette, um weiterem Händeschütteln zu entgehen. Als Jens in den Kindergarten ging, erzählte er uns eines Tages, sie hätten den ganzen Vormittag damit zugebracht, «richtiges Handgeben» zu lernen, und er solle es jeden Tag mit seinen Eltern üben. Ich vermutete, dass er was ins falsche Ohr bekommen hatte, aber als ich einige Tage später eine gezielte Nachforschung im Katholischen Kindergarten anstellte, bestätigte seine Kindergärtnerin, eine Nonne, nicht nur den widersinnigen Bericht meines Sohnes, sondern belehrte mich darüber hinaus, dass viele Menschen die Wichtigkeit eines selbstbewussten Händedrucks unterschätzten. Dies tat sie nicht ohne versteckten Vorwurf, denn mein Händedruck ließ in ihren Augen offensichtlich sehr zu wünschen übrig. «Dabei ist gerade der erste Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch der entscheidende», dozierte sie selig. «Ein fester, selbstsicherer Händedruck kann Berge versetzen.» Nonnen tun mir immer leid. Sie sehen aus wie Raben und können nicht fliegen. «Ich glaube nicht», widersprach ich höflich, «dass man schon im Kindergartenalter …» – «Doch!», sagte sie. «Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, Herr Fahlmann!» Vielleicht sollte ich Jens zu meiner nächsten Lesung mitnehmen, damit er das Publikum mit professionellem Händedruck begrüßte, hallende Stimmen im Korridor, nahendes Gelächter, ich durchquerte einen kleinen Vorraum (Waschbecken, Spiegel, Händetrockner), kam in einen weißgekachelten Würfel, linker Hand die Pissbecken, gegenüber zwei Toilettenkabinen, es roch vertrauenserweckend nach Sagrotan, ich belegte die rechte Kabine, ließ die Hosen runter, blätterte in meinem Buch, konnte mich nicht entscheiden, mit welchem Teil ich die Lesung beginnen wollte. Jemand betrat die Herrentoilette, Schritte endeten vor einem Urinal, ein Reißverschluss wurde runtergezogen, und nach einer Weile konzentrierten Schnaufens setzte ein zaghaftes Plätschern ein, das zunehmend an Intensität gewann.

Eine zweite Person betrat den Raum, sagte etwas zu der ersten, das ich nicht verstand, Schritte, erneut wurde ein Reißverschluss geöffnet, und als zu dem ersterbenden Plätschern ein kraftvoll sprudelndes hinzukam, wurde ich Zeuge eines beunruhigenden Gesprächs. «Ich konnte draußen nicht so deutlich werden, aber ich halte das, was er schreibt, für Scheiße, für absoluten Blödsinn.» – «Ich auch.» – «Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier.» – «Ja, die Frauen und die Literatur!» Beide lachten, ein Reißverschluss wurde energisch hochgezogen, dann gestand der zweite: «Ich bin auch nicht freiwillig hier. Mir hat», ein Name, den ich nicht verstand, «ne Freikarte geschenkt. Da konnte ich schlecht nein sagen. Außerdem kenn ich ihn», damit war wohl ich gemeint, «flüchtig.» Entschuldigend: «Von der Uni.» Im Geiste sprengte ich die Toilettentür mit einem Tritt auf, brüllte «Überraschung!» und hüllte sie in die lodernde Aureole eines Flammenwerfers. Ein Urinal gurgelte, Schritte, Tür auf, beide verließen die Herrentoilette, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, Tür zu, auf dem Schoß mein Buch, an der kühlen Klotür meine Stirn. Auch ein Erlebnis wie dieses, stellte ich fest, kann das Gefühl der Verunsicherung hervorrufen, dem ich mich vorhin in schwerfälliger Metaphorik zu nähern versuchte, indem ich von falschen Etagen, umherirrenden Métros und ausgesetzten Betrunkenen sprach. Was waren das für Menschen? Einer spülte nicht ab. Der andere zog seinen Reißverschluss nicht hoch. Eine lähmende Unsicherheit lag unter der Oberfläche der Welt wie eine straff gespannte Membran und ließ die Wirklichkeit vibrieren. Ruhig werden. Ich muss ruhig werden. «Guten Tag», sagte ich, «es freut mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind.» Der Klang meiner Stimme gefiel mir nicht. Irgendwie heiser. Hätte heute nicht so viel rauchen dürfen! «Guten Tag», übte ich tapfer weiter, «eigentlich wollte ich ja auf der Toilette lesen, vor einem anonymen, aber nichtsdestotrotz kritischen Publikum …» Ich wischte mir den Arsch ab. Die beiden Kerle sitzen jetzt drüben und warten auf mich. Heiser. Wie ärgerlich! Ich rauche zu viel.

Hoffentlich versagt die Stimme nicht! Ich räusperte mich und steckte mir eines dieser extrastarken Eukalyptusbonbons in den Mund, die Susanne in Zehnerpackungen aus dem Edeka-Lager schmuggelte. Sie war nicht mitgekommen. Angeblich, weil sie meine Sachen «in- und auswendig» kenne. Von wegen! Ich hoffte nur, sie traf heute Abend eine ihrer Freundinnen in einem neonerleuchteten Szene-Café und nicht, wie ich insgeheim befürchtete, den weißhaarigen Wolfgang. Vorhin war sie nur mit einem Höschen bekleidet aus dem Bad gekommen, einem Seidenslip, den ich noch nicht kannte, mit schmetterlingsförmigem, erregend verdunkeltem Webspitzeinsatz, bestimmt trifft sie eine Freundin, Hose hochziehen, bestimmt, abspülen, noch eine Minute, ich zählte bis 60, bestimmt trifft sie eine Freundin, ich verließ die Toilettenkabine, 61, 62, verließ die Herrentoilette, 63, bestimmt, Gemurmel im Saal, 64, 65, sie trifft eine Freundin, alles kam mir unwirklich vor, verkehrt, Wolfgang, 66, sie trifft Wolfgang, 67, 68, den Raum pflasterten Hinterköpfe, natürlich trifft sie, 69, Wolfgang, 69, 70, alle betrachteten die Leselampe, Webspitzeinsatz, betrachteten die Sprudelflasche, 71, 72, es war, als sollte die Scham ihn überleben, mit diesem Satz endet Kafkas Proceß – und so begann meine Lesung, sie trifft sich mit Wolfgang und ich muss mich hier zum Larry machen! Vor mir lag das lächerliche Buch, dieses lächerliche Taschenbuch mit dem noch lächerlicheren Titel. Ich erschrak, wenn ich ihn auf Plakaten las oder in Rezensionen, zuckte zusammen, wenn ich im Radio hörte: Heute Abend liest der junge Autor Georg Fahlmann aus seinem vielbeachteten Gedichtband (und jetzt kommts mit Fanfaren und Paukenschlag) schWEINe-essIG. Das Publikum ignorierend, schlug ich das Buch auf, überblätterte die unvorteilhafte Fotografie, die mich auf einem Campingstuhl in Lambaréné zeigte: Angetan in kurzen Turnhosen und einem zu engen Polohemd starre ich die Daumenkuppe des Lesers an, die sich jenseits des linken Bildrands befindet.

 

«Wir brauchen das Foto morgen früh!», hatte mich Marsitzky mit überschlagender Stimme angerufen. «Das Buch geht nächste Woche in Druck. Um Himmels Willen, Sie müssen doch irgendein Bild von sich im Haus haben!» Ich wühlte mit wachsender Verzweiflung im Schuhkarton mit den Familienfotos. Auf einem trug ich einen doofen Hut, auf vielen schnitt ich Grimassen. «Sich Fotografien, auf denen man selbst drauf ist, zu betrachten», sagte ich, «ist fast so schlimm, wie sein Spiegelbild in der Sonnenbrille von jemandem zu sehen, den man nicht leiden kann und der nicht blind ist.» Nein, vergessen Sie das! Das habe ich nicht gesagt. Nie gesagt. «Ich sehe auf allen fürchterlich aus.» Das habe ich gesagt oder etwas in der Art. «Und was ist damit?», fragte Susanne und nahm einen Schnappschuss aus der Schachtel, den Jens im vorigen Sommer von mir gemacht hatte. «Das kannst du nehmen! Das ist gut!» – «Aber da sitze ich doch in Lambaréné», warf ich ein. – «Ist doch scheißegal», sagte sie. «Bild ist Bild.» – «Meinst du nicht, dass ich da etwas zu blöd aussehe?» – «An deiner Stelle würd ichs nehmen.» Ihr Haar wallte über meine Schulter, wir betrachteten das Foto, und da Om darauf um meine nackte Wade strich, fragte ich ihn, ob ich es nehmen sollte. Aber Katzen sehen keine Bilder. Katzen wollen nur wissen, was sich hinter den Dingen befindet, die man ihnen vor die Nase hält. «Om würds nicht wegschicken», vermutete ich. «Es ist ein gutes Bild», sagte Susanne. «Außerdem würdest du Jens damit eine große Freude machen.»

Dieses Argument gab den Ausschlag. Fotografie: Jens Fahlmann, stand nun im Impressum, Reinheit aus 124 Meter Brunnentiefe, jubelte das Etikett der Sprudelflasche, erwartungsvolle Stille kehrte ein, die letzten Huster verklangen, jemand knisterte kurz und energisch mit einer Plastiktüte. Ich würde, wusste ich auf einmal, die Lesung mit einem lange überfälligen Exkurs über die vermeintliche Ernsthaftigkeit meiner Lyrik eröffnen – aber hieß es nun «Seriosität» oder «Seriösität»? Um den drohenden Blackout zu überwinden, einen wildwuchernden Tintenfleck im Sprachzentrum, begann ich mit höflichem Gestammel. «Vielen Dank, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Normalerweise gibt es eine Einführung, aber Frau Jeckel», erschrocken bemerkte ich, dass ich kicherte, «also Frau», ich riss mich zusammen, «Jeckel von der VHS hat heute noch eine andere Veranstaltung. Ähm … ja … Ich lese nun aus meinem Gedichtband», befangenes Räuspern, «schWEINe-essIG. Das Buch besteht aus fünf Teilen. Sie heißen: narrenbutter, schWEINe-essIG, fischmützencocktail, das FRATT und mond-schein-parade.» Ein Mann in der ersten Reihe knarzte mit seiner Lederjacke. Grimmiges Gesicht, schlaffe großporige Hamsterbacken, vor der Brust verschränkte Arme. Mein Blick strich übers Publikum, wurde hektischer, zuckte schließlich wie eine Flipperkugel hin und her, erstarrte, Inge. Inge! Inge saß neben mir im Thomas-Mann-Hauptseminar. Ihre Handrücken waren immer verkratzt. Sie musste sich mit ihrer Katze unglaubliche Gefechte liefern. Schwarze, fast blau glänzende Locken, Nasenring, gut, dass Susanne nicht hier ist, ich fühlte mich immer schuldig, wenn ich in ihrem Beisein mit einer schönen Frau plauderte. Das Schlimme daran war, dass ich mich im Bewusstsein einer mehr oder weniger grundlosen Schuld wirklich wie ein Schuldiger verhielt, so dass Susanne zunehmend skeptischer mich und meine Gesprächspartnerin musterte.

Kaum hatte ich Inge im Publikum ausgemacht, meldete sich der für Strategie zuständige Teil meines Gehirns zu Wort: Ich müsste sie morgens besuchen, abends wäre ungünstig, da könnte Susanne was mitbekommen, Dialoge wurden vorskizziert, ich hantierte mit unbekannten und bekannten Größen (Susanne), Inge kam im Seidenhöschen aus dem Badezimmer. Und wenn sie direkt nach der Lesung geht? Was dann? Neben Inge saß ein junger Mann mit Koteletten und Dreitagebart. Vielleicht war er nur wegen ihr hier? Stünde sein Hosenladen offen, würde das mein Toilettenrätsel zur Hälfte lösen. Einer kannte mich von der Uni (A), der andere (B) war mit seiner Freundin hier. Roch A nicht aus dem Mund? Wenn ja, dann kannte ich ihn. Legte B Inge flach? Wenn ja, wie oft? Und woher kannten sich A und B? Aus dem Georg-Fahlmann-wir-finden-dich-scheiße-kommen-aber-trotzdem-zu-deiner-Lesung-Club? In einem Kriminalroman der alten Schule hätte ich mich in der Klokabine auf den Boden gekniet, um unter der Tür hindurch einen Blick auf Schuhe und Hosenbeine der Unbekannten zu erhaschen, Wolfgang, Susanne trifft sich mit Wolfgang, ein Räuspern, das nach Großvater klang, riss mich aus meinen Gedanken, anfangen, da hat er recht, ich muss endlich anfangen, und im salbungsvollen Tonfall eines Laienpredigers las ich das erste Gedicht der mond-schein-parade:

unfug mit dem feuerlöscher

das ist der wahre jakob

und hip hip hurra

als klosteine durchs urinal «welt»

ich als algebraischer bürgermeister

du als ufologischer hase

dann grinsend im binsenanzug

sesam & co

Ich verlas mich mehrmals (besonders der algebraische Bürgermeister entpuppte sich als kapitaler Stolperstein), baute aber darauf, dass die Abnahme der Aufregung positiv mit der Abnahme der Patzer korrelieren würde. Ich sah auf, ein hübsches Mädchen in der dritten Reihe erwiderte meinen Blick, höchstens vierzehn, die Kleine. Ihr entzückend aufmerksames Gesicht gab mir die Kraft, das zweite Gedicht der mond-schein-parade im atemlos schnarrenden Tonfall eines Wochenschausprechers zu zelebrieren:

hühnereier verprassen

oben am jong bösch

über kekenheck

gott aufs nattsetzel locken

klebt da wie eine fliege

auf dem fliegenpapier

in der küche meiner großmutter

väterlicherseits

Niemand wagte zu lachen, schließlich war das Buch in einem angesehenen Verlag erschienen. Die Lederjacke in der ersten Reihe knarzte nachdenklich. Na, Freunde, wie viel haltet ihr aus, ohne zu lachen? Ich verspürte das verhängnisvolle Verlangen, zu improvisieren. Weltmaschine, dachte ich, Weltmaschine, doch zum Improvisieren war es zu früh. Dazu war ich noch viel zu aufgeregt!

dr. nussig der kandis oder zucker

hat tee in der tube (7 liter und mehr)

peilt gott lotrecht im eimer

verlegt sein hirn

verlegt seine seife

an bord von zeppelin «freud»

so lustig

Während des Vortrags erinnerte ich mich an die Gespenstercomics meiner Kindheit, die ich im Bettkasten versteckt hatte, damit Mutter sie mir nicht wegnahm. Seltsam, aber so steht es geschrieben. Mit diesem Satz endete jede Geschichte, und kaum hatte ich so lustig gelesen, dröhnte auch ich:

seltsam aber so steht es geschrieben

Immer noch lachte niemand. Wahrscheinlich denken alle, das gehört zum Gedicht, höhö, mir kochte das Adrenalin vollends über, zu früh! Gefahr! Viel zu früh! Aber schon hörte ich mich orakeln:

weltmaschine weltmaschine

Ich wusste nicht mehr weiter und murmelte betreten:

die weltmaschine … hat …

Ich goss mir Mineralwasser ein. «Nicht zu schnell lesen», hatte Frau Jeckel von der VHS gesagt, aber das Zeugs musste schnell gelesen werden. Schnell! Schnell! Eine vage Idee entrollte sich wie ein Feuerwehrschlauch, füllte sich mit kohlensäurearmem Wasser und schnellte prall aus meinem Mund:

alles schnell in der weltmaschine

alle welt in der schnellmaschine

von dr. nussig aus der tube

Eines der größten Probleme bei Lesungen war mein zwanghaftes Bedürfnis, ins Publikum zu schauen, obwohl mich jedes bekannte Gesicht in höchste Beunruhigung versetzte. Neben dem Erlebnis auf der Herrentoilette bekümmerte mich vor allem die Anwesenheit Norbert Polkingers. Mit andächtig geschlossenen Augen saß der Assistent von Professor Capart in der letzten Reihe und lauschte der mond-schein-parade, ein gefährlicher Mann, denn er korrigierte und benotete alle Hausarbeiten. Ich sah ihn bereits wie Barlachs Rächer durch die Flure des Germanistischen Instituts eilen, um die Tür zu Caparts Büro mit einem süffisant beiläufigen «Ich war gestern übrigens bei der Lesung von diesem Fahlmann» aufzureißen. Hühnerprodukt mit zwei Buchstaben. Professor Capart blickt zweifelnd vom Kreuzworträtsel auf. Polkinger trabt derweil auf der Stelle, kräht: «Unfähig!» und seine Erregung entlädt sich in einem Luftsprung. «Fahlmann kann überhaupt nicht schreiben!» Er packt den Garderobenständer und führt ihn in den beschwingten Schritten einer Gigue durch den Raum, während ein zu Tode betrübter Capart den Kopf schüttelt und immer wieder händeringend ausruft: «Eine Null! Eine Niete! Was habe ich davon zu halten! Da ist mein guter Fahlmann also eine Niete!» Hinter dem Schreibtisch starrt Adorno grimmig aus dem Silberrahmen, und seine umwölkte Miene hellt sich erst auf, als Professor Capart keift: «Ich darf auf gar keinen Fall vergessen, Fahlmann durch die Magisterprüfung fallen zu lassen. Erinnern Sie mich gegebenenfalls daran, Polkinger, und stellen Sie endlich den Kleiderständer dahin, wo er hingehört! Wir sind hier doch nicht zu Besuch bei Arno Schmidt in Bargfeld!»

Caparts Assistent öffnete die Augen, ich senkte den Blick ins Buch, über dessen Seiten kleine, fast quadratische Textflöße schwammen. Warum er? Warum ausgerechnet er? Norbert Polkinger war einer dieser Wichtigtuer, die in der Mensa extralaut redeten, damit man noch drei Tische weiter ihren Scharfsinn und ihre Belesenheit andächtig zur Kenntnis nahm. In Seminarsitzungen führte er Adorno und Horkheimer im Munde, um sich bei seinem Doktorvater einzuschmeicheln, und hatte dabei stets (ein liebenswertes Detail) die Finger gespreizt, weil er an einer Hautflechte litt, die besonders gut in jenen feuchtwarmen Regionen des Körpers gedeiht, wo keine Frischluftzirkulation gewährleistet ist. Polkinger! Irgendwann bist du dran! Einen Ehrenplatz, ja, man könnte fast sagen, einen Logenplatz auf der Schwarzen Liste hatte ihm vor allem das gönnerhaft herablassende Verhalten eingebracht, das er mir gegenüber an den Tag legte. Vor Dritten betonte er unablässig, für wie überaus «begabt» und «talentiert» er mich halte, und begrüßte mich stets mit einem vermutlich ironisch gemeinten: «Na, wie gehts denn dem Herrn Dichter!» – in meinen Augen eine subtile Beleidigung. Dichter! Sofort sah ich einen verträumten blutarmen Schwärmer vor mir, der mit Leidensmiene über eine Blumenwiese schreitet. Im Gegensatz zum Poeten, einem ausgemergelten Stubengelehrten, der alles mit dem Mond vergleicht, hat der Dichter einen Degen umgegürtet; aber eine Frau bekommt trotzdem keiner von beiden ab. Autor: ein nichtssagendes, konnotationsarmes Wort, allerdings tausendmal besser als die freche Verhöhnung Buchautor, die bei Fernsehshows eingeblendet wird, wenn Oma Kruse einem staunenden Moderator ihren Klimakterialreiseführer vorstellt. Schriftsteller klang in meinen Ohren relativ harmlos.

Schriftsteller leben im Winter in den nostalgischen Pensionen britischer Seebäder, und alle Gäste tun so, als fürchteten sie unsäglich, in dem Großen Roman verewigt zu werden, an dem der charmante Gesellschafter nachts arbeitet, wenn er sich nach einem letzten Gläschen Portwein auf sein Zimmer zurück gezogen hat. Erzähler gefiel mir eigentlich am besten, aber da ich einen Gedichtband veröffentlicht hatte, trat ich heute als Lyriker auf. Treten Sie näher! Treten Sie heran! Hier sehen Sie die Praxis des Lyrikers, Tür an Tür mit einem armenischen Gynäkologen, und während dieser seinen buschigen Schnauzer zwischen den gespreizten Schenkeln einer rassigen Französin versenkt, hört man nebenan Wasser rauschen und zaghaftes Gezupfe auf der verstimmten Leier; dann wird es still (bis auf das Stöhnen von Valerie), denn der Lyriker hat sich im Badezimmer eingeschlossen, um seinen Namen in Wasser zu schreiben. Als Kinder hatten wir uns gegenseitig zu übertrumpfen versucht. Wir riefen: «Erster!», riefen: «Schnellster!», und behauptete einer, «Bester Tormann!» oder «Bester Kletterer!» zu sein, stach ihn nur ein Ausruf aus: ein unschlagbares, ein unbesiegbares, ein ultimatives «Bester Alles!» Polkinger hält mich bestimmt nicht für den Besten Alles. Distanz! Ich darf nicht so begeistert lesen. Ich muss wesentlich distanzierter klingen. Der Beste Alles gab sich von nun an redlich Mühe, und prompt erklärte Professor Capart dem anerkennend nickenden Adorno: «Georg Fahlmann karikiert ironisch den Literaturbetrieb. Eine Ausnahmebegabung. Ich werde ihn die Magisterprüfung bestehen lassen, auch wenn er nichts weiß, haha, ich geb ihm sogar ne Eins, wenn er einen Chiasmus mit einem, ach, Sie wissen schon, verwechselt.» Zwo, drei, vier …

 

oberst viss im nacken

nack-tack-tack so dunkel

zwei flaschen brause &

komm mal mit mein kleines

eulenkidnapping im schmackelwald

oh, nein, peter vogel!

Wie konnte ein Erwachsener solche Gedichte lesen oder hören, nack-tack-tack so dunkel, ohne den Verfasser für einen totalen Blödian zu halten? Draußen wurde es tatsächlich dunkel, nack-tack-tack, ich knipste die Lampe an und badete das zitternde Buch im Lichtsee. Jens hätte Spaß an der Lesung gehabt. Wahrscheinlich feilschte er gerade mit Mutter, wie lange er noch aufbleiben durfte. Und Susanne? Was sie wohl gerade – nein darüber darf ich nicht nachdenken! Webspitzeinsatz. Nicht jetzt! Wäre Jens hier, er hätte jedenfalls seinen Spaß. Und wahrscheinlich all seine Freunde …

oma kruse und h. c. knolle

im kurhotel «thoelke»

und brühwarm im oberstübchen

shaffery & genossen

duseln nattern durch krummbüsche

krebsen nacktschnecken den hang hoch

plätten maulwurfshügel maulwurfshügel

heh, kellner! mehr zucker!

kaffeetasse johann zirpt im kaltbach

– armer johann

Sprach ich «Thoelke» aus, wie es Wum tat, der heimliche Held meiner Kindheit, waren mir einige zaghafte Lacher sicher. Aber um welchen Preis! Der Lederjackenknarzer sprang vom Sitz, riss einen Fotoapparat in die Höhe, hüllte mein Gesicht in ein Blitzlichtinferno und verließ den Raum auf quietschenden Gummisohlen. Alle sahen ihm nach. Alle bis auf Großvater. Der sah mich an. Aber das merkte ich erst, nachdem ich Inge lange angesehen hatte. Ich spürte, wie ich rot wurde. Die Quietschsohlen schlossen die Tür von außen. Übermorgen würden mir zwei bis drei Textsäulen verraten (auf denen das grobgerasterte Tympanon meines verdutzten Gesichts thronte), ich sei ein «Klangkünstler», ein «Wortartist» – etwas anderes fiel den Ärschen nicht ein! Natürlich beruhigte es mich, dass keiner merkte, was für einen Unfug ich hier zum Besten gab, aber irgendwie kränkte es auch mein Selbstverständnis als Schriftsteller – für den Bruchteil einer Sekunde flaniere ich die Strandpromenade eines britischen Seebades entlang. Noch einmal zum Mitschreiben: Einerseits genoss ich es, öffentlich lesen zu dürfen und sogar Geld dafür zu bekommen, andererseits hasste ich es, das öffentlich zu lesen, was ich lesen musste: kurhotel «thoelke» und Konsorten. Und noch einmal zum Auswendiglernen: Selbstverständlich erfüllte es mich mit Stolz und Genugtuung, dass man mich für einen Schriftsteller (Seebad! Seebad!) hielt, aber doch nicht wegen eulenkidnapping im schmackelwald! Die ganze Chose wird noch vertrackter, wenn man bedenkt, dass meine guten Texte allesamt ungelesen zurückkamen. Schickte ich sie an einen Verlag, wartete ich monatelang auf Post. Das Warten machte mich derart wahnsinnig, dass ich die Absagen regelrecht herbeisehnte. Ja, Sie haben richtig gehört! Ich hoffte auf Absagen, damit diese dem fürchterlichen Warten ein Ende bereiteten. Einmal hatte ich ein Haar von Susanne ins Manuskript gelegt, und als es zurückkam, lag das Haar noch immer zwischen den Seiten zehn und elf. Formbriefe!

Ich bekam fast nur Formbriefe. Seltener, aber das war weitaus schlimmer, lag ein persönliches Anschreiben bei. Die Schwäche Ihrer Erzählungen ist, dass sie zu schwer beladen sind. Wie viele junge Debütanten bemühen Sie sich … der Text scheint mir über weite Strecken hinweg sprachlich noch nicht ausgereift … leider sehen wir keine Möglichkeit … haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot. Wir haben Ihr Manuskript sorgfältig geprüft, konnten uns aber leider … Reibekäse … wünschen Ihnen in einem anderen Verlag den erhofften Erfolg … entschuldigen Sie die späte Antwort … passt nicht ins Programm … habe Ihr Manuskript selbstverständlich gründlichst gelesen … bitte Sie um Verständnis, dass ich bei der großen Anzahl von Einsendungen … Reibekäse, Reibekäse, Reibekäse … in anrührender Unbeholfenheit versuchen die kreisrunden Glasabdrücke die olympischen Ringe nachzubilden … Molli knallt zwei Humpen auf den Kneipentisch … über einen Zeitraum von eineinhalb Wochen hatten Achim und ich ein ganzes Notizbuch vollgesaut. Die Mehrzahl der Einträge war beschämend pubertär, aber einiges schien mir hinreichend witzig zu sein, also überarbeitete ich die Texte und tippte sie ab. Achim bekam eine Kopie zum Geburtstag, dann verlor ich das Interesse an den Gedichten, die sich daraufhin, lichtscheu, wie unernste Gedichte nun einmal sind, in den letzten Winkel der Nachttischschublade zurückzogen. Ich verlor das Interesse, bis ich eines Abends die Originale kurzentschlossen in einen Umschlag stopfte und mit einem größenwahnsinnigen Begleitbrief an den elitärsten Verlag schickte, der mir in den Sinn kam. Brächte Achim das Gespräch auf unsere Scherzgedichte, könnte ich nun amüsiert behaupten: «Die Gedichte? Achim, du glaubst es nicht! Die hab ich an einen Verlag geschickt, und die Dümmlinge haben alles für bare Münze genommen!» Aber nicht genug, dass die Dümmlinge alles für bare Münze nahmen, sie waren auch ganz versessen darauf, ein Buch daraus zu machen, ein lustiges Taschenbuch, aus dem ich jetzt all den ernsten «Onkel» Richards und «Tante» Monikas das nächste Gedicht der mond-schein-parade vorlesen musste:

im untersten rausch

durch den eierwald taumeln

bei rümmelsborn (hurra!)

kreuzt die spur des fischhufers

hep! schwammenwald, steh kopf!

steh kopf, schwammenwald!

très joli! pierre oiseau:

chanteur de blues

(carte visite)

Mit verklärtem Gesichtsausdruck improvisierte ich:

und von nun an war er bester alles

Ich machte eine Pause und setzte noch einen drauf:

seltsam aber so steht es geschrieben

Bezaubernd, die Kleine in der dritten Reihe, aber Inge ist auch nicht übel, und bedeutungsschwer:

– – – in der weltmaschine!

Außer mir wussten nur drei Menschen, wie schWEINe-essIG entstanden war: Susanne, Großvater und natürlich Achim, der seinen Wunsch, nicht als Co-Autor genannt zu werden, längst bereute. Wir wären sehr daran interessiert, Ihr Buchprojekt in Angriff zu nehmen. Den Brief in Händen kam ich ins Schlafzimmer gestürzt und hatte Susanne geweckt, die samstags immer bis in die Mittagsstunden schlief, um sich von der durchtanzten Freitagnacht zu erholen. «Das hast du nun davon!», sagte sie, nachdem ich ihr den Sachverhalt in groben Zügen erläutert hatte. «Ich muss es veröffentlichen», sagte ich. Susanne umfasste ihre bloßen Knie. «Du wirst dich mit diesem Quatsch lächerlich machen!» – «Ich weiß nicht, wer sich lächerlicher machen wird, der Verfasser, die Leser oder der Verlag. Ich denke nur, dass es sehr dumm von mir wäre, ein Angebot dieses Verlags auszuschlagen.» – «Sie werden sich alle schlapplachen!» – «Lies dir doch erst einmal den Brief durch!» Susanne überflog die Zusage. «Was sind das für Menschen?», fragte sie. Ich hob die Arme in einer Geste fröhlicher Resignation, die ich mir von Stan Laurel abgekuckt hatte. «Was», fragte sie, «verstehen die unter metatextuellen Kondensaten?» – «Das wissen nur die Götter!»