Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl

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Guiseppe Pagnoni et al. von der Emory University beobachteten das Default Network während der Meditation mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie. Sie baten zwei Gruppen von Studienteilnehmern – Zen-Praktizierende, die über einen Zeitraum von drei Jahren täglich meditiert hatten und eine Vergleichsgruppe ohne jegliche Meditationserfahrung – sich auf ihren Atem zu konzentrieren, dabei gelegentlich zu entscheiden, ob eine gezeigte Buchstabenfolge ein echtes englisches Wort bildete („Begriffsverarbeitung“) und dann wieder zum Atem zurückzukehren. Die mentale Verarbeitung von Begriffen aktivierte das Default Network. Dabei zeigte sich, dass die Zen-Praktizierenden schneller in der Lage waren, zum Atem zurückzukehren und das Default-Network abzuschalten als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe. Sie konnten sehr rasch die Assoziationskette unterbrechen, die durch das Nachdenken über die Bedeutung der Wörter spontan in Gang gesetzt wurde. Die Autoren der Studie nehmen daher an, dass diese Fähigkeit dazu beitragen kann, psychische Störungen zu lindern, die mit einem Hang zum Grübeln einhergehen, wie beispielsweise Zwangsstörungen, Angststörungen und schwere Depressionen.

Warum wir überhaupt ein solches Default Network haben, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Gusnard und Raichle vermuten aber, dass dieses Netzwerk unerlässlich für unser mentales Funktionieren ist. So ist beispielsweise der dorsomediale präfrontale Kortex, ein Hirnareal, das aktiv ist, wenn wir unsere eigenen Gedanken und Worte sowie die Handlungen anderer beobachten, Teil des Default Netzwerks. Dieser ist anscheinend nicht nur an der „freien Assoziation“ und dem „Schweifen der Gedanken“ beteiligt, sondern auch an unseren Zukunftsplanungen. Meditierende sollten sich also nicht dafür verurteilen, wenn ihre Gedanken abschweifen, denn ihr Gehirn tut etwas, das es von Natur aus im Ruhezustand tun muss.

Sollten Sie feststellen, dass sich Ihr Stresspegel bei der Übung „Achtsames Atmen“ erhöht, versuchen Sie sie anders zu machen. Lassen Sie als Erstes den Gedanken los, „es richtig machen zu wollen“. (Sie werden es nie richtig hinbekommen, und Sie werden es nie falsch machen.) Lernen Sie, harmonisch mit dem Geist zu arbeiten, so wie er ist. Es werden immer wieder Erinnerungen oder Gefühle hochkommen, die Ihre Konzentration stören, und es gibt keinen Grund zu verzweifeln, wenn das geschieht. Wir meditieren nicht, um „besser zu werden“, sondern, um unser zwanghaftes Bestreben, alles besser zu machen, aufzugeben. Einen erfahrenen Praktizierenden erkennt man daran, dass er bereit ist, urteilsfrei immer wieder zum Atem zurückzukehren – Jahrzehnte lang.

Das Ausrichten auf und Verankern der Aufmerksamkeit im Atem ist mehr als ein Hilfsmittel, um Konzentrationsfähigkeit und Gelassenheit zu üben – es hilft Ihnen, zu erkennen, wie Ihr Geist funktioniert. Es ist, als ob man eine Kamera ruhig hält, um eine Aufnahme zu machen. Die drei Übungen, die Sie bisher kennengelernt haben, haben Ihnen gezeigt, wie rasch der Geist abschweift, vergleicht, urteilt, und alles, was er wahrnimmt, mit einem Etikett versieht. Je öfter und länger Sie meditieren, desto mehr werden Sie über Ihren Geist herausfinden. Und Sie werden auch eine Menge über sich selbst herausfinden: über Ihre Gefühle, Erinnerungen und darüber, wie Sie auf verschiedene Umstände reagieren.

Zu wissen, dass Ihnen Ihr Anker jederzeit Zuflucht bietet, lässt Sie mutiger werden auf Ihrer inneren Entdeckungsreise. Wie ein Kind, das sich ängstlich hinter dem Rock seiner Mutter versteckt hat, wagen wir eher einen Blick in unsere turbulenten Innenwelten, wenn wir wissen, dass wir uns beruhigen können, indem wir zum Anker (Atem) zurückkehren.

Achtsamkeit auf den Körper

Der Körper ist die Basis der Achtsamkeitsschulung. Wir leben in einem Körper, also müssen wir, um das Leben in seiner Ganzheit wertschätzen zu können, auch den Körper ganz wahrnehmen und spüren. Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, sollte der Körper für uns nicht weniger wichtig sein als der Geist. Alles, was jetzt da ist, kann als Objekt für achtsames Gewahrsein dienen. Da die körperlichen Abläufe relativ langsam und gleichbleibend sind, eignet sich der Körper ausgezeichnet als „Aussichtspunkt“ zur Beobachtung unserer Gedanken und Gefühle. Beim Versuch, in der Achtsamkeitsmeditation das Denken zu beobachten, haben wir ein Problem, weil unsere Gedanken so schnell kommen und gehen, dass wir ihnen kaum folgen können. In dem Moment, da wir ihrer gewahr werden, sind sie schon wieder Vergangenheit. Außerdem verliert sich der sich selbst beobachtende Geist leicht in seinen eigenen Gedankengängen. Es ist viel leichter, im gegenwärtigen Augenblick bewusst zu bleiben, wenn man sich auf den Körper konzentriert. Durch das Ausrichten auf den Atem haben wir schon mit der achtsamen Körperwahrnehmung begonnen. Jetzt wollen wir unser Wahrnehmungsfeld auf die mit dem Atem einhergehenden Körperempfindungen ausdehnen.

Körperempfindungen achtsam wahrnehmen

Diese Übung dauert etwa 20 Minuten. Nehmen Sie eine bequeme, stabile Körperhaltung ein, schließen Sie die Augen und atmen Sie drei Mal tief und entspannt ein und aus.

• Sehen Sie sich selbst vor Ihrem geistigen Auge. Visualisieren Sie Ihre Sitzhaltung auf dem Stuhl, so als würden Sie sich von außen betrachten.

• Spüren Sie Ihren Atem im Körper und üben Sie ein paar Minuten lang achtsames Atmen. Lassen Sie Ihren Körper von selbst einatmen und atmen Sie jedes Mal bewusst aus – ein Atemzug folgt auf den anderen.

• Dehnen Sie nach ein paar Minuten Ihre Aufmerksamkeit auf den ganzen Körper aus, den Raum, der von Ihrer Haut umhüllt ist. Ihr Körper ist immer aktiv, voller Leben. Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit von der stärksten Empfindung einfangen. Nehmen Sie einfach ein, zwei oder drei Körperempfindungen nacheinander bewusst wahr, beispielsweise Ihren Herzschlag, Ihr Gefühl in den Füßen, eine Verspannung im Nacken, warme Hände, eine kühle Stirn, die aufeinander gepressten Kiefer oder den Kontakt Ihres Körpers mit der Sitzfläche des Stuhles.

• Lassen Sie jede Empfindung einfach da sein. Sollte Ihnen die eine oder andere unangenehm sein, versuchen Sie, sich innerlich vorsichtig dafür zu öffnen.

• Bleiben Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit solange bei einem Körpergefühl, bis sie sich von selbst davon löst, und kehren Sie dann zum Atem zurück. Sie können jedes Mal zum Atem zurückkehren, wenn Sie sich innerlich sammeln und Ihre Aufmerksamkeit wieder ausrichten müssen.

• Öffnen Sie sich dann wieder für die Körperempfindungen, die sich in den Vordergrund drängen und die Sie am stärksten spüren. Alles geschieht ganz langsam und leicht. Es geht darum, bei den Empfindungen zu bleiben, die jetzt da sind, und nicht, so viele Empfindungen wie möglich zu identifizieren.

• Spüren Sie in den verbleibenden 10 bis 15 Minuten abwechselnd Ihren Atem und die vorherrschende körperliche Empfindung. Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit entspannt zwischen dem Atem und den anderen Empfindungen hin und her wandern. Nehmen Sie den Atem dann gleichzeitig mit den anderen Körpergefühlen wahr. Versuchen Sie, ganz im Körper zu sein – atmen Sie, fühlen Sie.

• Öffnen Sie langsam die Augen.

War es für Sie entspannend, nach der bewussten Wahrnehmung anderer Körperempfindungen zum Atem zurückzukehren? Oder war es umgekehrt? Fühlte sich die ausschließliche Konzentration auf den Atem vielleicht beengend an, während die achtsame Wahrnehmung des Körpers als Ganzes etwas Befreiendes hatte?

Die Achtsamkeitsmeditation ist eigentlich ein „Tanz“ zwischen der Konzentration auf ein einziges Objekt und dem nicht zielgerichteten Gewahrsein. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit zu stark auf den Atem konzentrieren und dadurch in Stress geraten, können wir uns entspannen, indem wir uns auch für andere Wahrnehmungen öffnen. Wird unsere Aufmerksamkeit andererseits durch die unablässig auftauchenden Gedanken oder Körperempfindungen hin und her gewirbelt, können wir in der zielgerichteten Konzentration auf den Atem Zuflucht vor dem Sturm finden.

Soll ich meditieren?

Es gibt zwei Arten der Achtsamkeitsmeditation: die formale und die informelle. Bei der „formalen“ Meditation nehmen wir uns Zeit – normalerweise eine halbe Stunde oder länger –, um bewusst wahrzunehmen, was wir empfinden, fühlen und denken. Die „informelle“ Meditation ist ein kurzer Augenblick der Achtsamkeit inmitten unseres geschäftigen Alltags. Beide Formen, die sich hauptsächlich im Hinblick auf den Zeitaufwand und das Ziel unterscheiden, können wir im Sitzen, Stehen, beim Gehen oder Essen praktizieren – immer und überall.

Jede(r) sollte für sich selbst entscheiden, ob eine formale Meditationspraxis für sie oder ihn sinnvoll ist. Diese Form ist natürlich intensiver und bewirkt eine tiefere innere Transformation, indem sie tiefere Einblicke in die Natur des Geistes und unsere persönliche Konditionierung ermöglicht. Wenn Sie sich dazu entschließen, eine formale Meditationspraxis aufzunehmen, sollte sie Ihnen Freude machen und zu Ihrem Temperament und Lebensstil passen. Die wenigsten Menschen sind daran interessiert, noch eine weitere Aktivität in Ihren übervollen Terminplan hineinzupressen. Und das sollten sie auch nicht tun. Ich habe dieses Buch nicht für Menschen geschrieben, deren Hauptanliegen die Meditationspraxis ist, obwohl einige Leser und Leserinnen möglicherweise Geschmack daran finden werden. Die hier beschriebenen formalen Meditationstechniken sollen Ihnen hauptsächlich eine direkte Erfahrung der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls ermöglichen. Sie können Ihnen als Anregung für eine mehr informelle Praxis dienen.

Eine formale Meditationspraxis ist kein Selbstzweck – das Leben selbst ist die Praxis. Es ist gewiss nicht leicht, inmitten der Flut von Sinneseindrücken und emotionalen Reaktionen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, wach und bewusst zu bleiben. Wie würden Sie sich wohl an einem Morgen fühlen, wenn Ihr krankes Baby Sie die ganze Nacht wach gehalten hätte, Sie im Büro in drei Stunden eine Präsentation abliefern müssten, die Kühlschranktür über Nacht offen gestanden hätte, so dass die geschmolzene Eiscreme auf den Boden tropft und Ihre Babysitterin in Urlaub wäre? Die meisten Eltern würden sich wahrscheinlich schreiend auf dem Küchenboden wiederfinden. So bewusst und präsent zu bleiben, dass man Probleme ruhig und effizient angehen kann, ist eine Fähigkeit, die im Laufe der Meditationspraxis zunimmt. Wenn Sie sich täglich die Zeit nehmen, in der Meditation Ihr Inneres zu erforschen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dieses mitfühlende Selbstgewahrsein für den Rest des Tages begleitet – sogar in den schlimmsten Momenten.

 

Durch die formale Achtsamkeitsmeditation können wir vor allem lernen, wie man mit unangenehmen Dingen leben kann. Sie hilft uns, so in unserem Körper zu Hause zu sein, dass sich nicht jeder alltägliche physische und/oder emotionale Schmerz zu einem größeren Problem auswächst. Je nachdem, wie Sie sich gerade fühlen, können Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Atem richten, einen körperlichen Schmerz untersuchen, zum Atem zurückkehren, ein Gefühl wahrnehmen, das Gefühl im Körper lokalisieren, atmen, den Körper ein wenig entspannen, atmen, Geräuschen aus der Umgebung lauschen, zum Atem zurückkehren und so weiter. Diese Praxis schenkt uns, wie Jon Kabat-Zinn sagt, die Freiheit, auf das Leben zu „antworten“, anstatt zu „reagieren“. Wir können kluge Entscheidungen treffen: „Soll ich das jetzt wirklich essen? Sollte ich jetzt mit meiner Frau (meinem Mann) streiten? Ist dies der richtige Moment, um einem sexuellen Verlangen nachzugeben?“

Wie lange sollte eine Meditationssitzung im Allgemeinen dauern? Normalerweise wird empfohlen, täglich 30 bis 45 Minuten zu meditieren. Es hat sich gezeigt, dass diese Meditationsdauer das allgemeine Wohlbefinden steigert und sogar das Immunsystem stärkt.

Training fürs Gehirn

Im Jahr 2003 fanden Richard Davidson, Jon Kabat-Zinn und Kollegen heraus, dass ein achtwöchiges Training in Achtsamkeitsmeditation (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion oder MBSR [mindfulness-based stress reduction]), bei dem die Teilnehmer an sechs Tagen pro Woche täglich eine Stunde meditierten, dauerhafte Veränderungen im Gehirn und im Immunsystem hervorruft. 25 gestresste Angestellte eines Biotechnologieunternehmens erhielten eine Unterweisung in Achtsamkeitsmeditation, eine Vergleichsgruppe von 16 Teilnehmern erhielt keinerlei Training. Nach dem Meditationstraining sollten alle Teilnehmer eine der positivsten und eine der negativsten Erfahrungen ihres Lebens aufschreiben. Vor und nach der Schreibübung wurden mittels EEG die Hirnströme der Probanden gemessen. Außerdem wurden Blutproben genommen, um zu ermitteln, wie viele Antikörper sie als Reaktion auf eine Grippeimpfung produzierten.

Die EEG-Aufzeichnungen zeigten, dass bei den Meditierenden eine erhöhte Aktivität auf der linken Seite der frontalen Hirnregion stattfand, einem Bereich, der mit positiven Emotionen assoziiert wird. Diese Gehirnaktivität war sogar nachweisbar, als sie ihre negativen Erfahrungen beschrieben, was darauf hinweist, dass sie gelernt hatten, gut mit unangenehmen oder stressigen Gemütszuständen umzugehen. Die Blutuntersuchungen wurden 4 bis 8 Wochen nach Verabreichung des Grippeimpfstoffs durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Meditierenden mehr Antikörper gebildet hatten als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe – ein Hinweis auf ein stärkeres Immunsystem. Interessanterweise beobachteten die Wissenschaftler eine Korrelation zwischen der Anzahl der Antikörper und der Aktivierung der linken vorderen Hirnregion: Je stärker dieser Bereich aktiviert wurde, desto mehr Antikörper waren nachweisbar.

Im Jahr 2008 untersuchten auch David Creswell et al. die Wirkung des MBSR-Programms auf die Immunfunktion. Sie führten einen ethnischen Querschnitt von 48 HIV-positiven Patienten in das MBSR-Trainingsprogramm ein und ermittelten danach die Anzahl der CD4 T-Zellen – jener Zellen, die vom AIDS-Virus zerstört werden. (Die CD4 T-Zellen oder T-Helferzellen gelten als das „Gehirn“ des Immunsystems, das den Körper vor Angriffen schützt.) Creswell und seine Kollegen fanden heraus, dass „je öfter Menschen an Kursen in Achtsamkeitsmeditation teilgenommen hatten, desto mehr CD4 T-Zellen waren am Ende der Studie im Blut nachweisbar.“

Charles Raison et al. von der Emory University untersuchten die Auswirkungen von Meditation auf das Entzündungsprotein Interleukin-6. Chronischer Stress führt zu einem erhöhten IL-6-Spiegel, der wiederum ein höheres Risiko für Gefäßerkrankungen, Diabetes, Demenz und Depression darstellt. Die Wissenschaftler verglichen eine Gruppe von Studenten, die an einem 8-wöchigen Kurs in Mitgefühlsmeditation teilgenommen hatten, mit einer Gruppe, die sich alle vierzehn Tage zu einem Gespräch über Gesundheitsthemen getroffen hatte. Anschließend wurden alle Studenten einer Stresssituation ausgesetzt: Sie mussten vor einem Publikum sprechen und Mathematikaufgaben lösen. Zwischen der Gruppe der Meditierenden und der Vergleichsgruppe waren keine eindeutigen Unterschiede im Hinblick auf den IL-6-Spiegel festzustellen. Allerdings wiesen jene Meditierenden, die überdurchschnittlich häufig praktizierten, signifikant niedrigere IL-6Spiegel auf als ihre weniger eifrigen Kollegen, was darauf hinweist, dass Achtsamkeitstraining Stress bedingte Entzündungsreaktionen reduzieren kann.

Vielbeschäftigte Menschen nehmen sich vielleicht ein oder zwei Mal am Tag nur 20 Minuten Zeit für die Meditation, aber das ist auch in Ordnung. Fortschritte scheinen „Dosis abhängig“ zu sein, das heißt, davon, wie viel Training das Gehirn bekommt.

Einige Hirnareale werden sogar dicker, wenn wir jahrelang täglich meditieren. Sara Lazar et al. von der Harvard University untersuchten, ob das Praktizieren der Achtsamkeitsmeditation über einen langen Zeitraum die physische Gehirnstruktur verändert. Sie stellten fest, dass der präfrontale Kortex und die rechte anteriore Insula, jene Hirnregionen, die mit Aufmerksamkeit, innerem Gewahrsein und der Verarbeitung von Sinneseindrücken assoziiert werden, bei Langzeit-Meditierenden dicker waren als bei entsprechenden Kontrollpersonen. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Verdickung des Kortex mit der Anzahl der Jahre der Meditationserfahrung korrelierte und den Alterungsprozess des Kortex (der mit den Jahren dünner wird) aufzuhalten schien.

Die psychischen Mechanismen, die bei einer langfristigen Achtsamkeitsmeditationspraxis ursächlich für die Verringerung des Leidens sind, werden derzeit erforscht. Eine Hypothese lautet, dass unsere problematischen Erinnerungen ihren Stachel verlieren, wenn sie ins Bewusstsein dringen, während wir innerlich ruhig sind – („interozeptive Exposition“). Eine andere besagt, dass wir lernen, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, und dass uns diese Fähigkeit hilft, unsere Emotionen zu regulieren. George tat dies, indem er sich auf seinen „Hier-und-jetzt-Stein“ konzentrierte, wenn er plötzlich von traumatischen Erinnerungen überwältigt wurde. Ein weiterer potentieller Effekt der Achtsamkeitsmeditation ist die „Metakognition“, die Fähigkeit, sozusagen innerlich einen Schritt zurückzutreten und die eigenen Gedanken und Gefühle zu beobachten, anstatt von ihnen überflutet zu werden. Vielleicht ist aber die Tatsache, dass wir im Laufe der Zeit nützliche Einsichten über das Leben gewinnen, das überzeugendste Argument für die Wirksamkeit der Achtsamkeitsmeditation. Wir erkennen, wie sich alles verändert, wie wir unser Leiden selbst erzeugen, indem wir gegen Veränderungen ankämpfen, und wie wir uns unbewusst ein „Selbst“ zusammenzimmern. Die letztgenannte Einsicht ist nützlich, weil wir die meisten unserer wachen Stunden mit dem vergeblichen Versuch zubringen, unser zerbrechliches Ego aufzublähen oder ängstlich vor Angriffen zu schützen. (Mehr über dieses verwirrende, aber dennoch wichtige Thema erfahren Sie jeweils am Ende der Kapitel 4 und 5). Wenn wir diese Einsichten über das Leben tief und dauerhaft verinnerlichen, helfen sie uns, Erfolgen wie Fehlschlägen mit Gleichmut zu begegnen, emotionalen Schmerz in dem Bewusstsein anzunehmen, dass „auch dies vorübergehen wird“ und den Mut aufzubringen, jeden kostbaren Augenblick unseres Lebens zu ergreifen. Anders ausgedrückt: intuitive Einsichten, die uns in der Meditation geschenkt werden, können uns helfen, unsere Beziehung zur Welt flexibler, offener, weniger defensiv zu gestalten.

Was Achtsamkeit nicht ist

• Achtsamkeit ist keine Entspannungstechnik. Wenn uns bewusst wird, was in unserem Leben vor sich geht, ist das manchmal alles andere als entspannend, besonders wenn wir uns gerade in einer schwierigen Situation befinden. Je besser wir uns selbst allerdings kennenlernen, desto weniger werden uns die auftauchenden Gefühle überrumpeln. Unsere Haltung zum inneren Erleben ist dann weniger reaktiv. Wir können emotionale Stürme leichter erkennen und loslassen.

• Achtsamkeit ist keine Religion. Obwohl buddhistische Mönche und Nonnen seit über 2.500 Jahren die Praxis der Achtsamkeit ausüben, ist jede Aktivität, die unser Gewahrsein im Hier-und-Jetzt fördert, eine Achtsamkeitsübung. Wir können Achtsamkeit im Rahmen einer Religion praktizieren oder unabhängig davon. Die moderne wissenschaftliche Psychologie betrachtet die Achtsamkeitspraxis als wesentlichen Faktor bei Heilungsprozessen innerhalb einer Psychotherapie.

• Achtsamkeit ist keine Technik, mit der wir unserem gewöhnlichen Alltag entfliehen. Durch Achtsamkeit stellen wir einen direkten Kontakt zu jedem Augenblick unseres Lebens her, wie trivial oder profan er auch sein mag. In diesem Gewahrsein können die einfachsten Dinge zu etwas Besonderem werden – außergewöhnlich gewöhnlich. So nimmt man das Aroma einer Speise oder die Farbe einer Rose intensiver wahr, wenn man ihnen ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Achtsamkeit dient auch dazu, uns selbst intensiver wahrzunehmen, ohne zu versuchen, die profanen, unschönen Seiten unseres Lebens auszublenden.

• Achtsamkeit bedeutet nicht, den Geist „leer“ zu machen. Das Gehirn wird immer Gedanken hervorbringen – das ist seine Aufgabe. Achtsamkeit verhilft uns aber zu einer harmonischeren Beziehung zu unseren Gedanken und Gefühlen, weil wir ein tiefes Verständnis für die Mechanismen des Geistes entwickeln.

• Achtsamkeit ist nicht schwierig. Verlieren Sie nicht den Mut, wenn Sie feststellen, dass Ihr Geist immer wieder abschweift. Das ist seine Natur. Und es gehört auch zu seinem Wesen, sich dieses Abschweifens irgendwann bewusst zu werden. Paradoxerweise werden Sie also genau dann achtsam, wenn Sie darüber verzweifeln, dass Sie nicht achtsam sind. Man kann diese Übungspraxis weder perfekt beherrschen, noch kann man darin scheitern. Deshalb wird sie ja als „Übungspraxis“ bezeichnet.

• Achtsamkeit bedeutet nicht, dem Schmerz zu entkommen. Das zu akzeptieren fällt uns wohl am schwersten, denn wir tun selten etwas ohne den Wunsch, uns besser zu fühlen. Sie werden sich mit Achtsamkeit und Akzeptanz besser fühlen, aber nur, indem Sie lernen, nicht vor dem Schmerz davonzulaufen. Der Schmerz ist wie ein wütender Stier: In einer engen Box eingesperrt wird er wild und versucht auszubrechen, aber auf freiem Feld beruhigt er sich. Achtsamkeit schafft emotionalen Raum für den Schmerz.

Die Praxis der Achtsamkeit im Alltag

Achtsamkeit im Alltag ist eine „informelle“ Meditationspraxis. Kurze Augenblicke achtsamen Gewahrseins können den im Laufe des Tages aufgebauten Stress erheblich reduzieren. Außerdem fühlt es sich gut an, einfach nur zu sein, und sei es auch nur für ein paar Sekunden.

Mit informeller Praxis ist gemeint, dass wir uns bewusst dafür entscheiden, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was im Augenblick vor sich geht. Jede momentane Erfahrung ist ein lohnendes Objekt für Achtsamkeit. Das kann bedeuten, dass wir den Vögeln lauschen, unser Essen bewusst schmecken, beim Gehen die Erde unter unseren Füßen spüren, den festen Griff unserer Hände am Lenkrad wahrnehmen, physische Empfindungen identifizieren, indem wir den Körper geistig sozusagen „abtasten“, oder unseren Atem bewusst wahrnehmen. Es könnte auch so etwas Einfaches sein, wie mit den Zehen wackeln. Der gegenwärtige Augenblick befreit uns von unserer „Gedankenmühle“, be- oder verurteilt uns nie und ist unendlich unterhaltsam.

Auch kurze Achtsamkeitsübungen sollten in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Ein Artikel in einer psychologischen Fachzeitschrift beschreibt einen 27-jährigen Mann namens James, der geistig leicht zurückgeblieben war und unter einer psychischen Störung litt. Mehrmals wurde er wegen aggressiven Verhaltens in eine Klinik eingewiesen. Während eines solchen Klinikaufenthaltes erhielt er fünf Tage lang zweimal täglich ein Achtsamkeitstraining sowie Anweisungen für die darauffolgende Woche, in der er allein üben sollte. Die Trainingsanweisung lautete folgendermaßen:

 

• Stell oder setz dich so hin, dass die Fußsohlen flach auf dem Boden aufliegen.

• Atme normal.

• Denk an etwas, das dich wütend macht.

• Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Fußsohlen und warte, bis du innerlich wieder ruhig wirst.

Von nun an praktizierte James immer, wenn er wütend wurde, diese „Fußsohlen-Meditation“. Ein Jahr später hatte sich sein aggressives Verhalten signifikant gebessert, er konnte alle Medikamente absetzen und seine Betreuer betrachteten ihn nicht mehr als psychisch krank.

Einen individuellen Zugang zur Achtsamkeit finden

Denken Sie daran, dass Achtsamkeitsübungen, die Sie für sich selbst entwickeln, vor allem eines sein sollten: so angenehm wie möglich. Sie sollen Ihnen Spaß machen. Achtsamkeit stellt sich ganz von selbst ein, wenn uns eine Sache Freude macht. Alle Achtsamkeitsübungen schließen normalerweise drei Elemente ein:

• Innehalten

• Beobachten

• Zurückkehren

Innehalten

Zunächst müssen wir einmal innehalten bei dem, was wir tun. Wenn Sie mit jemandem am Telefon streiten, können Sie einen Moment still sein. Wenn Sie im Stau stehen und sich Sorgen darüber machen, dass Sie vielleicht zu spät kommen, können Sie einmal bewusst tief ein- und ausatmen. Dinge langsamer zu tun macht es uns ebenfalls leichter, achtsam zu sein. Wenn Sie langsamer essen, werden Sie bewusster wahrnehmen, was Sie zu sich nehmen, und geben damit Ihrem Körper vielleicht sogar eine Chance, Ihnen mitzuteilen, wann er genug hat. Wenn Sie langsamer gehen, bekommen Sie mehr von der Umgebung mit.

Beobachten

Beim Beobachten geht es nicht um Distanziertheit oder übertriebene Objektivität. Nein, Sie wollen ein „teilnehmender Beobachter“ sein, der innerlich von der Erfahrung berührt wird. Das Leben pulsiert in Ihnen und Sie sind mittendrin; dennoch können Sie beobachten.

Wenn Sie ruhiger werden wollen, ist es hilfreich, sich auf ein einziges Objekt zu konzentrieren, beispielsweise den Atem. Wollen Sie genauer untersuchen und besser verstehen, was Sie im Moment fühlen, können Sie Ihren Körper geistig „abtasten“ und Ihre Gefühle in Worte fassen: „Wut“, „Angst“, Traurigkeit“. (Im folgenden Kapitel erfahren Sie mehr über Achtsamkeit und Gefühle).

Zurückkehren

Wenn Sie merken, dass Sie sich in Tagträumen verlieren, kehren Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit einfach wieder zum Objekt Ihrer Beobachtung zurück. Falls Sie sich in der Natur aufhalten und Ihre Umgebung achtsamer wahrnehmen möchten, müssen Sie sich vielleicht immer wieder auf die Geräusche des Waldes konzentrieren. Sind Sie gerade beim Gemüseschneiden, wollen Sie mit Sicherheit auf die Entfernung zwischen Ihrem Finger und der Messerklinge achten. (Je näher unsere Finger der Klinge kommen, desto leichter fällt es uns, achtsam zu sein!)

Bewusstes Atmen

Immer wenn Sie sich innerlich blockiert fühlen oder verwirrt sind, können Sie die Situation zunächst mit einem bewussten Atemzug entspannen: Halten Sie einfach einen Moment inne und spüren Sie Ihren Atem. Sie können jederzeit und überall bewusst atmen: wenn Sie mit dem Auto an einer roten Ampel stehen, während einer Konferenz oder wenn Ihr Kind einen Wutanfall hat. Lassen Sie sich auf die aufbauende Erfahrung des Atmens ein. Wenn Sie dann ruhiger geworden sind und wieder klarer denken können, können Sie entscheiden, was als Nächstes zu tun ist. Bewusstes Atmen ist die einfachste und beliebteste Achtsamkeitstechnik. Die Herausforderung besteht darin, sich inmitten des oft hektischen Alltags daran zu erinnern.

Achtsames Gehen

Die Geh-Meditation ist eine wunderbare Methode, besonders wenn man den ganzen Tag über gesessen hat und ein bisschen Bewegung braucht. Achtsames Gehen kann als formale, 20- bis 30-minütige Meditation praktiziert werden oder als „Kurzstrecke“, beispielsweise, wenn Sie zur Bushaltestelle oder vom Auto zum Lebensmittelgeschäft gehen. Bei jedem Auftreten auf dem Gehweg können Sie meditieren. Ein meditativer Spaziergang durch den Wald bietet natürlich eine besondere Gelegenheit, sich für die Schönheit der Natur zu öffnen.

Im nächsten Kapitel richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gefühle: Was sind sie? Woher kommen sie? Wie kann uns Achtsamkeit helfen, mit ihnen umzugehen, und wieso funktioniert das?

Achtsames Gehen

Die Übung sollte 10 Minuten oder länger dauern. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort in Ihrer Wohnung, wo Sie mindestens sieben bis zehn Meter geradeaus oder im Kreis gehen können. Beschließen Sie ganz bewusst, diese Zeit zu nutzen, um achtsames, liebevolles Gewahrsein im gegenwärtigen Moment zu üben.

• Bleiben Sie einen Augenblick still stehen, um Ihre Aufmerksamkeit im Körper zu „verankern“. Nehmen Sie Ihren Körper in dieser Position bewusst wahr. Spüren Sie Ihren Körper.

• Beginnen Sie nun, langsam und bewusst zu gehen. Nehmen Sie bewusst wahr, wie es sich anfühlt, einen Fuß zu heben, einen Schritt nach vorne zu machen und den Fuß abzusetzen, während der andere Fuß sich vom Boden löst. Nun machen Sie das Gleiche mit dem anderen Fuß. Achten Sie immer wieder auf Ihre Empfindungen beim Anheben, Tragen und Absetzen. Sie können dabei auch die Worte „Anheben“, „Tragen“ und „Absetzen“ aussprechen, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren.

• Wenn Ihre Gedanken abschweifen, kehren Sie immer wieder zur physischen Empfindung des Gehens zurück. Falls Sie das Gefühl haben, sich schneller bewegen zu wollen, nehmen Sie das einfach wahr und kehren innerlich zu den mit dem Gehen verbundenen körperlichen Empfindungen zurück.

• Üben Sie dies mit Zuneigung und Dankbarkeit. Ihre relativ kleinen Füße tragen Ihren ganzen Körper, Ihre Hüften stützen Ihren Oberkörper. Erleben Sie das Wunder des Gehens bewusst.

• Bewegen Sie sich langsam und fließend, nehmen Sie wahr, dass Sie gehen. Manchen Leuten fällt das am leichtesten, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf den Bereich unterhalb der Knie oder ausschließlich auf die Fußsohlen richten.

• Wenn Sie am Ende Ihres „Gehweges“ angekommen sind, machen Sie eine kleine Pause, atmen Sie einmal bewusst ein und aus, bleiben Sie im Körper verankert und gehen Sie die Strecke auf die gleiche Weise zurück.

• Ist die Meditationszeit um, nehmen Sie sich vor, den ganzen Tag über auf Körperempfindungen zu achten. Nehmen Sie Ihre Empfindungen beim Gehen bewusst wahr, wenn Sie nun etwas anderes beginnen.

Machen Sie diese Übung zunächst (sehr langsam) zu Hause. Später können Sie achtsames Gehen draußen (in der Öffentlichkeit) praktizieren. Den Boden unter unseren Füßen bewusst wahrzunehmen kann uns sehr erden, besonders, wenn wir in Eile oder aufgeregt sind. Manche Leute ziehen es vor, sich beim Gehen nur auf den Atem zu konzentrieren. Das ist auch in Ordnung. Wie bei allen Achtsamkeitsübungen können Sie frei experimentieren und dabei entdecken, was für Sie am besten funktioniert.

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