Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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KAPITEL 2

Achtsame Präsenz*

Eine Grundlage für Mitgefühl und Weisheit

TARA BRACH

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RŪMĪ (BARKS, 1995, S. 80)

Ich war gerade dabei, einen eintägigen Meditationsworkshop zu beenden, als mich eine Frau Ende 60 beiseitenahm. Sie und ihr Mann Jerry waren am Ende einer sehr schwierigen Zeit angekommen, die vor drei Jahren begonnen hatte. Er war an einem Lymphom erkrankt, und jetzt, da sein Tod näher kam, hatte er seine Frau Pam gebeten, seine Pflege zu übernehmen und die Person zu sein, die ihn bei seinem Übergang leiten und unterstützen sollte. „Tara“, hatte sie zu mir gesagt, „ich brauche wirklich Hilfe.“

Verzweifelt tat Pam für Jerry alles, was sie konnte. Er litt unter intensiven Schmerzen, Übelkeit und Erschöpfung. „Ich möchte ihn so gern retten“, sagte sie. „Ich habe mich bei jeder alternativen Behandlungsmethode, die ich finden konnte, umgesehen … bei der ayurvedischen Medizin, bei der Akupunktur, der traditionellen chinesischen Medizin, und alle Testergebnisse ausfindig gemacht … wir werden diese Sache besiegen.“ Sie ließ sich müde auf ihren Stuhl fallen. „Und jetzt bleibe ich mit allen in Kontakt, halte sie auf dem Laufenden … ich koordiniere die Hospizpflege. Wenn er nicht schläft, versuche ich, es ihm bequem zu machen, ich lese ihm vor …“

Ich antwortete behutsam: „Es klingt so, als hättest du dich wirklich sehr bemüht, dich richtig gut um Jerry zu kümmern … und du hast sehr viel getan.“ Bei diesen Worten lächelte sie mich anerkennend an. „Ja, sehr viel getan. Das klingt verrückt, nicht?“ Sie machte eine Pause. „Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich wirklich sehr, sehr angestrengt. Aber jetzt … also, ich kann ihn nicht einfach ohne zu kämpfen gehen lassen.“ Pam schwieg eine Weile und sah mich dann ängstlich an: „Er kann jetzt jeden Tag sterben, Tara. Gibt es nicht irgendeine buddhistische Übung oder ein Ritual, das ich lernen sollte? Gibt es etwas, was ich lesen sollte? Wie ist es mit dem Tibetanischen Totenbuch? … Wie kann ich ihm bei diesem … beim Sterben helfen?“

Als ich die Dringlichkeit hinter ihren Fragen spürte, forderte ich sie auf, in sich hineinzuhören und mich wissen zu lassen, was sie fühlte. „Ich liebe ihn so sehr, und ich habe eine solche Angst davor, dass ich ihn im Stich lassen könnte.“ Sie begann zu weinen. Nach einer Weile sprach sie wieder. „Mein ganzes Leben habe ich Angst davor gehabt, zu versagen – ich glaube, ich war immer getrieben. Jetzt habe ich Angst, bei der Sache zu versagen, die am meisten zählt. Er wird sterben, und ich fühle mich wirklich allein, weil ich ihn im Stich gelassen habe. Ich traue mir einfach nicht zu, dass ich hiermit umgehen kann.“

„Pam“, sagte ich, „du hast schon so viel gemacht … Aber die Zeit für all diese Aktivitäten ist vorbei. An dem Punkt, an dem du jetzt bist, brauchst du nichts mehr zu schaffen, du brauchst nichts zu tun.“ Ich wartete einen Moment und fügte dann hinzu: „Du brauchst einfach nur bei ihm zu sein. Lass ihn deine Liebe durch die Fülle deiner Präsenz wissen.“

In diesem schwierigen Moment fiel mir eine einfache Lehre ein, die für meine Arbeit mit meinen Meditationsschülern wie auch mit meinen Klienten zentral ist: Dass wir Freiheit von Leiden entdecken, geschieht dadurch, dass wir unsere Fähigkeit erkennen, auf eine weise und liebevolle Weise präsent zu sein, und dieser Fähigkeit dadurch vertrauen, dass wir diese Präsenz sind. Angesichts der größten Herausforderungen des Lebens bringt diese zeitlose Präsenz Heilung und Frieden in unser Herz und in die Herzen anderer. Die tiefsten Transformationen in der Therapie entstehen aus der Fähigkeit eines Menschen, sein Leben in einem liebevollen, weisen Bewusstsein zu halten. Dieses Bewusstsein wird dadurch erreicht, dass wir mit bedingungsloser Präsenz aufmerksam sind: klar und mitfühlend sehen, was in diesem Moment ist. Wenn Therapeuten ihren Klienten so eine Fülle der Präsenz anbieten, sind sie ein Modell dafür, wie dieser Mensch sich in sich selbst einschwingen kann; sie bieten somit unmittelbar den heilenden Balsam ungeteilter Aufmerksamkeit. So eine Präsenz, die wir uns selbst oder anderen anbieten, ist nicht passiv. Sie ist vielmehr ein engagierter, rezeptiver Zustand, der der eigentliche Boden für weises Handeln ist.

Pam hatte genickt, als ich von „der Fülle der Präsenz“ sprach. Sie und Jerry waren katholisch, erzählte sie mir, und sie fanden, dass ihnen die Achtsamkeitspraxis, die sie bei mir in der wöchentlichen Gruppe gelernt hatten, geholfen hatte, ihren Glauben tiefer zu empfinden. Aber in dieser Krise schienen alle Reserven an Vertrauen – in sich selbst, in andere, in Gott – außer Reichweite zu sein: „Ich weiß, die Helfer des Hospizes tun alles, was sie können, um zu helfen, aber ich habe einfach das Gefühl, dass dies nicht passieren sollte … Niemand sollte so etwas durchmachen müssen – es ist einfach nicht richtig.“ Für Pam wie für so viele Menschen war Krankheit mit manchmal gnadenloser Last und gnadenlosem Schmerz ein unfairer und grausamer Feind. Manchmal fühlte sie sich verraten und empfand Wut auf das Leben, und in anderen Momenten versank sie in dem Gefühl, persönlich zu versagen. Pam war in Angst und Einsamkeit gefangen und lebte in etwas, was ich eine „Trance“ nenne, identifiziert mit einem mangelhaften, isolierten und bedrohten Selbst.

„In diesen äußerst schwierigen Momenten“, sagte ich, „könntest du anhalten und bewusst wahrnehmen, was du fühlst – die Angst oder Wut oder den Kummer – und dann innerlich leise den Satz sprechen: ‚Ich stimme zu‘.“ Ich hatte diesen Satz kürzlich von Pater Thomas Keating gehört und dachte, Pam als Katholikin könnte ihn vielleicht besonders wertvoll finden. Wenn man sagt „Ich stimme zu“ oder, was ich häufiger rate: „Ja“, entspannt das unsere Panzerung gegen den gegenwärtigen Moment und lässt uns klarer sehen, was in uns und um uns herum geschieht.

Pam nickte wieder, aber sie schaute angespannt und besorgt. „Ich möchte das tun, Tara. Aber wenn ich besonders aufgeregt bin, werde ich ganz schnell. Ich fange an, mit mir zu reden. … Ich spreche mit ihm. … Wie kann ich dann daran denken, anzuhalten?“ Das war eine gute Frage, eine die ich mir oft selbst gestellt hatte. „Du wirst es wahrscheinlich vergessen, wenigstens manchmal“, antwortete ich, „und das ist ganz natürlich. Alles, was du tun kannst, ist, dir vornehmen anzuhalten, dir vornehmen zu fühlen, was passiert, und, sein lassen‘.“ Pams Gesicht entspannte sich, als sie verstand: „Das kann ich machen. Ich kann mir das vornehmen, von ganzem Herzen, für Jerry da zu sein.“

Achtsamkeit: der Boden von Mitgefühl und Weisheit

Ganz einfach gesagt ist Achtsamkeit der absichtliche Prozess, mit der Aufmerksamkeit, ohne zu werten, bei der Entfaltung der Erfahrung von Moment zu Moment zu sein. Achtsamkeit ist das Gegenteil von Trance, ein Begriff, den ich verwende, um die Formen zu beschreiben, wie wir – Therapeuten wie Klienten in gleicher Weise – innerhalb einer beschränkenden Geschichte über das Leben leben. Der Buddha hat diese virtuelle Realität unablässigen Denkens und emotionaler Reaktivität oft als einen Traum bezeichnet, und er hat gelehrt, dass Achtsamkeit uns aufweckt (Gunaratana, 2002). Wenn man sich zum Beispiel in Sorgen über noch nicht bezahlte Rechnungen verliert, nimmt Achtsamkeit die Gedanken der Sorge und die begleitenden Gefühle der Angst wahr. Wenn man sich darin verliert, innerlich zu proben, wie man seinem Vorgesetzten einen Fehler erklären könnte, nimmt Achtsamkeit den inneren Dialog und die Gefühle der Aufregung oder Angst wahr. Wenn man verkrampft vor seinem Computer sitzt und angespannt auf den Bildschirm starrt und eine Antwort auf eine ärgerliche Mail verfasst, kann Achtsamkeit die Gereiztheit, die mentale Angespanntheit und die Empfindungen der erstarrten angestrengten körperlichen Haltung wahrnehmen. Achtsamkeit erkennt und erlaubt ohne jeden Widerstand alle diese Gedanken, Empfindungen und Gefühle, so wie sie kommen und gehen.

Hier ein Bild, das nützlich sein kann, um Achtsamkeit deutlich zu machen (Siegel, 2010b): Stellen Sie sich Ihre Achtsamkeit als ein großes Rad vor. An der Nabe des Rades ist achtsame Präsenz, und von dieser Nabe aus geht eine unendliche Zahl von Speichen nach außen zum Rand. Ihre Aufmerksamkeit ist konditioniert, auf alles zu reagieren, was auftaucht – in Ihnen wie außerhalb von Ihnen –, indem Sie nach angenehmen Erfahrungen greifen, vermeiden, was unangenehm ist, und nicht beachten, was neutral ist. Dies bedeutet, dass der Geist die Nabe gewohnheitsmäßig verlässt, sich die Speichen entlang nach außen bewegt und sich an einen Teil des Randes nach dem anderen heftet. Pläne für das Abendessen gehen in ein verstörendes Selbstgespräch, eine Selbstbewertung, eine mentale Notiz mit dem Vorsatz, jemanden anzurufen, in Gereiztheit über die Lautstärke des Radios und Sorge wegen eines anhaltenden Rückenschmerzes über. Oder die Aufmerksamkeit kann sich, wie Pam es erlebte, in zwanghaftem Denken verlieren und um endlose Geschichten und Gefühle kreisen, was alles falsch ist. Die Aufmerksamkeit bewegt sich von Natur aus in Präsenz und aus Präsenz heraus, aber das Problem ist, dass sie leicht am Rand hängen bleiben kann. Wenn man nicht mit der Nabe verbunden ist, wenn die Aufmerksamkeit außen am Rand ist und festklebt, ist man von seiner Ganzheit abgeschnitten und lebt in einer Trance. Man hat den Kontakt mit der körperlichen Lebendigkeit, mit Gefühlen und mit dem Herzen verloren. Achtsamkeit ist ein Weg nach Hause.

Die buddhistische Tradition bietet einfache, aber wirksame Techniken an, um eine in der Gegenwart zentrierte, klare und mitfühlende Aufmerksamkeit zu kultivieren (Goldstein & Kornfield, 1987). Die Meditationspraxis, die dazu bestimmt ist, Achtsamkeit zu kultivieren, beginnt oft damit, dass man eine Basis oder einen Anker wählt, wie zum Beispiel das Ein- und Ausatmen, Geräusche im Raum oder momentane Körperempfindungen. Weil unser Denken so daran gewöhnt ist, in die Zukunft und in die Vergangenheit zu schweifen und Geschichten über das zu erfinden, was passiert, bleibt es selten länger auf den Anker konzentriert. Obwohl es möglich ist, die Aufmerksamkeit zu trainieren, um sehr stabil zu werden und sich auf ein einziges Objekt konzentrieren zu können, ist dies beim Achtsamkeitstraining nicht der Sinn eines Ankers. Es geht vielmehr darum, zu bemerken, wann man im Denken abgeschweift ist und sich außen auf dem Rad verloren hat, und uns zur Nabe zurückzuleiten. Zurückkommen ist notwendig, wenn wir mit der Realität hier und jetzt in Kontakt kommen wollen. Wenn wir einmal zur Nabe zurückgekehrt sind, hilft der Anker auch, innerlich wieder still zu werden und unser Denken zu beruhigen. Gleich, wie oft unsere Aufmerksamkeit zu einem Problem oder in eine Fantasie oder in eine Erinnerung am Rand abschweift, wir halten einfach an, kommen zur Nabe zurück und erden uns wieder in der Gegenwart.

 

Ob bei formaler Meditation oder mitten im täglichen Leben, eine entscheidende Fähigkeit für das Kultivieren achtsamer Präsenz besteht darin, immer wieder anhalten zu können (Brach, 2003). Wenn wir in einer Trance sind, taumeln wir oft weiter durch die Zeit – „auf unserem Weg“ irgendwohin, versuchen durch den Tag zu kommen, reagieren auf irgendetwas, dann auf etwas anderes. Ich verweise manchmal auf die „heilige Pause“, denn wenn wir anhalten können, fangen wir an, mit dem heilenden Raum der Präsenz in Kontakt zu kommen. Wir können sehen, dass wir auf dem Rand gekreist sind, und beschließen zurückzukommen. Meine Schüler und Klienten berichten oft davon, dass ihnen die heilige Pause vielleicht mehr als irgendeine andere Anleitung zur Meditation ermöglicht hat, aus gewohnten Mustern zwanghaften Denkens aufzuwachen. Schon ein kurzes Innehalten und das Erleben von ein wenig Raum um den Strom von Sorgen und Plänen herum kann sehr befreiend sein.

Wenn unsere Aufmerksamkeit stabiler und gleichmäßiger wird, werden wir spüren, dass die Grenzen der Nabe weich werden und sich öffnen. Dies ist die Phase im Training von Achtsamkeit, die wir Hier sein nennen. Wir sind weiter mit der Bewegung des Atems (oder mit einem anderen Anker) in Kontakt, aber zugleich sind wir uns des Geräusches eines bellenden Hundes, des Schmerzes in unserem Knie oder eines Gedankens daran bewusst, wie lange wir noch meditieren werden. In diesem Zustand fixieren wir uns weder auf diese Erfahrungen noch schieben wir sie beiseite. Wir „erkennen und erlauben“ die Gedanken, Gefühle und Sinnesempfindungen, die in das Feld unserer Aufmerksamkeit gelangen. Sie können frei kommen und gehen. Wenn die Emotionen stark sind, wie das bei Pam der Fall war, kann man das Zulassen dadurch vertiefen, dass man „Ja“ oder „Ich stimme zu“ sagt. Natürlich wird man sich in Gedanken noch oft in Reaktivität verlieren, aber in solchen Momenten kommen wir, wenn wir das wahrnehmen, einfach wieder gelassen zur Nabe zurück – Zurückkommen und Hier sein sind sehr bewegliche, fließende Facetten der Praxis.

Je mehr wir die wache Stille im Zentrum des Rades bewohnen und in die Bewusstheit alles aufnehmen, was passiert, desto mehr wird die Nabe achtsamer Präsenz sozusagen nahtlos, warm und hell. In dem Moment, wenn es keine Kontrolle der Erfahrung gibt – wenn mühelose Achtsamkeit da ist –, gehen wir ganz in natürliche Präsenz über. Diese zeitlose Präsenz ist voller unendlicher Möglichkeiten. Die Nabe, die Speichen und der Rand schweben alle in unserer leuchtenden offenen Bewusstheit – wir sind zu Hause. In diesen Momenten hat unser Geist seine Quelle in einer unverstellten Sicht der Realität – Weisheit – und unser Herz in bedingungsloser Liebe oder bedingungslosem Mitgefühl.

Mitgefühl und Weisheit in schwierigen Zeiten

Es ist viel leichter gesagt, Präsenz in unserem inneren und zwischenmenschlichen Leben aufrechtzuerhalten, als getan. Wir wissen alle, wie es ist, wenn jemand uns kritisiert, unser Gefühl von Kompetenz infrage stellt oder Schuldgefühle oder Scham auslöst. Wir wissen, wie ist es, wenn wir mit einem Klienten zusammen sind und mit einem Gefühl persönlichen Versagens („Ich bin nicht nützlich“) oder einer Bewertung („Sie versuchen nicht wirklich, sich selbst zu helfen“) reagieren. Und wir wissen, wie es ist, wenn wir wie Pam mit einer tiefen Lebenskrise konfrontiert sind – vielleicht in einer Beziehung mit einem Gefühl von Verrat, mit finanzieller Unsicherheit oder mit einer lebensbedrohenden Krankheit. Statt dann in einer achtsamen Präsenz geerdet zu bleiben, verlieren wir uns in kreisenden Gedanken, in dringendem Bemühen, zu kontrollieren, was passiert, in Suchtverhalten und in den Bewertungen und Abwehrmechanismen, die wir kennen. Wir verlieren unsere Klarheit im Denken und unser Herz wird enger. Wie können wir in solchen Momenten Achtsamkeit stärken, wenn wir Gefahr laufen, in eine Trance zu geraten?

Vor ein paar Jahren hat eine Reihe buddhistischer Lehrer begonnen, ein neues Hilfsmittel für Achtsamkeit zu lehren, das aus vier Schritten besteht. Dieses Training in Präsenz kann in schwierigen Situationen, wenn man es mit intensiven und schwierigen inneren Zuständen zu tun hat, eine Unterstützung sein, um Weisheit und Mitgefühl zu wecken, besonders wenn man dazu neigt, sich in Verwirrung zu verlieren oder in sich zu versinken. Obwohl diese vier Schritte in Verbindung mit einer fortgesetzten Praxis von Achtsamkeitsmeditation am wirksamsten sind, können sie auch Klienten einen Zugang zu Achtsamkeit ermöglichen, die sonst auf alles, was sie für „Meditation“ halten, mit Widerstand reagieren würden. Ich habe diese vier Schritte Tausenden von Schülern, Klienten und Angehörigen heilender Berufe beigebracht und diesen Ansatz zu der Form entwickelt und erweitert, die ich in diesem Kapitel beschreibe. Auch in meinem eigenen Leben habe ich diese Technik zu einer zentralen Übung gemacht. Wenn wir uns wie Pam in einer Trance von Angst und Getrenntheit verlieren und leiden, können diese vier Schritte helfen, uns zu voller Achtsamkeit zurückzubringen, indem sie die Aufmerksamkeit auf eine klare, systematische Weise lenken.


Vier Schritte

• Anerkennen, was passiert

• Zulassen, dass das Leben ist, wie es ist

• Die innere Erfahrung mit Freundlichkeit untersuchen

• Sich nicht identifizieren und in natürlicher Bewusstheit bleiben

Anerkennen, was passiert

Dieses Anerkennen beginnt damit, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf richten, was im gegenwärtigen Moment an Gedanken, Emotionen, Gefühlen oder Sinnesempfindungen auftaucht. Anerkennen bedeutet Sehen, was in Ihrem inneren Leben wahr ist. Es bedeutet, einfach zu fragen: „Was passiert in mir in diesem Moment?“ Nutzen Sie Ihre natürliche Neugier, wenn Sie sich nach innen wenden. Versuchen Sie, alle vorgefassten Vorstellungen davon loszulassen, was passiert, und hören Sie stattdessen freundlich und offen auf Ihren Körper und auf Ihr Herz.

Zulassen, dass das Leben ist, wie es ist

Zulassen bedeutet „sein lassen“, was immer Sie an Gedanken, Emotionen, Gefühlen oder Sinnesempfindungen entdecken. Wenn Sie etwas Schwieriges erleben, kann es nützlich sein, sich zu fragen: „Kann ich hier weiter sein?“ Oder: „Kann ich dies so sein lassen, wie es ist?“ Vielleicht empfinden Sie eine natürliche Abneigung oder den Wunsch, dass unangenehme Gefühle verschwinden sollten, oder Sie merken, dass Sie von Gedanken erfüllt sind, die Vorwurf oder Scham enthalten. Aber wenn Sie offener dafür werden, bei dem präsent zu sein, „was ist“, kann sich eine andere Qualität von Aufmerksamkeit einstellen. Um weise handeln zu können, muss man lernen, so bei schwierigen Erfahrungen zu sein, denn sonst reagieren wir auf Schwierigkeiten automatisch und nicht besonnen. Es ist auch notwendig, Mitgefühl zu motivieren, denn wenn wir unseren eigenen Schmerz nicht ertragen können, können wir auch das Leid anderer Menschen nicht ertragen (siehe Kapitel 1).

Die Einsicht, dass Zulassen untrennbar zu Verstehen und Heilen gehört, kann die bewusste Absicht fördern, „sein zu lassen“. Viele Klienten und Schüler, mit denen ich arbeite, unterstützen ihre Entschlossenheit, alles zu akzeptieren, was passiert, dadurch, dass sie ein unterstützendes Wort oder einen Satz innerlich sprechen. Wenn sie zum Beispiel merken, dass Angst sie zu überwältigen droht, sagen sie leise „Lass es zu“, oder sie erleben das Anschwellen tiefen Kummers und sagen „Ja“. Sie könnten auch diese Worte verwenden: „Auch dies“ oder, wie ich Pam vorschlug: „Ich stimme zu“. Zuerst haben viele das Gefühl, dass sie unangenehme Emotionen oder Empfindungen zögernd oder versuchsweise „aushalten“. Oder sie sagen vielleicht in der Hoffnung „Ja“ zu Angst, dass sie sie damit auf magische Weise zum Verschwinden bringen.

In Wirklichkeit müssen wir immer wieder zustimmen und manchmal sogar die subtilsten Formen anerkennen, mit denen wir uns gegen Angst oder Schmerz verspannen. Doch schon die erste Geste des Zulassens – einfach leise „Ja“ oder „Ich stimme zu“ sprechen – beginnt einen Raum zu schaffen, der die harten Kanten unseres Schmerzes weich macht. Ihr ganzes Sein ist nicht mehr so in Widerstand gesammelt und verhärtet. Sprechen Sie den Satz einfach und geduldig, und mit der Zeit wird sich Ihre Empfänglichkeit vertiefen. Ihre Abwehrmechanismen entspannen sich, und Sie empfinden vielleicht körperlich, wie Sie den Wellen der Erfahrung nachgeben oder sich ihnen öffnen können.

Manchmal aber löst allein die Vorstellung des Zulassens vehementen Widerstand aus. „Was soll das heißen?!“, könnte jemand sagen. „Soll ich vielleicht akzeptieren, dass er mich verraten hat?“, „Soll ich Ja dazu sagen, dass ich mich hasse?“, „Zu dieser schrecklichen Angst?“ In diesen Situationen ist es wichtig, klarzustellen, dass man nur der Erfahrung – im Körper, im Herzen, im Geist – im gegenwärtigen Moment zustimmt. Es geht nicht darum, die Situation selbst oder das Verhalten eines anderen Menschen zu akzeptieren, nur die gefühlte Erfahrung hier und jetzt. Wenn Widerstand entsteht, ist der erste Schritt sogar, die Erfahrung des Widerstandes zu akzeptieren. Man erkennt den Abscheu, die Spannung im Körper, den Vorwurf in Gedanken und die Abneigung an und lässt zu, dass man das empfindet. Oft drücke ich es so aus: „Sie sagen Ja zu ihrem Nein!“*

Mit Freundlichkeit untersuchen

Manchmal reicht es aus, wenn man die ersten zwei der vier Schritte ausführt – die Grundbestandteile von Achtsamkeit –, um sich Erleichterung zu verschaffen und sich wieder mit Präsenz zu verbinden. In anderen Fällen reicht die Absicht, anzuerkennen und zuzulassen, allein nicht aus. Wenn man zum Beispiel mitten im Prozess einer Scheidung steht, dabei ist, einen Job zu verlieren, oder mit dem Leiden oder der Not eines nahestehenden Menschen konfrontiert ist, kann es sein, dass man leicht von intensiven Gefühlen überwältigt wird. Weil diese Gefühle immer wieder ausgelöst werden – man zum Beispiel von einem baldigen Expartner einen Telefonanruf bekommt oder morgens mit Schmerzen aufwacht –, können Reaktionen tief erschüttern. In solchen Situationen kann es erforderlich sein, achtsame, freundliche Bewusstheit noch mehr zu beleben und zu stärken.

Untersuchung bedeutet, das natürliche Interesse anzusprechen – das Verlangen, Wahrheit zu wissen – und eine fokussiertere Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung zu richten (Goldstein & Kornfield, 1987). Wenn man einfach anhält und sich fragt „Was passiert in mir?“, kann das der Anfang sein, Erfahrung anzuerkennen. Mit einer Untersuchung unternimmt man aber eine aktivere und gezieltere Selbsterforschung. Sie können sich fragen: „Wie erlebe ich dies in meinem Körper?“ oder „Was möchte dieses Gefühl von mir?“ oder „Was glaube ich von mir?“, „Was glaube ich von anderen?“ Der Impuls für so eine Untersuchung entsteht aus unserer angeborenen Intelligenz. Wir erkennen, dass wir uns für ein tieferes Verständnis unserer Situation öffnen müssen.

Die Phase der Untersuchung – der dritte der vier Schritte – ist für die therapeutische Beziehung besonders geeignet. Obwohl wir vielleicht spüren, dass wir genauer anschauen müssen, was in uns passiert, stellen wir uns oft gerade die Fragen nicht, die uns am ehesten von einer unbewussten Identifikation mit unseren Gedanken und Gefühlen befreien könnten. Wenn zum Beispiel ein Klient von Gefühlen der Angst oder Verletzung besessen ist, kann der Vorschlag, der Frage nachzugehen: „Was glaube ich in diesem Moment?“, die Geschichten persönlichen Versagens oder Misstrauens aufdecken, die diese Gefühle genährt haben. Wenn man die Überzeugung, den Glauben oder die Befürchtung bewusst benennt, kann das ihren Zugriff schwächen und eine Möglichkeit eröffnen, die Frage zu stellen: „Ist das wirklich wahr?“ Wenn ein Klient andererseits in obsessives Grübeln versunken ist, kommt er vielleicht nicht auf die Idee, sich zu fragen: „Was spüre ich in meinem Körper?“ Diese Frage kann helfen, aus Intellektualisierungen, Wertungen und mentalen Kommentaren herauszutreten, die eine echte Einsicht, „wie die Dinge sind“, verdunkeln, und unmittelbar mit dem Felt Sense von Verletzlichkeit oder Verletztheit in Kontakt zu kommen, und das kann authentisches Selbstmitgefühl entstehen lassen.

 

Weisheit kann sich entfalten, wenn man alles in achtsame Bewusstheit aufnimmt, was man zu vermeiden gewohnt ist oder was man zugedeckt hat. Wenn man seinen Erfahrungen nachgeht und sie untersucht, kann man mit Empfindungen einer Hohlheit oder Wackligkeit in Kontakt kommen und dann auf eine Geschichte stoßen, die man sich jahrelang erzählt hat, wie man von denen weggestoßen wurde, denen man am meisten nahe sein wollte. Dies kann zu einer Erinnerung von Ablehnung führen und dann zu Gefühlen der Scham, von Verletzungen oder Einsamkeit. Unter diesen Reaktionen begraben könnte man eine Sehnsucht nach Akzeptanz, nach Verbundenheit und Beziehung empfinden. Solange man mit diesen Teilen der Psyche nicht bewusst in Kontakt kommt, können sie leicht die Erfahrung kontrollieren und die Identifikation mit einem bedrohten, mangelhaften Selbst aufrechterhalten. Nur wenn man das Licht der Bewusstheit auf bisher verborgene Erfahrungen richtet, können die angenommenen Identifikationen anfangen, sich zu lockern. Man fängt an zu sehen, dass unser Sein mehr ist als ein unsicheres, beschränktes Selbst, und diese Einsicht ermöglicht uns, auf unsere Situation weise und nicht aus emotionalem Schmerz heraus zu antworten.

So eine Untersuchung reicht aber allein nicht aus, um volle achtsame Präsenz entstehen zu lassen. Damit die Untersuchung heilend und befreiend sein kann, muss man an Erfahrungen mit einer freundlichen Qualität der Aufmerksamkeit herangehen. Dies bedeutet, dass man mit einem Gefühl der Fürsorge oder Anteilnahme und Wärme in Kontakt ist, und alles, was auftaucht, freundlich willkommen heißen kann. Ohne diese Herzensenergie kann eine Untersuchung nicht tiefer wirken und unsere natürliche Weisheit wecken; dann gibt es nicht genug Sicherheit und Offenheit für echten Kontakt: Selbstmitgefühl ist ein wesentlicher Bestandteil einer achtsamen Präsenz.

Stellen Sie sich vor, dass Ihr Kind in der Schule gemobbt wurde und weinend nach Hause kommt. Was nötig ist, ist sowohl Verständnis (Untersuchung) als auch Mitgefühl. Um herauszufinden, was passiert ist und wie es Ihrem Kind geht, müssen Sie mit einer freundlichen, offenen und einfachen Aufmerksamkeit da sein. Auf ähnliche Weise erzeugt unsere Anteilnahme und Akzeptanz einen sicheren und heilenden Raum, damit die Emotionen gefühlt, untersucht und transformiert werden können, wenn ein Klient in großer Aufregung zu einer Sitzung kommt. Mit den vier Schritten bringen wir unserem inneren Leben diese intime Aufmerksamkeit entgegen. Sie weicht die Panzerung des Herzens auf und macht Selbsterforschung und letztlich Einsicht und Heilen möglich.

Weil so viele Klienten an Scham und Selbstablehnung leiden, haben sie wenig oder gar keine Erfahrung mit Selbstmitgefühl. Bei Therapeuten beginnt unsere eigene mitfühlende Aufmerksamkeit dieses emotionale Muster aufzulösen und zu transformieren. Darauf aufbauend kultiviert das Training in Achtsamkeit allmählich die Fähigkeit des Klienten, schwierige innere Erfahrungen mit Freundlichkeit zu halten. Die Samen dieser Veränderung der Beziehung zum eigenen inneren Leben werden in der Anfangsphase der vier Schritte gelegt – mit dem Anerkennen eines schmerzhaften emotionalen Zustandes und dem Zulassen, wie er ist. Die Forschung mittels bildgebender Verfahren hat gezeigt, dass achtsame Aufmerksamkeit an sich Teile des Gehirns aktiviert, die mit Mitgefühl und Empathie zu tun haben (Cahn & Polich, 2006; Hölzel et al., 2011). Der dritte der vier Schritte – Untersuchen und bewusstes Anbieten freundlicher Aufmerksamkeit – stärkt Achtsamkeit, vertieft sie und lässt eine volle und auf authentische Weise mitfühlende Präsenz entstehen. Auf diese Weise kann man Mitgefühl wie Weisheit als wesentlichen Bestandteil achtsamer Präsenz und auch als ihre kostbare Frucht verstehen.

Nichtidentifikation verwirklichen

und in natürlicher Bewusstheit bleiben

Die klare, offene und freundliche Präsenz, die mit den ersten drei Schritten wachgerufen und geübt wird, führt zum vierten Schritt: zur Freiheit, die in Nichtidentifikation besteht, und zur Verwirklichung von natürlicher Bewusstheit oder natürlicher Präsenz. Nichtidentifikation bedeutet, dass unser Selbst-Gefühl nicht mit irgendwelchen Emotionen, Sinnesempfindungen oder Geschichten darüber, wer wir sind, verschmolzen ist oder von ihnen definiert wird. Diese Erkenntnis, dass es kein statisches, stabiles Selbst gibt, ist der eigentliche Ausdruck von Weisheit und die Essenz von Freiheit (Rahula, 1982; siehe auch Kapitel 9 und 13). Identifikation hält uns in dem „kleinen Selbst“ gefangen, in dem Selbst der Trance. Wenn die Identifikation mit dem kleinen Selbst gelockert ist, beginnen wir, Lebendigkeit, Offenheit und Liebe, die unsere natürliche Bewusstheit ausdrückt, intuitiv zu erfassen und von ihr aus zu leben. Der indische Lehrer Nisargadatta Maharaj (1973) beschreibt das so:

Liebe sagt: „Ich bin alles.“

Weisheit sagt: „Ich bin nichts.“

Zwischen diesen beiden strömt mein Leben (S. 269).

Dieses Erwachen von Weisheit und Liebe (oder Mitgefühl) wirkt sich auf eine sehr unmittelbare Weise auf uns aus: Wir machen die Erfahrung, dass wir mehr Wahlmöglichkeiten in Bezug darauf haben, wie wir auf das Leben antworten – neue Möglichkeiten eröffnen sich, neue, frische Formen der Beziehung mit uns selbst, mit Menschen, die uns nahestehen, und mit Kollegen –, und wir empfinden mehr Dankbarkeit und Unbeschwertheit.

Die ersten drei der vier Schritte verlangen bewusste Aktivität. Im Gegensatz dazu drückt der vierte Schritt das Ergebnis oder die Folge von Achtsamkeit aus: eine befreiende Verwirklichung natürlicher Bewusstheit. Obwohl diese Art von Erwachen bei manchen Menschen das Leiden der Trance ein für alle Mal beseitigen kann, entfaltet sich bei den meisten Menschen Freiheit von emotionalem Leiden eher schrittweise. Wir machen vielleicht die Erfahrung, dass wir viele Runden durchmachen, in denen wir uns in den alten Geschichten darüber verlieren, was mit uns, mit anderen, mit unserem Leben nicht stimmt – und uns dann daran erinnern, wieder zu achtsamer Präsenz zurückzukehren. Weil es ein anhaltendes und hartnäckiges „Vergessen“ gibt, braucht man oft den Glauben an sich selbst – und an Klienten –, um zulassen zu können, dass sich dieser Prozess entfaltet. Aber bei jeder Runde vertieft sich das Verständnis, dass wir nicht das isolierte, mangelhafte und bedrohte Selbst sind, das unsere Geschichten zeichnen. Und mit jeder Runde tritt die Verwirklichung unseres wahren Potentials – erwachte, liebevolle Präsenz – mehr in Erscheinung.

Heimkehr zu liebevoller Präsenz

Und so ging es weiter für Pam. Einen Monat nach meiner Begegnung mit ihr rief sie mich an, um mich wissen zu lassen, dass Jerry gestorben war. Dann erzählte sie mir, was an dem Abend passiert war, nachdem wir miteinander gesprochen hatten. Als sie zu Hause in ihrem Apartment angekommen war, hatte sie Jerry eingeladen, ihr in ihrem stillen Gebet Gesellschaft zu leisten. „Als wir beendet hatten“, erzählte sie mir, „teilten wir uns unsere Gebete mit. Ich sagte ihm, wie sehr ich mir wünschte, dass er meine Liebe fühlt.“ Pam war einen Moment still, dann versagte ihre Stimme. „Er hatte für das Gleiche gebetet … nur umgekehrt. Wir umarmten uns einfach und weinten.“