Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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Pam gab zu, dass sie auch in diesen letzten Wochen weiter mit dem Drang gekämpft hatte, sich anzustrengen, Möglichkeiten zu finden, sich nützlich zu fühlen. Aber sie hatte die vor allen anderen wichtige Fertigkeit erworben, ihre Reaktivität wahrzunehmen und zu erkennen, wenn sie sich von achtsamer Präsenz wegbewegt und kontrahiert hatte. Eines Nachmittags begann Jerry darüber zu sprechen, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hätte, und darüber, dass er keine Angst habe, zu sterben. Sie beugte sich vor, küsste ihn und sagte schnell: „Mein lieber … Heute war ein guter Tag, du scheinst mehr Energie zu haben. … Ich mache dir einen Kräutertee.“ Jerry wurde still, und die Stille erschütterte sie. „In diesen Momenten ist mir so klar geworden, dass alles andere als zuhören, darauf lauschen, was wirklich passiert, alles andere als ganz präsent zu sein, uns eigentlich trennte. Ich hatte nicht gewollt, dass wir uns sein Sterben laut eingestehen. Das würde es allzu wirklich machen. Also vermied ich die Realität, indem ich eine Tasse Tee vorschlug. Aber der Versuch, von der Wahrheit dessen wegzusteuern, was passierte, brachte mich von ihm weg, und das war herzzerreißend.

Während Pam das Wasser für den Tee heiß machte, betete sie und bat darum, mit ihrem Herzen bei Jerry ganz präsent sein zu können. Dieses Gebet leitete sie in den Tagen, die folgten: „Während der letzten paar Wochen musste ich permanent alle meine Vorstellungen davon loslassen, wie sein Sterben sein sollte, und was ich sonst tun sollte, und ich erinnerte mich einfach daran, zu sagen ‚Ich stimme zu‘. Zuerst wiederholte ich die Worte mechanisch, aber nach ein paar Tagen hatte ich ein Gefühl, als finge mein Herz wirklich an einzuwilligen.“ Sie beschrieb, wie sie anhielt, wenn sie merkte, dass sie von starken Gefühlen erfasst war, und schaute dann nach innen, um zu sehen, was los war. Wenn sich ihr Bauch mit Attacken von Angst und Gefühlen von Hilflosigkeit zusammenzog, blieb sie bei den Gefühlen, willigte in die Tiefe ihrer Verletzlichkeit ein, in der Absicht, freundlich zu sein. Wenn sich der ruhelose Drang, „etwas zu tun“, meldete, nahm sie das wahr und war still und ließ den Drang kommen und gehen. Wenn die großen Wellen des Kummers durch sie hindurchfluteten, sagte sie wieder „Ich stimme zu“ und öffnete sich dem gewaltigen schmerzhaften Gewicht des Verlustes. Und als die Tage vergingen, merkte sie, dass ihr Ton, wenn sie „Ich stimme zu“ sagte, immer zarter wurde.

Diese intime, achtsame Präsenz bei ihrer inneren Erfahrung erlaubte Pam, ganz aufmerksam bei Jerry zu sein und von ihrer inneren Weisheit aus zu handeln. Sie drückte es so aus: „Als ich ganz und gar da war und in die Angst und in den Schmerz einwilligte, wusste ich, wie ich mich um ihn kümmern sollte. Ich spürte, wann ich Worte der Ermutigung flüstern und wann ich nur zuhören oder ihn mit Berührungen beruhigen sollte … wie ich für ihn singen, mit ihm still sein, bei ihm sein wollte.“ Bevor sie das Gespräch beendete, sagte sie mir, was sie als ein Geschenk ihrer letzten Tage mit Jerry, als die Antwort auf ihre Gebete sah: „In der Stille konnte ich über ein Gefühl für ‚ihn‘ und ‚mich‘ hinaussehen. Es wurde klar, dass wir ein Feld der Liebe waren – völlige Offenheit, Wärme, Licht. Er ist gegangen, aber das Feld der Liebe ist immer bei mir. Mein Herz weiß, dass ich nach Hause gekommen bin… wahrhaft nach Hause gekommen, um zu lieben.“

Ihrem Herzen und Ihrer Bewusstheit vertrauen

Eine achtsame Präsenz hatte Pams Intuition und ihr Herz geweckt. Sie gelangte von ihrer Angst, vor sich selbst und vor Jerry zu versagen, von ihrer schmerzhaften Isolation und ihrer Wut zu der Einsicht in die Wahrheit der Zugehörigkeit, zu einer immer anwesenden Liebe, die sie auch erhalten konnte, nachdem er gestorben war. Diese Weisheit der Ungetrenntheit ist das Geschenk von Achtsamkeit.

Als buddhistische Lehrerin würde ich sagen, dass Achtsamkeit unser Tor zur Verwirklichung der vibrierenden Lebendigkeit, Liebe und leuchtenden Wachheit ist, die unsere essenzielle Natur ist. Aus der therapeutischen Perspektive sehe ich, dass Achtsamkeit den Zugriff konditionierter, eingefleischter Tendenzen lockert, die auf Temperament und persönliche Geschichte zurückgehen. Der befreiende „Mechanismus“ der Achtsamkeit drückt sich im vierten und letzten der vier Schritte aus: Nichtidentifikation. Wenn man eine volle Präsenz kultiviert, beginnt man Identifikationen mit gewohnten defensiven Mustern und Reaktionen der Abwehr aufzulösen. Befreit von der Trance, die uns einengt und einschränkt, öffnen wir uns für eine umfassendere und klarere Bewusstheit. Diese offene Bewusstheit erlaubt unseren angeborenen Fähigkeiten für Intelligenz und Mitgefühl, sich spontan zu entfalten, neben neuen Wahrnehmungen, Kreativität und Lernen. In den Beziehungen mit Klienten, mit unseren Partnern, mit unseren Kindern oder mit unserem inneren Leben leben wir von einem Raum der Weisheit und Freundlichkeit aus, der nicht mehr von Trance umwölkt ist.

Bei meinem ersten Meditationsretreat erzählte einer unserer Lehrer eine Geschichte über eine Tagung in Indien mit dem Dalai Lama. Eine Gruppe westlicher buddhistischer Lehrer hatte ihn gefragt, was für ihn die wichtigste Botschaft sei, die sie ihren Meditationsschülern zu Hause mitbringen könnten. Er dachte einen Moment nach, dann nickte der Dalai Lama und lächelte breit. „Sagen Sie ihnen, dass sie das Vertrauen haben können, dass ihr Herz und ihre Bewusstheit inmitten aller Umstände erwachen.“ Dies ist mir seitdem immer gegenwärtig geblieben.

Wir sehnen uns danach, angesichts von Schwierigkeiten das Vertrauen zu haben, dass wir den Weg nach Hause zu unserer inneren Weisheit und zu Mitgefühl finden. Achtsamkeitstraining kultiviert dieses Vertrauen, aber nicht notwendigerweise sofort! Ich habe gesehen, wie für viele Menschen der Grund, der sie am meisten davon abhält, bei der Achtsamkeitspraxis zu bleiben, das Gefühl des Zweifels ist: „Ich mache das nicht richtig. Ich verstehe es nicht. Das funktioniert nicht.“ Therapeuten, die ich in Achtsamkeit unterrichtet habe, sowie meine Klienten und Schüler, erzählen mir, dass sie sich regelmäßig in zwanghaften Gedanken verlieren, dass sie nicht fähig sind, eine Erfahrung von „Hier sein“ in achtsamer Präsenz aufrechtzuerhalten. Sie fragen sich, warum meditieren so schwer ist.

Trainieren unserer Aufmerksamkeit ist schwer. Wie andere Autoren dieses Buches ausführen werden, braucht es Zeit und wiederholtes Üben, um die Hirnstrukturen umzuformen, die unsere mentalen und emotionalen „Grundeinstellungen“ verkörpern. Wenn wir Aufmerksamkeit trainieren, bewegen wir uns auch gegen den Strom unserer Kultur mit ihren unaufhörlichen Ablenkungen und mit Multitasking. Und noch wichtiger ist, dass wir lernen, uns anders zu verhalten, als wir in zahllosen Stunden in Gedanken verloren und unbewusst getrieben von Wünschen und Ängsten gelernt und eingeübt haben. Es ist so, als verbrächten wir unser Leben auf einem Fahrrad und strampelten wild, um vom gegenwärtigen Moment wegzukommen. Wir strampeln, um uns gegen das zu stemmen, was passiert, wir strampeln, um zu versuchen, etwas geschehen zu lassen, wir strampeln, um zu versuchen, irgendwo anders hin zu gelangen. Je mehr wir das Gefühl haben, es fehlte uns etwas oder etwas stimmte nicht, um so schneller strampeln wir. Selbst mitten in einer Meditation können wir wahrnehmen, dass wir strampeln – dass wir uns anstrengen, bei der Atmung zu bleiben, dass wir einer Fantasie nachjagen oder versuchen, etwas herauszufinden. Beim Training in Achtsamkeit fühlt man sich zwangsläufig mangelhaft, wenn man nicht respektvoll die Stärke der Konditionierung anerkennt, vor Präsenz wegzulaufen: Wir sind aber nicht schuld daran! (Siehe Kapitel 18.) Wie können wir vor dem Hintergrund dieser Konditionierung dem Rat des Dalai Lama folgen und unserem Herzen und unserer Bewusstheit vertrauen?

Die wichtigsten Elemente beim Kultivieren von Vertrauen sind Absicht und Aufmerksamkeit. Der Zenmeister Shunryu Suzuki (2007) sagte: „Das Wichtigste ist herauszufinden, was das Wichtigste ist“ (S. 79). Wenn wir die aufrichtige Absicht haben, in jedem Teil unseres Lebens präsenter zu werden, wird das die Tür öffnen. Und wenn wir daran denken, anzuhalten und unsere Aufmerksamkeit anzuwenden, wann immer wir merken, dass wir uns in einer Trance verloren haben – wenn auch nur für ein paar Minuten –, dann sind wir auf dem Weg nach Hause.

Zu dieser Heimkehr kann es in jeder Situation kommen. Wir können uns mitten im Streit mit unserem Partner befinden, und statt noch etwas zu sagen, um unseren Standpunkt zu belegen, halten wir inne. In dieser Pause können wir uns erlauben, mit der Unsicherheit oder der Verletzung und dem Schmerz in Kontakt zu kommen, die unter unserer Abwehrhaltung liegen, was dann die Tür zu aufrichtiger Kommunikation und zu mehr gegenseitigem Verständnis öffnen kann. Wir können übertrieben streng mit uns sein, weil wir zu viel gegessen oder eine schlechte Stunde gegeben haben. Aber wenn wir daran denken, innezuhalten und den Schmerz noch einmal zu spüren, der damit verbunden ist, dass wir mit uns selbst hadern, kann sich der Raum für Selbstmitgefühl öffnen (siehe Kapitel 6 und 7). Es kann passieren, dass wir einem Klienten zuhören und zugleich eine Intervention planen, und wenn wir innehalten, unsere Ruhelosigkeit und Angst wahrnehmen, nicht gut genug zu sein. Wir können Klienten genauer zuhören, wenn wir achtsam mit unserer Erfahrung in Kontakt sind und sie anerkennen.

Wenn wir innehalten und in achtsamer Präsenz ankommen, entsteht Raum dafür, dass sich unsere natürlich intuitive Intelligenz und Anteilnahme einstellen können. Unser Leben wird reich an Möglichkeiten und Verbundenheit mit allem Leben wird überall klarer wahrnehmbar. Mit der Zeit erschließt achtsame Präsenz die Kraft unseres Herzens und unserer Bewusstheit und ermöglicht uns, Mitgefühl und Weisheit, die uns angeboren sind, zu vertrauen und sie zu verkörpern. Darüber hinaus werden wir immer mehr sehen und anerkennen, dass diese selbe grundlegende Güte durch unsere Klienten und alle Menschen hindurch scheint, denen wir begegnen.

 

* Dieses Kapitel ist aus True Refuge (Brach, 2012) übernommen. Copyright 2012 by Tara Brach. Bearbeitet mit Erlaubnis der Autorin.

* Es ist auch wichtig, festzuhalten, dass diese vier Schritte für jemanden, der ein Trauma erlebt hat, anfangs kontraindiziert und potentiell retraumatisierend sein können. Man muss ein Maß an Sicherheit und Vertrauen haben, um sich rohen Gefühlen öffnen und zu ihnen „Ja” sagen zu können. Wenn es eine sehr intensive Angst gibt oder Schrecken lauert, kann es weiser sein, das „Nein” unserer schützenden Abwehrmechanismen zu respektieren und zuerst die inneren und äußeren Ressourcen von Sicherheit und Mitgefühl zu kultivieren, die die Voraussetzung für diese vier Schritte bilden.

KAPITEL 3

Leben mit Mitgefühl und Weisheit aufbauen

BARBARA FREDRICKSON

Liebe, Mitgefühl und Toleranz sind Notwendigkeiten, kein Luxus. Ohne sie kann die Menschheit nicht überleben.

TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (1999, S. 3)

Jemand schneidet Sie im Straßenverkehr.

Ihr Chef übersieht Ihre vielen Beiträge zur Leistung eines Teams, während er andere lobt.

Ihr Partner fährt Sie an und sagt Ihnen, Sie sollten sich zurückhalten und aufhören.

Diese und andere Vorfälle können Ärger oder Wut, Verzweiflung, eine zunehmende Verschlechterung des inneren Zustands und eine ganze Menge verwandter schmerzhafter Empfindungen und destruktiver Verhaltensweisen auslösen. Schließlich sind wir nur Menschen.

Doch als Menschen haben wir eine große Wahlfreiheit, wie wir auf die Fallstricke im täglichen Leben reagieren. Was wäre nötig, damit wir diese und andere aufregende Situationen ohne inneren Aufruhr oder äußere Destruktivität erleben können? Ist das möglich?

Es ist tatsächlich möglich. Was es braucht, ist eine gesunde Dosis an Mitgefühl und Weisheit, die zentralen Themen dieses Buches: Mitgefühl, um andere anzunehmen und sogar zu lieben, wie sie sind, auch wenn sie uns mit unerwartetem und schwierigem Verhalten konfrontieren; Weisheit, um zu erkennen, dass ihr Verhalten oft aus ihrem eigenen Leiden und ihrer eigenen tief verwurzelten Konditionierung durch vergangene Erfahrungen entsteht.

Man beginnt eine Psychotherapie, weil man leidet, entweder unter unerwünschten schmerzhaften Emotionen oder unter destruktiven Verhaltensmustern. Klienten wie Therapeuten formulieren oft Glück als das eigentliche Ziel und sehen Psychotherapie als einen Prozess, in dem Leiden gelindert und Bedingungen für Glück kultiviert werden. Dieses Verständnis des therapeutischen Prozesses ist zwar edel und richtig, aber verbirgt dennoch die wichtige Rolle positiver Emotionen. Mehr als ein Jahrzehnt empirischer Arbeit an der Broaden-and-build-Theorie positiver Emotionen (Fredrickson, 1998, 2001) lassen diese als wichtige Motivation für persönliches Wachstum und Resilienz erkennen, und nicht einfach als ihre Produkte. Anders gesagt, Emotionen wie Freude, Heiterkeit, Dankbarkeit, Liebe und Mitgefühl neben inneren Haltungen wie Gleichmut sind wichtige Hilfsmittel in der psychotherapeutischen Ausstattung und nicht nur das, woran man Erfolg messen kann.

In diesem Kapitel beschreibe ich, wie positive Emotionen die Sicht auf das Leben erweitern und persönliche Fähigkeiten wie Achtsamkeit und die Fähigkeit, mit Menschen in Kontakt und verbunden zu sein, aufbauen und stärken. Dann zeige ich, wie vorübergehende Zustände von Mitgefühl und Weisheit zu stabileren Zügen der Persönlichkeit werden können. Schließlich stelle ich zwei Übungen vor, die Therapeuten und ihren Klienten helfen können, positive Emotionen – Liebe, Freundlichkeit, Dankbarkeit, Freude – häufiger in ihrem Alltag zu empfinden.

Positive Emotionen als Mittel, nicht als Ziel

Positive Emotionen öffnen den Geist

Die erste Grundannahme der Broaden-and-build-Theorie besagt, dass positive Emotionen die Bewusstheit von Menschen erweitern, indem sie ihnen vorübergehend erlauben, mehr kontextuelle Informationen über ihre Umgebung aufzunehmen, als sie das in neutralen oder negativen Zuständen tun (Fredrickson, 1998, 2001). Diese momentane kognitive Wirkung positiver Emotionen wurde mit einem breiten Spektrum genau kontrollierter Experimente belegt, die in einer Vielzahl von Laboratorien durchgeführt wurden. Zum Beispiel hat man in Verhaltenstests, mit Tests, die die Millisekunden dauernde Reaktionszeit subtiler Verhaltensreaktionen messen (Rowe, Hirsh & Anderson, 2007), und mit Techniken zur Blickerfassung (Eye-Tracking) (Wadlinger & Isaacowitz, 2006) gezeigt, dass experimentell induzierte positive Emotionen den Horizont visueller Aufmerksamkeit erweitern (Fredrickson & Branigan, 2005). Mehr noch, Experimente mit bildgebenden Verfahren (zum Beispiel funktionaler Magnetresonanztomografie, fMRT) zeigen, dass positive Emotionen auf sehr frühen Stufen der Codierung der Wahrnehmung das Gesichtsfeld erweitern (Schmitz, De Rosa & Anderson, 2009; siehe auch Soto et al., 2009). Positive Emotionen erweitern demnach ganz wörtlich die Sicht von Menschen der Welt um sie herum.

Obwohl die Erweiterung von Bewusstheit, die positive Emotionen begleitet, so subtil und kurzlebig wie die Emotion selbst ist, ist sie für Zuwächse an Kreativität verantwortlich, die mit Positivität in Beziehung stehen (Rowe et al., 2007). Sie kann auch gut die folgenden dokumentierten positiven Wirkungen positiver Emotionen erklären: die positive Wirkung auf das autobiografische Gedächtnis (Talarico, Berntsen & Rubin, 2009), auf integrative Entscheidungsfindung (Estrada, Isen & Young, 1997), auf Leistung bei Tests und bei der Arbeit (Bryan & Bryan, 1991; Staw & Barsade, 1993), auf Coping und Resilienz (Fredrickson, Mancuso, Branigan & Tugade, 2000; Tugade & Fredrickson, 2004), auf zwischenmenschliches Vertrauen (Dunn & Schweitzer, 2005), soziale Verbundenheit (Johnson & Fredrickson, 2005; Waugh & Fredrickson, 2006), Teamarbeit (Sy, Cote & Saavedra, 2005) und auf die Fähigkeit, zu verhandeln (Kopelmann, Rosette & Thompson, 2006). Kurz, offene und flexible Bewusstheit ist eine Kerneigenschaft positiver emotionaler Zustände.

Positive Emotionen transformieren Leben

Die zweite Grundannahme der Broaden-and-build-Theorie besagt, dass sich mit der Zeit die momentanen Zustände erweiterter Bewusstheit, die von positiven Emotionen hervorgerufen werden, sammeln und verfestigen und dauerhafte persönliche und soziale Ressourcen bilden, die das Leben letztlich zum Besseren umformen (Fredrickson, 1998, 2001, 2011). Im Kontext der Psychotherapie bedeutet dies, dass Ressourcen gebildet und Resilienz aufgebaut werden, die zukünftiges Leiden minimieren und Wohlbefinden kultivieren helfen, wenn man Klienten spezifische Techniken zeigt, mit denen sie selbst positive Emotionen bei sich hervorrufen können – was ihnen ermöglicht, ihre tägliche Zufuhr an solchen Emotionen zu steigern. Jüngere randomisierte kontrollierte Tests haben die Wirkungen untersucht, wenn man Probanden die Meditation Liebender Güte als ein Mittel beibringt, häufiger positive Emotionen selbst zu erzeugen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Meditation Liebender Güte viele positive Emotionen zuverlässig steigert. Dauerhaftigkeit und Breite dieser Wirkungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass eine anhaltende Zunahme positiver Gefühle tatsächlich möglich ist, besonders wenn der Meditationspraxis mehr Zeit gewidmet werden kann (Cohn & Fredrickson, 2010; Fredrickson, Cohn, Coffey, Pek & Finkel, 2008).

Am wichtigsten ist jedoch, dass die Zunahme positiver Emotionen, die bei Menschen beobachtet wurde, die die Meditation Liebender Güte praktizieren, auch ihre persönlichen Ressourcen steigerte, darunter ihre Achtsamkeit, ihre Fähigkeit, die Umwelt zu bewältigen, ihre positiven Beziehungen mit anderen und, wie sie selbst berichten, auch ihre Gesundheit. Umgekehrt erklärten diese verbesserten Ressourcen einen Rückgang depressiver Symptome und mehr Zufriedenheit im Leben (Fredrickson et al., 2008). Während die Meditation Liebender Güte die täglichen positiven Emotionen steigert, hat sich auch gezeigt, dass sie den kardio-vagalen Tonus günstig beeinflusst (Kok et al., 2010), der ein Marker für körperliche Gesundheit wie für Flexibilität in Verhalten ist (Thaler & Sternberg, 2006). Diese im Entstehen begriffene Forschung über langfristige Gesundheit und psychische positive Wirkungen positiver emotionaler Zustände liefert eine überzeugende Begründung dafür, den Wert positiver Emotionen in der Psychotherapie zu betrachten und zu berücksichtigen.

Aufwärtsspiralen begegnen Abwärtsspiralen

Weil positive wie negative Emotionen die Aufmerksamkeit, das Denken, die Motivation und das Verhalten verändern, lösen sie auch Dynamiken – oder Spiralen – aus, die Menschen herunterziehen oder erheben können. Um dies zu illustrieren: Die negativen Emotionen wie Wut, Stress oder Traurigkeit verengen die Aufmerksamkeit und verstärken Bewertungsmuster, die mit der Emotion konsistent sind (z. B. Vorwürfe, Drohung oder Verlust), die dann weitere Schübe von Wut, Stress oder Traurigkeit mit der damit einhergehenden sozialen Reibung oder Isolation initiieren. Diese Zyklen perpetuieren sich und rufen die Abwärtsspiralen hervor, die Therapeuten allzu vertraut sind.

Die Broaden-and-build-Theorie ist der Auffassung, dass positive Emotionen Dynamiken einer Aufwärtsspirale hervorrufen, die denen der Abwärtsspirale entgegengesetzt sind. Die erweiterte Bewusstheit, die positive Emotionen begleitet, macht es dann möglich, von Stress auslösenden Bedingungen zurückzutreten oder zu „dezentrieren“, und sie in einem positiven Licht zu bewerten, was dann weitere Erfahrungen positiver Emotionen zur Folge haben kann. Die Wirkung dieser Aufwärtsspirale sind Resilienz und Wohlbefinden und mehr Möglichkeiten für soziale Verbundenheit. Eine Reihe prospektiver Studien haben jetzt diese Dynamik von Aufwärtsspiralen kommentiert (Burns et al., 2008; Cohn, Fredrickson, Brown, Mikels & Conway, 2009; Fredrickson & Joiner, 2002; Kok & Fredrickson, 2010), und meine Mitarbeiter und ich haben kürzlich beschrieben, wie Aufwärtsspiralen auf eine Weise Neuroplastizität antreiben könnten, die in der Psychotherapie produktiv angewendet werden kann (Garland et al., 2010).

Therapeutische Anwendungen

der Broaden-and-build-Theorie

Die Broaden-and-build-Theorie entstand, um zu erklären, wie positive Emotionen durch die Kräfte natürlicher Auslese geformt wurden. Das Entscheidende ist, dass diese flüchtigen angenehmen Zustände mit der Zeit und durch wiederholte Erfahrungen die Ressourcen unserer Vorfahren zum Überleben vermehrt haben. Obwohl die Theorie primär bei gesunden Populationen mit typischen Lebensstressoren getestet wurde, wurden in jüngerer Zeit therapeutische Interventionen auf der Grundlage dieser Theorie wissenschaftlich untersucht und bei einer Reihe psychischer Störungen angewendet, die durch emotionale Dysfunktionen und Defizite charakterisiert sind, wie Depression, Angst und Schizophrenie (ein Überblick in Garland et al., 2010). Zum Beispiel hat ein Pilottest vielversprechende Ergebnisse ergeben, bei dem die Meditation Liebender Güte verwendet wurde, um häufiger selbst hervorgerufene positive Emotionen als ein Mittel zu erschließen, negative Symptome von Schizophrenie zu behandeln, darunter Anhedonie, Antriebslosigkeit, Asozialität, Sprachverarmung und abgestumpfte Affekte (Johnson et al., 2011; siehe auch Johnson et al., 2009). In ähnlicher Weise lassen erste Belege die Schlussfolgerung zu, dass Depression und Angststörungen erfolgreich mit Adaptationen der Kognitiven Verhaltenstherapie behandelt werden können, die entweder durch innere Bilder (Rudd, Joiner & Rajab, 2001; Tarrier, 2010) oder positive Umwertung (Garland, Gaylor & Park, 2009) positive Emotionen gezielter kultivieren. Im Lichte dieser vielversprechenden frühen Ergebnisse wäre es besonders interessant, zu erforschen, ob positive Zustände von Mitgefühl und Weisheit als Wirkungsmechanismen therapeutischer Anwendungen betrachtet werden könnten.

Mitgefühl und Weisheit durch die Sicht

der Broaden-and-build-Theorie

Dass sogar kurzlebige positive Emotionen und innere Zustände dynamische Aufwärtsspiralen auslösen können, die persönliches Wachstum und Transformation fördern und damit letztlich die dauerhaften Züge und inneren Gewohnheiten eines Menschen umformen, ist ein Schlüsselprozess, der von der Broaden-and-build-Theorie beschrieben wird. Aus dieser Perspektive können Mitgefühl wie Weisheit sowohl als momentane vorübergehende Zustände als auch als dauerhafte Züge der Persönlichkeit gesehen werden. In den folgenden Abschnitten wird diese Sicht weiter ausgeführt.

 

Mitgefühl und Weisheit als Zustände

Die 10 positiven Emotionen, die ich in meiner Forschung während des zurückliegenden Jahrzehnts untersucht habe, sind Freude, Dankbarkeit, Heiterkeit, Interesse, Hoffnung, Stolz, Spaß, Inspiration, Ehrfurcht und Staunen und Liebe. Mit einer Ausnahme zähle ich diese Emotionen normalerweise in der Reihenfolge ihrer relativen Häufigkeit auf und beginne mit den positiven Emotionen, die am häufigsten erlebt werden. Die Ausnahme ist Liebe. Gefühle von Liebe, Nähe oder Vertrauen scheint die positive Emotion zu sein, die Menschen am häufigsten empfinden – wenigstens die Erwachsenen, die ich getestet habe. Dies macht Sinn, wenn man bedenkt, dass die Theoretiker der Emotionen, wie vor ihnen die Dichter, Künstler und Liedermacher, Liebe als eine vielgestaltige, schillernde Erscheinung betrachtet haben (Fredrickson, 2011; Izard, 1994). Das heißt, flüchtige Zustände der Liebe bestehen eigentlich aus den anderen neun positiven Emotionen: Freude, Dankbarkeit, Heiterkeit und so weiter.

Der Kontext dieser anderen positiven Emotionen ist das, was sie als Liebe erscheinen lässt. Liebe wird im Kontext von sicheren, oft nahen Beziehungen erlebt. In den frühen Phasen einer Beziehung zum Beispiel sind Menschen, verbunden mit der anfänglichen Anziehung und an absolut allem tief interessiert, was dieser neue Mensch sagt und tut. Sie haben zusammen Spaß und lachen, oft als Folge einer Befangenheit oder Unbeholfenheit, da sie sich zum ersten Mal begegnen. Wenn sich die Beziehung entwickelt und vielleicht Erwartungen übertrifft, bringt sie große Freude mit sich. Sie beginnen, sich ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft mitzuteilen. Wenn die Beziehung stabiler wird, kann es sein, dass sie in die gemütliche Heiterkeit zurücksinken, die sich mit der Sicherheit erwiderter Liebe einstellt. In dieser Phase empfinden Menschen in Liebesbeziehungen oft Dankbarkeit für die Freuden, die der geliebte Mensch in ihr Leben bringt und sind ebenso stolz auf die Leistungen des anderen wie auf die eigenen. Sie sind von ihren guten Eigenschaften inspiriert und empfinden vielleicht Ehrfurcht oder Staunen angesichts der Kräfte des Universums, das sie zusammengebracht hat und zusammenhält.

Jeder dieser angenehmen momentanen Zustände könnte ebenso gut als Liebe beschrieben werden. Wenn man Liebe so sieht, schärft das auch unsere Fähigkeit, Liebe als einen vergänglichen Zustand zu sehen, der kommt und geht, und nicht einfach als eine Beschreibung einer stabilen Beziehung. In ihrer grundlegendsten Form ist Liebe die positive Emotion, die aus einer vertrauensvollen Verbundenheit mit anderen Menschen entsteht. Wenn wir uns unserer wechselseitigen Verbundenheit bewusst werden und uns an ihr erfreuen, empfinden wir Liebe. Offene Akzeptanz ist hier das Entscheidende, und sie zeigt sich in den charakteristischen nonverbalen Formen, in denen sich Liebe ausdrückt – das Suchen körperlicher Nähe, das Nicken mit dem Kopf, das Einverständnis ausdrückt. Liebe drückt sich auch in dem Drang aus, freundlich zu sein, Anteilnahme und Interesse zu zeigen. Es ist keine Liebe, wenn sie an Bedingungen geknüpft ist und sagt: „Ich liebe dich …, wenn … oder solange du …“ Bedingungen dieser Art beschreiben eine Weise, wie an einer bestimmten fixierten Sichtweise der anderen Person oder der Beziehung festgehalten wird, eine Starre, die zu der Offenheit im Widerspruch steht, die zu wahrhaft offenen und im Herzen gefühlten Momenten der Liebe gehört.

Solche offenen und akzeptierenden Zustände der Liebe sind stark mit Mitgefühl verwoben. Eigentlich kann man Mitgefühl als eine wichtige Variante von Liebe sehen: Immer wenn der andere Mensch (oder das Lebewesen), mit dem wir verbunden sind, leidet, werden Liebe und Mitgefühl zu einem einzigen Gefühl (siehe Kapitel 1). Vor dem Hintergrund der Allgegenwart von Leiden ist Mitgefühl häufig angemessen. Mehr noch, wenn wir mit Menschen, die leiden, mit Freundlichkeit, klarem Blick und offener Akzeptanz verbunden sind, fühlen wir uns auf natürliche Weise angeregt, Anteil zu nehmen, zu helfen oder zu geben. Das Gefühl selbst inspiriert uns, zu tun, was wir können, um das Leiden des anderen Menschen zu erleichtern. Mitgefühl motiviert Handeln.

In dem Maß, in dem positive Emotionen wie Liebe und Mitgefühl die Bewusstheit im Moment erweitern, können sie auch die Weisheit im Moment steigern. Eine von Psychologen formulierte Definition von Weisheit lautet: „Weisheit ist die Expertise in den fundamentalen pragmatischen Aspekten des Lebens“, mit besonderer Betonung der Fähigkeit, ganzheitlich zu sehen und scheinbar widersprüchliche Perspektiven zu integrieren, um Ausgeglichenheit im Wohlbefinden zu erlangen (Baltes, Glück & Kunzmann, 2002; siehe auch Sternberg, 1998, und Kapitel 1). Erweiterte Bewusstheit – „das Ganze sehen“ können – kann daher als ein Kernaspekt von Weisheit betrachtet werden. Mit dem Erkennen, dass sich der Horizont von Bewusstheit mit der Zeit dynamisch verändert – er verengt sich mit negativen Emotionen und erweitert sich mit positiven –, können Momente von Mitgefühl und Momente von Weisheit Hand in Hand gehen.

Weisheit in dieser Form als Zustand könnte sinnvoll mit dem Begriff Gleichmut bezeichnet werden. Im Kontext von Liebe und Mitgefühl bezieht sich Gleichmut auf das Bewusstsein, dass wir und die Menschen, die wir lieben, trotz unserer Wünsche und Bemühungen immer wieder von Zeit zu Zeit leiden, und dass unser Leiden oft auf unsere tief verwurzelten inneren Denkgewohnheiten zurückgeht. Diese erweiterte Bewusstheit des Zustandes von Gleichmut ist das, was Offenheit und Akzeptanz in Momenten unterstützt, in denen man Mitgefühl empfindet. Sie erzeugt eine Bereitschaft, alles anzunehmen, was kommt, ohne Bedingungen daran zu knüpfen, dass man Anteil nimmt und fürsorglich handelt – zum Beispiel die Bedingung, dass fürsorgliches Handeln tatsächlich eine gute Wirkung auf das Leiden hat (siehe Kapitel 6).

Mitgefühl und Weisheit als Eigenschaften der Persönlichkeit

Wenn wir Klienten und uns selbst beibringen, Momente der Liebe und des Mitgefühls selbst herzustellen – und uns vornehmen, dies häufig zu tun –, entstehen dadurch nach der Broaden-and-build-Theorie begleitende Momente erweiterter Bewusstheit, ein innerer Zustand, der Weisheit und Gleichmut begünstigt. Mit der Zeit sammeln und verfestigen sich solche Momente und bilden dauerhafte Eigenschaften der Persönlichkeit, die dann das Potential besitzen, neue bleibende Ressourcen von Mitgefühl und Weisheit zu bilden und dadurch Wohlbefinden und Gesundheit zu fördern. Mitgefühl und Weisheit werden zu Eigenschaften der Persönlichkeit, wenn sie automatisch und zur Gewohnheit werden. Anders gesagt, wenn die Schwelle für die Erfahrung eines bestimmten emotionalen oder inneren Zustandes niedrig ist und er in vielfachen verschiedenen Umständen in Erscheinung tritt, kann dieser häufig auftretende Zustand als eine Eigenschaft der Persönlichkeit beschrieben werden – als ein andauernder Charakter, nicht als eine bestimmte Empfänglichkeit in einem bestimmten Moment oder unter bestimmten Bedingungen.

Die Persönlichkeit ist daher in gewissem Maß plastisch und mit der Zeit der Veränderung unterworfen, die auf den gewohnten Emotionen und inneren Zuständen eines Menschen beruht. Wenn wir unsere tägliche Zufuhr an Liebe, Mitgefühl und anderen positiven Emotionen steigern, nähren wir die Entwicklung des Charakters und unser psychisches Wachstum. Wenn wir mehr mitfühlende und weise Gemeinschaften haben möchten, können wir die Aufmerksamkeit auf „Mikromomente“ liebevoller sozialer Verbundenheit richten und darauf hinwirken, dass es häufiger zu diesen Mikromomenten kommt.