Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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Übungen zur Entwicklung positiver Emotion

Meditation Liebender Güte

Meine eigenen kürzlich durchgeführten empirischen Tests der Hypothese, dass positive Emotionen beträchtliche persönliche Ressourcen aufbauen, beziehen sich auf eine alte buddhistische Technik zum Training des Geistes, der wir sind schon begegnet sind: auf die Meditation Liebender Güte (mettā) (Germer, 2010; Salzberg, 1997). Während sich der größte Teil der westlichen wissenschaftlichen Erforschung der Meditation auf die Achtsamkeitsmeditation konzentriert hat, habe ich mich dafür entschieden, die Wirkungen der Meditation Liebender Güte zu untersuchen, weil sie unmittelbarer darauf zielt, positive Emotionen hervorzurufen, besonders in Beziehungen. Die Meditation Liebender Güte ist eine Technik, die verwendet wird, um guten Willen und Gefühle der Wärme und Fürsorge für sich selbst und für andere zu stärken und somit als dauerhafte Reaktionen zu konditionieren. Wie bei anderen Meditationstechniken auch gehört zu ihr stille Kontemplation im Sitzen, oft mit geschlossenen Augen und einem anfänglichen Fokus auf der Atmung und der Herzregion. Anfänger können dies etwa 10 Minuten lang tun. Wenn die Praxis vertrauter und leichter wird, kann man mit längeren Zeitabschnitten experimentieren, wenn möglich mit dem Ziel von 25 Minuten täglich. Randomisierte kontrollierte Tests belegen eine breite Palette von positiven Wirkungen dieser Praxis nach nur 2 bis 3 Monaten (Fredrickson et al., 2008).

Die Meditation Liebender Güte ähnelt ein wenig der angeleiteten Arbeit mit Vorstellungsbildern, obwohl die Ziele der Technik eher die Gefühle der Liebe und des Mitgefühls als diese Bilder an sich sind. Manche finden diese Meditation zuerst vielleicht „süßlich“ oder unrealistisch. Dieser Reaktion kann man entgegenwirken, wenn man die Übung mit Weisheit ausgleicht, d. h., wenn man die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Realität und die Unvermeidlichkeit von Leiden und dessen Bedingungen richtet, sondern auch auf die starken gegenseitigen Verbindungen zwischen Menschen und auf die fundamentale Ähnlichkeit aller Menschen. In diesem Kontext formulieren wir die Wünsche für Glück und Wohlbefinden, die den Kern der Meditation Liebender Güte bilden.


Meditation Liebender Güte

• Richten Sie Ihr Bewusstsein in diesem stillen Moment auf die Empfindungen Ihres Herzens und denken Sie an einen Menschen, für den Sie schon warme und zarte Gefühle und Mitgefühl empfinden. Dies kann ein Kind, ein Partner oder auch ein Haustier sein, jemand, der Sie allein schon beim Gedanken an ihn lächeln lässt. Ihr Ziel ist es, auf natürliche Weise warme und zarte Gefühle zu wecken, indem Sie visualisieren, was Sie fühlen, wenn Sie mit diesem geliebten Menschen in Kontakt sind.

• Wenn diese zarten Gefühle der Liebe und des Mitgefühls einmal verankert sind und echte Wärme und Freundlichkeit bewirken, lassen Sie das Bild dieses besonders geliebten Menschen los und halten Sie das Gefühl einfach in Ihrer Herzgegend.

• Weiten Sie dieses warme Gefühl jetzt auf sich selbst aus. Versuchen Sie, sich selbst so tief und so rein wertzuschätzen, wie Sie Ihr eigenes neugeborenes Kind wertschätzen würden. Für viele Menschen besonders im Westen ist dies eine große Hürde. Wir sind nicht daran gewöhnt, unsere Liebe auf uns selbst zu richten. Deshalb braucht es Geduld und Übung, wenn das Gefühl echt sein soll. Zunächst kann es sein, dass Sie lange Zeit damit verbringen, die Liebe auf sich selbst zu lenken, bevor sich dieses Gefühl einstellt.

• Die traditionelle Meditation Liebender Güte ist von einer Reihe von Aussagen begleitet, die Sie still für sich wiederholen. Die Worte selbst sind nicht so entscheidend wie die Gefühle und Emotionen, die sie hervorrufen. Formulieren Sie die Aussagen so um, wie sie Ihr Herz am meisten berühren. Die traditionellen Aussagen lauten etwa so: „Möge dieser bestimmte Mensch (oder ich, wir, er, sie oder sie) sich sicher fühlen. Möge er glücklich sein. Möge er sich gesund fühlen. Möge er unbeschwert leben”. Wiederholen Sie diese Sätze langsam und ruhig still für sich. Lassen Sie sie echte Wärme und Zartgefühl in Ihnen entwickeln, während Sie Ihre Aufmerksamkeit von sich selbst einem immer größer werdenden Kreis anderer Menschen zuwenden.

• Lassen Sie dann Ihre warmen und zarten Gefühle und Ihr Mitgefühl zu anderen ausstrahlen, erst zu einem Menschen, den Sie gut kennen. Dann denken Sie nach und nach an alle Ihre Freunde und an Ihre ganze Familie und dann an alle Menschen, mit denen Sie sich verbunden fühlen oder die Sie kennen, wenn auch nur entfernt, wie die Person, mit der Sie bei Ihrem letzten Anruf der Hotline gesprochen haben, um technische Unterstützung zu bekommen.

• Als Letztes richten Sie Ihre Gefühle der Liebe, Freundlichkeit und Güte auf alle Menschen und Geschöpfe der Welt. Um dies zu tun, können Sie an Ihre Stadt, dann Ihre nähere Umgebung, an das ganze Land, an den Kontinent und schließlich an den ganzen Planeten denken.

• Wenn Sie Ihre Meditation beenden, erinnern Sie sich einfach daran, dass der Sinn der Übung darin besteht, Ihr eigenes Herz und Ihre Emotionen so zu konditionieren, dass sie diese Gefühle der Freundlichkeit und Wärme leichter immer dann in sich wecken können, wenn Sie möchten.

Empirische Belege lassen den Schluss zu, dass die regelmäßige Praxis der Meditation Liebender Güte es leichter macht, in alltäglichen Interaktionen Freude zu finden (Fredrickson et al., 2008).

Eine Sammlung, die Positivität verkörpert

Die Meditation der Liebenden Güte ist nicht die einzige Weise, wie man sich jeden Tag besser mit positiven inneren Zuständen, wie Mitgefühl und Weisheit, nähren kann. In meinem Buch mit dem Titel Positivity beschreibe ich mehr als ein Dutzend evidenzbasierter Techniken, mit denen man dies erreichen kann (Fredrickson, 2011). Ich habe dieses Buch mit der Absicht für eine allgemeine Leserschaft geschrieben, dass es eine Ressource für Menschen sein könnte – auch für Klienten in Psychotherapie –, die mehr darüber erfahren möchten, wie die Positive Psychologie ihnen helfen kann, sich im Leben zu entfalten und glücklicher und resilienter zu werden. Eine weitere Technik, die ich in Positivity beschreibe, ist der Prozess, in dem man eine Sammlung von Bildern, Zitaten und kleinen Dingen anlegt, die man dazu verwenden kann, die 10 positiven Emotionen hervorzurufen. So eine „Sammlung von Positivität“, ganz gleich, ob es eine materielle oder eine digitalisierte Sammlung ist, kann einzelnen Menschen helfen, die Fähigkeit zu entwickeln, bestimmte positive Emotionen dann zu wecken, wenn man sie am meisten braucht. Wenn es einem schlecht geht oder man von negativen Emotionen überschwemmt zu werden und in eine Abwärtsspirale zu geraten droht, kann eine solche Sammlung diesen Sog unterbrechen und anregen und ermutigen, den Weg zurück zur nährenden Aufwärtsspirale der Positivität zu finden.


Sammlung von Positivem

Eine besonders wirksame Variante einer Sammlung von Positivem ist eine Sammlung zum Thema Liebe. Wenn Sie Ihre eigene Sammlung aufbauen möchten, beginnen Sie mit den folgenden Fragen:

• Wann empfinden Sie die Wärme der Liebe zwischen sich und einem anderen Menschen aufsteigen?

• Wann fühlen Sie sich jemandem nahe und sicher und haben Vertrauen?

• Wann löst eine Beziehung die eine oder andere Form positiver Gefühle in Ihnen aus zum Beispiel Freude, Dankbarkeit, Heiterkeit, Interesse, Hoffnung, Stolz, Inspiration oder Staunen?

• Wann spüren Sie, dass Sie sich zu den Menschen, die Sie lieben, hinneigen und damit ihre Einzigartigkeit bestätigen?

• Wann empfinden Sie den Impuls, einfach mit dem geliebten Menschen zusammen zu sein und seine Gegenwart zu genießen, Ihre Wertschätzung für ihn zu fühlen oder sich in seiner wunderbaren Ausstrahlung wohlzufühlen?

Gehen Sie dann auf eine Schatzsuche. Suchen Sie Fotos oder andere kleine Dinge, die für Sie die Eigenschaft besitzen, Gefühle der Liebe in Ihnen auszulösen. Beeilen Sie sich nicht dabei, wenn Sie so eine Sammlung der Liebe anlegen – genießen Sie sie. Lassen Sie die Gefühle der Liebe in sich nachklingen, die beim Anlegen dieser Sammlung entstehen. Das Ziel ist, einen persönlichen Schrein der Liebe zu schaffen, der die inneren Bewegungen ihres Herzens widerspiegelt. So wie Fachleute für Ernährung ihre Klienten auffordern, darauf zu achten, was sie bei bestimmten Nahrungsmitteln empfinden, geht es hier darum, dass Sie darauf achten, wie Sie sich bei bestimmten Aktivitäten und Denkweisen oder in bestimmten Umständen fühlen. Wenn Sie vertrauter damit werden, was Sie erhebt und belebt, gewinnen Sie Einsicht in Ihre täglichen emotionalen Erfahrungen wie auch Kontrolle über sie, was sich dann auf Ihre Interaktionen und Erfahrungen des Alltags auswirken kann.

Ich gebe den Studenten, die an meinem Kurs Positive Psychologie teilnehmen, regelmäßig zu Beginn einer Woche die Aufgabe, eine Sammlung anzulegen, die eine bestimmte positive Emotion (zum Beispiel Freude, Liebe oder Dankbarkeit) zum Thema hat, und dann in der darauffolgenden Woche die Aufgabe, wachsam auf einen Zug der Negativität nach unten zu achten und sich in dem Zusammenhang mit ihrer Sammlung zu beschäftigen und mit der Absicht über ihre Inhalte zu reflektieren, dieses positive Gefühl auf eine leichte und aufrichtige Weise wieder zu beleben.

Eine meiner früheren Studentinnen, Patty, hat mir erlaubt, ihre Erfahrungen mitzuteilen, die sie gemacht hat, als sie ihre Sammlung so eingesetzt hat. Sie hat sie in ihren Aufzeichnungen zu meinem Kurs festgehalten. In der ersten Woche schrieb sie, dass es Spaß machte und sie entspannte, mit der Sammlung zu beginnen, und dass sie weiter kleine Dinge dafür sammelte, nicht weil es eine Hausarbeit war, sondern weil es Spaß machte. In der nächsten Woche schrieb sie, dass sie frustriert und ärgerlich wurde, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre beste Freundin (die Studentin im ersten Semester an einer anderen Universität war) sie vernachlässigte und mied. Das war das Stichwort dafür, ihre Sammlung hervorzuholen. Als sie sich bewusst darin vertiefte, spürte sie, wie sich der Ärger auflöste. Es ging ihr besser und sie fühlte sich offener. Diese Offenheit ermöglichte ihr, die Situation aus der Sicht ihrer Freundin zu sehen und großzügiger mit der Situation umzugehen. Sie gestand sich ein, dass sie sich eigentlich um das Wohlbefinden ihrer Freundin Sorgen machen würde, wenn sie nicht so beschäftigt wäre und neue Menschen kennenlernen und wenn sie ihr neues Collegeleben nicht genießen würde. Anstatt also im Ärger zu bleiben und sich aus der Freundschaft zurückzuziehen – was sie mit anderen Freunden in der Vergangenheit gemacht hatte, wenn sie ehrlich war –, schrieb sie ihrer Freundin einen Brief, in dem sie ihr Mitgefühl und ihre anderen Gefühle beschrieb und ein kleines Geschenk, einen Glücksbringer, beilegte. Als ihre Freundin den Brief bekommen hatte, rief sie Patty unter Tränen an, und sie erlebten einen Moment großer Nähe, wie noch nie in ihrer Freundschaft. Als ich Patty ein gutes Jahr später wieder begegnete, erzählte sie, dass diese Freundschaft weiter lebendig war, was sie letztlich darauf zurückführte, dass sie in einem sehr passenden Moment Gebrauch von ihrer Sammlung gemacht hatte.

 

Wenn Menschen eingeladen werden zu verstehen, wie sich positive Emotionen wie Liebe und Mitgefühl auswirken – wie sie den Geist öffnen, Zukunft transformieren und eine erhebende Dynamik von Aufwärtsspiralen zur Folge haben –, werden sie wahrscheinlich sehen, dass es weise ist, diese von Herzen empfundenen flüchtigen Erfahrungen häufiger bewusst wahrzunehmen und so zu nähren. Aus der Perspektive der Broaden-and-build-Theorie betrachtet ist das eigentliche Ziel des therapeutischen Prozesses nicht einfach, dass mehr flüchtige Erfahrungen der Liebe und des Mitgefühls erschlossen werden, sondern er ist eher ein wichtiges Hilfsmittel dafür, dass Menschen dauerhaft mehr Mitgefühl und Weisheit und eine Menge anderer Ressourcen und Eigenschaften der Persönlichkeit entwickeln, die das Leben befriedigender und sinnvoller machen.

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Die Bedeutung von Mitgefühl


Leiden ist unvermeidlich, aber Leiden ist genau das, was Menschen dazu bringt, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Wie können Therapeuten so viel Leid ertragen und in Gegenwart von so viel Leiden sogar wachsen und es sich gut gehen lassen? Mitgefühl scheint zu helfen – eine positive innere Haltung, die sich eher wie Liebe als wie Elend anfühlt. Mitgefühl erlaubt Therapeuten auch, in schwierigen Zeiten oder Momenten mit ihren Klienten emotional verbunden zu bleiben, zum Beispiel wenn sie Angst haben oder sich hilflos oder ihrer Aufgabe nicht gewachsen fühlen.

Kapitel 4 beschreibt, wie die drei wichtigsten Traditionen der buddhistischen Psychologie Mitgefühl verstehen, manchmal sogar als unsere fundamentale, nicht konditionierte Natur. In Kapitel 5 wird gezeigt, wie Mitgefühl eine Form von Wissen ist, ein Auge, durch das man die Fülle eines anderen Menschen weiterhin sehen kann, auch wenn dieser Mensch in Leiden versunken ist oder wenn man unfähig ist, den Verlauf eines tragischen Lebens zu beeinflussen. In Kapitel 6 erinnert uns die Autorin daran, uns selbst in den Kreis der Menschen aufzunehmen, mit denen wir Mitgefühl haben. Sie beschreibt genau, was Selbstmitgefühl bedeutet und wie es sich auf unser Leben und auf unsere Arbeit positiv auswirken kann. Kapitel 7 führt das Thema Selbstmitgefühl als Therapieziel weiter aus und enthält zahlreiche Übungen und Vorschläge, wie man im Kontext der Psychotherapie eine mitfühlende innere Haltung entstehen und wachsen lassen kann. Schließlich sehen wir in Kapitel 8, wie die Ausbildung und Übung in Mitgefühl die Hirnfunktionen verändern kann, sei es mit einer Praxis während relativ kurzer Perioden oder auf die Dauer eines ganzen Lebens.

KAPITEL 4

Mitgefühl in der buddhistischen Psychologie

JOHN MAKRANSKY

Daher können wir alles andere ablehnen: Religion, Ideologien, alle überlieferte Weisheit. Aber der Notwendigkeit von Liebe und Mitgefühl können wir nicht entkommen.

TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (2010)

In der buddhistischen Psychologie ist Mitgefühl eine Form von Empathie. Wir spüren das Leiden anderer wie unser eigenes und wünschen ihnen ganz von selbst und natürlich, dass sie frei von Leiden sein mögen. Jemand, der Mitgefühl hat, ist, anders als jemand, der grausam oder von Groll oder Ärger erfüllt ist, viel mehr auf unsere eigentliche Situation als Menschen eingestellt. In dem Sinn ist Mitgefühl von einer Weisheit bestimmt, die unsere Grundsituation versteht und damit die inneren Ursachen unseres Leidens und unser Potential für Freiheit und Güte. Aus einer buddhistischen Perspektive bildet Mitgefühl in Verbindung mit Weisheit die Grundlage emotionaler Heilung und innerer Freiheit.

Mitgefühl wird auch als eine geistige Qualität charakterisiert, die, wenn sie kultiviert und gestärkt wird, allen positiven inneren Zuständen Kraft verleiht, wenn wir zu unserem ganzen menschlichen Potential erwachen. Nach der buddhistischen Psychologie entfalten sich die Muster unserer Erfahrung auf der Grundlage unserer Gewohnheiten von Absicht und Reaktion. „Alle Phänomene der Erfahrung haben den Geist als ihren Vorläufer, den Geist als ihren Herrscher, und sie sind vom Geist gemacht“ (Dhammapada, Kapitel 1, Verse 1, 2). So unterstützt ein innerer Zustand von Liebe und Mitgefühl unser eigenes Glück und Wohlsein und hilft, dieses Potential in anderen zu verwirklichen, während Zustände, die von Grausamkeit, Bosheit oder Neid bestimmt sind, das Gegenteil bewirken. In den Systemen buddhistischer Meditation ist Mitgefühl auch eng mit Liebe, Mitfreude und Gleichmut als Grundlage für mächtige meditative Einsicht verbunden; diese bilden zusammen die „vier unermesslichen inneren Haltungen“ oder „die vier Unermesslichen“. Alles in allem wird Mitgefühl als eine Kraft zur Reinigung des Geistes von Verwirrung, zur inneren Heilung und zum Schutz von einem selbst und von anderen gesehen.

Mitgefühl wird seit Tausenden von Jahren in den drei Haupttraditionen des Buddhismus gelehrt und praktiziert: im Theravāda, im Mahāyāna und im Vajrayāna. Insofern diese Ansätze keinen Glauben an eine höhere Macht verlangen, um ihre positiven Wirkungen zu erzielen, könnte man sagen, dass sie zur Erleichterung von Leiden eher der Psychologie und Philosophie als der Religion verwandt sind. Da die klinische Forschung und Psychotherapeuten beginnen, den Begriff des Mitgefühls systematisch zu erforschen, kann es von Nutzen sein, die Nuancen im Verständnis anzuschauen, die sich in diesen Traditionen in verschiedenen Teilen der Welt herausgebildet haben.

Mitgefühl im frühen Buddhismus

und in der Tradition des Theravāda

Weil nach der buddhistischen Psychologie zu Mitgefühl der Wunsch gehört, dass Lebewesen frei von Leiden sind, ist das buddhistische Verständnis von „Leiden“ (auf Pāli dukkha) für ihr Verständnis von Mitgefühl von Bedeutung. Die Traditionen des Theravāda in Südostasien, die die frühen Lehren des Buddha systematisiert haben, beschreiben drei Ebenen von Leiden: (1) offensichtliches Leiden, (2) das Leiden der Vergänglichkeit und (3) das Leiden selbstbezogener Konditionierung (Harvey, 1990; Buddhaghosa, 1975). Zu offensichtlichem Leiden gehören alle physischen und mentalen Formen von Elend, die wir normalerweise mit dem Wort Leiden verbinden: das Leiden an Krankheit und physischen Verletzungen, das Leiden, das mit Alter und Sterben verbunden ist, und Kummer, innere Not und Qual. Das Leiden der Vergänglichkeit geht auf den vergeblichen Versuch zurück, angenehme Dinge zu bekommen und sie zu besitzen und festzuhalten, als könnten sie eine stabile Quelle von Sicherheit und Wohlbefinden sein. Die vergänglichen Dinge, an die unser Geist um des Glückes und der Sicherheit willen hängt, werden zu etwas, was zu Leiden führt, da wir sie im Laufe des Lebens immer wieder verlieren und unvermeidlich auf den Tod zugehen.

Das Leiden selbstbezogener Konditionierung liegt den ersten zwei Formen von Leiden zugrunde. Diese Form von Leiden gehört zu dem unterbewussten Versuch des Geistes, aus dem vergänglichen Strom seiner Erfahrung den Eindruck eines substanziellen und unveränderlichen Gefühls eines getrennten Selbst zu erzeugen, das von einer stabilen Welt umgeben ist. Der permanente Versuch des Geistes, einen verdinglichten, unveränderlichen Eindruck von sich selbst und der Welt herzustellen, hat seinerseits zahlreiche von Angst geprägte Denk- und Reaktionsmuster zur Folge: Klammern an alles, was ein fixiertes, unveränderliches Selbst und seine Welt zu bestätigen scheint, Angst vor oder Hassen von allem, was es zu bedrohen scheint (siehe Kapitel 9 und 13). Das unkontrollierbare Schwanken und Pendeln durch solche Gefühle als Reaktion auf die mentalen Konstrukte von uns selbst und anderen ist das Leiden selbstbezogener Konditionierung (Makransky, 2010).

Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung sind den meisten Menschen nicht bewusst, aber der Buddha durchschaute sie während seines Erwachens (bodhi). Das Mitgefühl des Buddha, wenn er Menschen wünschte, frei von Leiden zu sein, richtete sich auf alle drei Ebenen, deren zwei letztere auch da sind, wenn offensichtliches Leiden fehlt. Aus diesem Grund galt das Mitgefühl des Buddha allen Wesen in gleicher Weise. Es ist dieses unparteiliche, unbedingte und allumfassende Mitgefühl, das der Buddha seinen Anhängern vermittelte und an sie weitergab.

Achtsamkeit

Auf dem Weg zum Erwachen, wie der Buddha ihn gelehrt hat, hat Achtsamkeit eine Schlüsselfunktion. Kultivieren von Achtsamkeit bedeutet, waches Bewusstsein der gegenwärtigen Erfahrung, ohne zu werten, lernen und üben (siehe Kapitel 2). Wie schon bemerkt entstehen die Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung aufgrund der unbewussten Gewohnheiten der Verdinglichung – weil der Geist versucht, ein Gefühl der Permanenz von einem selbst und der Welt herzustellen und festzuhalten, das der Geist auf seine vergängliche Erfahrung projiziert. Wenn die Tendenzen, an Illusionen von Permanenz festzuhalten, von wacher Bewusstheit erhellt werden, werden wir uns neu bewusst, wie viel Angst und Unsicherheit unser Klammern erzeugt hat. Wir können dann erkennen, wie diese unterbewussten Schichten von Leid in allen anderen Menschen wirksam sind. So entstehen immer stärker Sympathie und Mitgefühl für einen selbst und für andere, während wir Einsicht gewinnen, dass das Selbst vergänglich und seinem Wesen nach ein Konstrukt ist. Sympathie und Mitgefühl in Beziehung zu uns selbst prägen die sanfte, annehmende Qualität achtsamer Aufmerksamkeit und ermöglichen unserem Geist, sich weiterer Einsicht zu öffnen. Und dies hilft dann wiederum, ein zunehmend mitfühlendes und differenziertes Bewusstsein von anderen in ihrem bewussten und unterbewussten Leiden zu verwirklichen und zu stärken.

Die innersten Ursachen von Leiden, wie es von dem Buddha diagnostiziert wurde – die Illusion eines verdinglichten fixierten, unveränderlichen Selbst und die auf Täuschung beruhenden Reaktionen von Anhaften und Ablehnung, die sich um es aufbauen –, werden von einer sich vertiefenden Einsicht oder Weisheit zunehmend aufgeweicht und geschwächt. Diese Einsicht, die das Konstrukt der Getrenntheit des Geistes durchschneidet, ermöglicht uns, andere als fundamental uns gleich zu erleben und wahrzunehmen, und stärkt dadurch unsere Sympathie für sie (Fulton, 2009). Wenn jemand durch so eine Einsicht von den inneren Ursachen von Leiden ganz befreit ist, so wird gelehrt, wird Nirvāna erlangt – eine zutiefst innere Freiheit von den Leiden, die mit dem Festhalten an einem Selbst verbunden sind. Wenn sich diese Einsicht in ihrer Verwirklichung von Nirvāna zunehmend vertieft, erweitert sie sich zu der Erkenntnis, dass das darunter liegende Potential für die innere Freiheit auch das ist, was man selbst und andere, was alle Menschen gemeinsam haben. Das aus dieser befreienden Einsicht resultierende Mitgefühl wird daher von dem vielfältigen Leiden, die es in Lebewesen spürt, nicht entmutigt oder bedrückt, sondern bleibt sich vielmehr ihres Potentials für tiefe Freiheit von Leiden bewusst. So ein Mitgefühl hält nicht nur andere in ihrem dahinterliegenden Potential und stützt sie darin, sondern stellt auch Aspekte ihres Denkens und Handelns infrage, die ihr Potential verbergen (Aronson, 1986; Makransky, 2010).

 

Der Achtfache pfad

Mitgefühl wird deshalb implizit mit dem ganzen Prozess des Erwachens assoziiert, der sich dadurch entfaltet, das sich Achtsamkeit und Einsicht vertiefen, die im Achtfachen Pfad des Buddha als Rechte Achtsamkeit und Rechtes Verständnis bezeichnet werden. Mitgefühl wird also implizit mit den anderen sechs Faktoren in Beziehung gebracht, die in Gestalt des Achtfachen Pfades kultiviert werden: Rechte Gesinnung, Rechte Rede, Rechtes Handeln, Rechter Lebensunterhalt, Rechte Anstrengung und Rechte Konzentration. Rechte Gesinnung, geprägt von der Einsicht in Selbstlosigkeit, ist ein Denken, das von Habenwollen, Grausamkeit und bösem Willen weg zu Mitgefühl und Liebe gelenkt wird (Harvey, 2000). Dieses Denken ist die Kraft der Absicht, die Rechte Rede, Rechtes Handeln und Rechten Lebensunterhalt motiviert (Harvey, 2000; Rahula, 1982). Diese prägen wiederum die Art von Anstrengung, die man braucht, um diesen Pfad ganz zu gehen – der mitfühlende sanfte, Anteil nehmende Fokus auf disziplinierter Energie in Geist und Körper, die uns hilft, gesunde innere Zustände zu nähren und aufrechtzuerhalten. Rechte Konzentration ist die Kultivierung tiefer Ruhe durch fokussierte Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand der Meditation. Um diese Konzentration zu erreichen, lehrte der Buddha, neben anderen Gegenständen der Meditation, die Meditationen über Liebe bzw. Güte (mettā), Mitgefühl (karunā), Mitfreude (muditā) und Gleichmut (upekkhā) (Aronson, 1986, Anm. 6). Wenn diese inneren Zustände unparteilich und allumfassend in meditativer Konzentration kultiviert werden, werden sie zu den vier unermesslichen inneren Haltungen, von denen es heißt, dass sie dem Geist gewaltige Macht verleihen, Hindernisse zu überwinden, in Glück und Unbeschwertheit zu leben, den eigenen Fortschritt in allen Aspekten des Pfades zu unterstützen und in anderen das Potential für ähnliche innere Zustände zu erwecken (Aronson, 1986; Harvey, 2000).

Die vier unermesslichen inneren Haltungen

Vor dem Hintergrund solcher positiven Wirkungen hat der Theravāda-Buddhismus die Kultivierung der vier unermesslichen inneren Haltungen betont, die in Buddhaghosas klassischem Text Der Weg zur Reinheit (Buddhaghosa, 1975) systematisch erklärt wird. Hier ist Liebe (oder Liebende Güte) der offenherzige Wunsch, dass Lebewesen Glück und Wohlbefinden erleben. Er ist nicht zu verwechseln mit selbstbezogenem Anhaften oder mit dem Wunsch, jemanden besitzen zu wollen. Liebe unterläuft Tendenzen zu bösem Willen und Angst und wird deshalb als eine schützende Kraft für einen selbst und als ein schützender Einfluss auf andere charakterisiert.

Liebe

In der Kultivierung von Liebe durch Meditation, die Buddhaghosa beschreibt, wird der Wunsch für Glück und Wohlbefinden zuerst auf uns selbst gerichtet, da tiefe Selbstakzeptanz Bedingung dafür ist, dass man andere annehmen kann, die uns in ihrem Leiden und ihrem Wunsch, glücklich zu sein, gleich sind. Als Erstes rufen wir in uns positive Wünsche und Gefühle der Liebe und Akzeptanz für uns selbst wach, indem wir Sätze wie diese wiederholen: „Möge ich Wohlbefinden und Glück haben; möge ich frei von Feindschaft und Gefahr sein“ (siehe Kapitel 3). Wenn der Wunsch und das Gefühl der Liebe für einen selbst etabliert sind, dann ist es nur ganz natürlich, denselben Wunsch auch auf andere auszuweiten, wenn wir erkennen, dass andere auch glücklich sein möchten. Wir erweitern dann den Wunsch auf jemanden, der für uns sehr wichtig ist, wie ein besonders inspirierender Lehrer oder ein Mentor. Der Wunsch und das Gefühl der Liebe werden dann auf einen nahen Freund ausgedehnt. Wenn die Kraft der Liebe für solche lieben Wesen sich festigt, kann man sie auf Wesen richten, die uns weniger nahestehen: zuerst zu einer neutralen Person (zu jemandem, den man bisher als einen Fremden betrachtet hat, und der jetzt zum Ziel desselben Wunsches und des Gefühls der Liebe wird), dann zu jemandem, der sich uns gegenüber feindselig gezeigt hat. Zunehmend erkennen wir an, dass alle Lebewesen wie wir sind – würdige Empfänger von Liebe, egal, wie sie uns im Leben begegnen –, und weiten den Wunsch der Liebe fortschreitend auf sie aus, bis er buchstäblich alle Lebewesen im Universum einschließt. Dieser Fokus bringt unseren Geist in einen Zustand tiefer Versenkung, der mit einem Gefühl von etwas unermesslich Umfassendem, von Stabilität, Ruhe und Freude verbunden ist (Aronson, 1980; Harvey, 2000; Buddhaghosa, 1975; Salzberg, 2003). Diese Konzentration kann dann zu weiteren Ebenen meditativer Versenkung führen. Buddhaghosa war der Erste, der diese Praxis genau formuliert und systematisiert hat, die in Kapitel 3 (neben einer genauen Anleitung) als „Meditation Liebender Güte“ beschrieben wird.

Mitgefühl

Auf der Grundlage dieser Kultivierung von Liebe sind wir so weit, dass wir Mitgefühl, den praktischen Wunsch, Lebewesen mögen frei von Leiden sein, kultivieren können. Als eine geistige Kraft unterläuft Mitgefühl Tendenzen zu Grausamkeit. Man darf es nicht mit Traurigkeit über Leiden verwechseln, da das, was man Lebewesen aus Mitgefühl wünscht – innere Freiheit von Leiden –, als eine reale Möglichkeit innerhalb des Weges zum Erwachen gesehen wird. Wenn durch die Praxis der Liebe alle Wesen als liebenswert gesehen werden, und wenn man sich das Leiden, das sie durchmachen, bewusst macht, entsteht Mitgefühl ganz natürlich und von selbst. Weil man mit Liebe für sich selbst begonnen hat, geht man jetzt auch von mitfühlender Selbstakzeptanz aus. Buddhaghosa leitet uns an, uns zuerst auf jemanden zu konzentrieren, der intensives Leid erlebt, weil dieses Bild leicht und stark unseren mitfühlenden Wunsch hervorruft, dieser Mensch möge frei von seinem Leiden sein. Dann wenden wir uns innerlich mit demselben empathischen Gefühl und Wunsch von Mitgefühl einem Freund zu, dann einer neutralen Person und schließlich jemandem, der sich feindselig uns gegenüber verhalten hat. Zuletzt wird der Wunsch des Mitgefühls, wie bei der unermesslichen Liebe, auf alle Lebewesen ausgeweitet, und wird damit allumfassend und stabil und ist von Freude begleitet, während er sich zu zunehmend subtilen Ebenen meditativer Versenkung vertieft. Wir können Mitgefühl auf alle Lebewesen richten, auch auf jene, die gegenwärtig nicht sichtbar leiden, indem wir uns an ihr immer anwesendes Leiden der Vergänglichkeit und ihr Leiden aufgrund ihrer auf ein Selbst bezogenen Konditionierung erinnern (Harvey, 2000; Buddhaghosa, 1975).

Mitfreude

Liebe und Mitgefühl für Lebewesen führen von selbst dazu, dass wir uns an ihrem Glück freuen, deshalb wenden wir uns als Nächstes dieser Mitfreude zu. Die Qualität der Mitfreude, bei der man sich still am Glück anderer freut (statt sich übermäßig zu begeistern oder zu idealisieren), unterläuft Tendenzen zu Eifersucht und Abneigung, wenn es anderen vielleicht besser geht als uns. In der Praxis reflektieren wir erst über das Glück und den Erfolg eines nahen Freundes und freuen uns an seinem Glück mit Gedanken wie diesen: „Wie wunderbar! Wie schön!“ Dann wenden wir uns dem Glück eines neutralen Menschen zu und dann jemandem, der sich feindselig verhalten hat, schließlich allen Wesen überall.

Gleichmut

Gleichmut ist eine friedliche Ruhe angesichts der Höhen und Tiefen, denen alle Menschen ausgesetzt sind, ein Anerkennen, dass ihr Potential für Glück und Leiden von ihren Mustern von Absichten und Reaktionen auf Erfahrungen konditioniert sind (Harvey, 2000). Zu Gleichmut gehört auch die Kraft der Unparteilichkeit, die spürt, dass alle Wesen in ihrem Leiden und in ihrem Wunsch nach Freiheit von Not und in ihrem Potential, diese Freiheit zu verwirklichen, im Wesentlichen gleich sind. Diese Qualität unterstützt daher die unparteiliche Ausweitung von Liebe, Mitgefühl und Mitfreude auf alle Wesen. Obwohl Gleichmut aller Parteilichkeit den Boden entzieht, darf man ihn nicht mit Apathie verwechseln. Beim Lernen und Einüben von Gleichmut fokussiert man erst auf eine neutrale Person, dann auf jemanden, der uns nahesteht oder einen Freund, der uns lieb ist, dann auf eine feindliche Person und schließlich auf alle Wesen überall. Dieser unermessliche Gleichmut, sagt Buddhaghosa, wird auf der höchsten Ebene der meditativen Versenkung erreicht, und beruht auf den drei vorangegangenen Meditationen (Buddhaghosa, 1975).