Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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KAPITEL 5

Der mitfühlende Therapeut

ELISSA ELY

Menschen sind keine Probleme, die gelöst werden.

DIANA TRILLING (1982, S. 339)

Anmerkung der Herausgeber: Die meisten Therapeuten halten sich für mitfühlend, und sie sind es auch wirklich. Doch wir sind alle mit Grenzen dessen konfrontiert, was wir tun können. Die folgende Geschichte illustriert, wie schwer es ist, angesichts des namenlosen Leides in der Welt mitfühlend zu bleiben.

An zwei Abenden der Woche besuche ich ein Obdachlosenasyl. Viele der Patienten, die ich da habe, hören Stimmen, und manchmal glauben sie, dass sie für Verbrechen bestraft werden, die sie nie begangen haben. Sie leben in großer Angst vor schrecklichen Ereignissen, die nie eintreten werden, und manchmal können sie das Schreckliche nicht vergessen, was sie tatsächlich erlebt haben.

Ich verschreibe Meditationen, halte bildlich gesprochen ihre Hand, bewundere ihre Stärken und gebe ihnen zu verstehen, dass ihre Symptome abnehmen werden und sich ihr Leben verbessern wird, wenn sie einfach durchhalten – wenn sie ihre Medikamente nehmen, regelmäßig Terminvereinbarungen mit ihren Therapeuten einhalten und sich von Drogen fernhalten.

Aber ich weiß, dass dies nicht immer so ist.

Dies ist die Geschichte eines Patienten aus dem Asyl. Sie begann mit einem Zeitungsartikel, den ich über ihn schrieb. Sein Intelligenzquotient lag unter 70. Weder trank er noch nahm er Drogen, aber es fiel ihm schwer, seinen Drang nach Lotterielosen zu kontrollieren. Wenn seine Zahl gezogen wurde, lud er die vielen Freunde aus seinem Umkreis, die er plötzlich hatte, zu chinesischem Essen und manchmal ins Kino ein.

Er wartete auf Hilfen vom Staat. Jeden Morgen ging er über die Brücke in einen Park in der Nähe. Er wanderte den ganzen Tag umher, machte isometrische Übungen, beobachtete Vögel und ging dann zum Obdachlosenasyl zurück. Er genoss die Natur, aber das Asyl regte ihn auf und schüchterte ihn ein. Seine Hände waren riesig und seine Arme wie Rohre von den vielen Liegestützen, die er machte. Wände und Mülltonnen hatten darunter zu leiden.

Nachher war er voller Reue. „Ich möchte diese Hände nie wieder aus meinen Hosentaschen nehmen und nie wieder jemanden schlagen, Frau Ely“, sagte er nach jeder Entgleisung. Bereitwillig nahm er die Medikamente gegen seine Wut.

Die sozialen Einrichtungen kümmerten sich nur zögernd um ihn. Das Department of Mental Health war an jemandem ohne eine Geschichte mit Klinikaufenthalten, Suizidversuchen oder einer Psychose nicht interessiert. Wir waren der Meinung, vor dem Hintergrund seines relativ niedrigen IQ wäre ihm besser mit einer Institution für Menschen mit einer geistigen Behinderung gedient.

Wochen vergingen, nachdem der Antrag eingereicht war – und dann wurde er ohne Begründung abgelehnt. Irgendwo erzählte uns ein Angestellter, dass der Patient berechtigt wäre, in seiner Angelegenheit einen ausführlichen Brief zu schreiben, der als ein Einspruch dienen würde. Es kam uns wie ein Widerspruch vor, dass er einen sehr durchdachten Schriftsatz verfassen sollte, um die eigene Unfähigkeit zu begründen, aber man kann mit den Irrationalitäten einer staatlichen Behörde nicht argumentieren.

Er machte weiter seine Liegestütze, nahm seine Pillen gegen die Wut und war außer an kalten Wintertagen immer draußen unterwegs. Er versuchte, sich selbst zu behandeln. Aber er begann Rückschritte zu machen, wieder Mülltonnen zu traktieren und Mitbewohner im Asyl zu bedrohen. Er nahm seine großen Hände oft aus den Hosentaschen.

Eines Abends nahmen wir ihn mit in das Büro. Wir mussten ihm sagen, dass auch der Einspruch, den wir ihm formulieren geholfen hatten, abgelehnt worden war, dass er immer noch nicht für Unterkunfts- oder Behandlungsprogramme angenommen wurde und dass keine Veränderung für ihn in Aussicht war. Wir hatten ihn beim Abendessen unterbrochen. Er hatte einen Becher Eis bei sich und saß da und aß es langsam. Um die schlechten Nachrichten hinauszuschieben, fragten wir ihn, wie sein Tag gewesen war.

„Ich war im Park“, sagte er. „Da habe ich meine Liegestütze gemacht. Ich mag am Morgen den Geruch der Bäume und schaue gern den Käfern zu. Da ist ein Habichtnest, das ich entdeckt habe. Einer der Habichte hat einen roten Schwanz, das ist das Weibchen. Der mit dem weißen Schwanz ist das Männchen, er ist einen Tick größer.“

Er war voller Wissen und stolz darauf.

„Wissen Sie was? Ich habe den gleichen weißgeschwänzten Habicht genau hier zur Zeit des Abendessens gesehen“, sagte er. „Er fliegt über die Brücke hierher und sucht nach Tauben. Das ist wie Steak für ihn. Es bleiben nichts als Federn übrig, wenn er fertig ist.“

Er stand auf und lenkte unseren Blick mit seinem Eislöffel aus dem Fenster. „Sie müssen abends mal den Baum ansehen“, sagte er. „Er ist schön. Es schenkt mir das Gefühl, dass ich Glück habe.“

Er streckte seine rohrförmigen Arme aus.

„Oh, ja“, sagte er und dachte zurück. „Ich habe Glück.“

Ich schrieb sein Porträt für die Lokalzeitung. Der Artikel war ein Gedicht (nicht in der Form, aber vom Thema her), und die Reaktion machte Mut. Die Leser hatten das Gefühl, dass sie an einem Moment der Erlösung teilnahmen. Sie bekamen ein unwiderstehliches Bild: von einem friedlichen Kenner der Natur, der mit seinem Plastiklöffel auf die Habichte zeigt. Kurz gesagt, er erlebte eine Zeit einer gewissen Berühmtheit. Es war, als hätte er in der Lotterie lauter Richtige.

Das war das Ende der Geschichte, die ich schrieb.

Aber das war nicht das Ende der Geschichte, die er lebte.

Ein paar Wochen später beschuldigte ihn eine Frau in dem Asyl, dass er ihre Brüste angefasst hätte. Es gab keine Zeugen. Sie hatte schon zuvor zahllose ähnliche Beschuldigungen gegen andere Männer vorgebracht. Aber dies sind Zeiten, in denen Behauptungen dieser Art besonderes Gewicht haben, und so wurde ihm der Zutritt zu dem Asyl verboten.

Er konnte nicht begreifen, was es bedeutete, ausgeschlossen zu sein. Diese Sache machte für ihn keinen Sinn. Unser Asyl war das Zuhause, das er kannte, und während der ersten paar Tage schlief er draußen auf der Bank vor der Eingangstür und bat das Personal, ihn reinzulassen. Schließlich schaffte er es bis in die Notaufnahme des städtischen Krankenhauses und bat dort, ihn zu uns zurückzuschicken. Alles, was er wollte, war, seine Wut-Pillen nehmen, seine Liegestütze machen und mit seinem Wissen über die Vögel herumwandern.

Schließlich verschwand er. Wir hofften, dass er irgendwie ein anderes Asyl gefunden hatte, aber wir hörten nie wieder etwas von ihm. Wir mussten uns um hundert andere obdachlose Männer kümmern.

Etwa ein Jahr später bekam ich einen Anruf von einer Krankenschwester. Sie rief von einer Station für Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten in einem Pflegeheim an. Unser Patient war in einem fast katatonischen Zustand aufgenommen worden. Er hatte das Asyl als seine Heimatadresse angegeben.

Die Krankenschwester beschrieb den körperlich fitten und mit Glück gesegneten Mann, den wir gekannt hatten, als steif, sediert und feindselig. Er war auch verhaltensauffällig – der schlimmstmögliche Begriff in der Sprache der Karteien –, denn er masturbierte auf den Fluren. Dieses Verhalten war alles, was das Personal von ihm wusste. Er war von Gefangenschaft, Unfähigkeit, sich auszudrücken, und Angst überwältigt, und seine einfältige Panik hatte genau den falschen Ausdruck gesucht. Zufällig hatte die Krankenschwester den Artikel gelesen, den ich über ihn geschrieben hatte. In dem Menschen, den sie vor sich hatte, hätte sie nie diesen poetischen Mann erkannt.

Gott sei Dank rief sie während der nächsten Monate ein paar Mal an, um um Rat zu fragen. Seine Verhaltensweisen hatten sich nicht verändert, und er trug eine elektronische Fußfessel, die piepte, wenn er die Station verließ. Er durfte das Gebäude nicht verlassen und nicht ins Freie oder in die Nähe der Vögel, die seine beste Behandlung waren.

Als das Pflegeheim geschlossen werden sollte, rief sie ein letztes Mal an. Es war noch nicht über ihn entschieden worden, und sie wusste nicht, wohin er überwiesen werden sollte. „Es ist eine Schande, dass die Leute bei diesen Geschichten nicht wissen, was als Nächstes mit ihnen passiert“, sagte sie eines Tages. „Darüber sollten Sie auch schreiben.“

Nachdem das Asyl ihn ausgeschlossen hatte, war er aus unserem Blick verschwunden, tauchte dann kurz wieder auf (gerade lang genug, um gesichtet und missverstanden zu werden) und verschwand dann wieder. Doch all diese Zeit, in und außerhalb unserer Sichtweite und unseres Bewusstseins, lebte er weiter, wurde immer mehr aufgegeben und weniger verstanden. Sein Leben ging weiter, außerhalb unserer Sichtweite.

Und dann verschwand auch die Krankenschwester.

Vier Jahre, nachdem er uns zum ersten Mal von seinem Glück erzählt hatte, erreichte uns ein Brief von einer neurologischen Klinik aus einer anderen Gegend des Staates. Der Umschlag hätte weggeworfen werden sollen, der Name darauf war so alt, aber glücklicherweise hatte jemand am Empfang ihn erkannt und an uns weitergegeben. Anscheinend gab er immer noch das Asyl als seine Heimatadresse an.

Der Bericht, den er enthielt, war erschütternd. Er war so verfasst, als gäbe es in diesem Patienten keine Person mehr – es gab kein einziges Zitat und nicht einmal eine Beschreibung seines körperlichen Zustandes. Man bekam das Gefühl, dass der Neurologe mit seinem Latein am Ende war. Er schrieb, dass es ohne irgendeine Information über die Geschichte dieses Mannes – und er hatte überhaupt keine Informationen – keine Möglichkeit gab, seinen Verfall zu verstehen. Die einzige Schlussfolgerung, die gezogen werden konnte, und die allein auf Beobachtung beruhte, war, dass sich sein Problemverhalten verschlimmert hatte. Deshalb plante man, die Medikation zu erhöhen.

 

Wir riefen den Neurologen an. Unser Patient lebt jetzt in einer Wohngruppe. Er ist ein vollkommener Niemand, unverständlich und nur an seinem weiter andauernden Problemverhalten erkennbar. Niemand möchte riskieren, seine Medikation zu senken. Niemand würde im Traum daran denken, ihn ins Freie zu lassen. Der bewunderte Mann, über den ich geschrieben und der von seinem Glück erzählt hatte, diese Person, die Vögel liebte, ist unerkennbar. Diese Person hat möglicherweise aufgehört zu existieren.

Wir haben unsere Berichte an die Klinik geschickt, und zwar alle, die wir hatten, damit sie den Patienten jetzt so kennen konnten, wie wir ihn damals gekannt hatten. Wir legten auch eine Kopie des Zeitungsartikels von damals bei, in der Hoffnung, er würde sie anregen, ihn mit Zartgefühl zu behandeln, er könnte eine Art VIP-Wirkung haben, ihn zu einem Menschen machen … Wir hatten ihn wieder aus den Augen verloren – aber wieder war sein Leben weitergegangen. Wir verlieren Patienten aus den Augen, aber ihr Leben geht weiter. Auch wenn dies nicht das Ende der Geschichte ist. Es ist nur das Ende der Geschichte, die ich aufschreibe.

Manchmal ist das, was wir tun, so einfach wie Zuhören. Manchmal sollte das, was wir tun, noch einfacher sein: Andere daran erinnern, wer der unerkennbare Patient ist. Patienten, Therapeuten, Nachbarn, Familie, wir sind alle Momentaufnahmen, die sich einander in ihrer Fülle nicht kennen. Die meisten Menschen halten ein Leben aus, in dem sie nur zum Teil erkannt werden, weil das Überleben nicht davon abhängt. Aber hin und wieder hängt es davon tatsächlich ab.

KAPITEL 6

Die Wissenschaft vom Selbstmitgefühl

KRISTIN NEFF

Wenn Sie anfangen, Ihr Herz zu fühlen oder Ihr Herz berühren zu lassen, beginnen Sie zu entdecken, dass es unendlich tief ist, dass es keine Lösung bereithält, dass dieses Herz gewaltig groß, weit und grenzenlos ist. Sie beginnen zu entdecken, wie viel Wärme und Sanftheit da ist, und wie viel Raum.

PEMA CHÖDRÖN (2001A)

Um zu verstehen, was mit dem Begriff Selbstmitgefühl gemeint ist, ist es nützlich, wenn man als Erstes bedenkt, was es in einem allgemeineren Sinn bedeutet, Mitgefühl zu empfinden. Wenn wir Mitgefühl empfinden, nehmen wir das Leiden anderer wahr und lassen uns davon bewegen. Statt zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit an einem bettelnden Obdachlosen vorbeizueilen, könnte man wirklich anhalten und sich bewusst machen, wie schwer sein Leben sein muss. In dem Moment, in dem man den Mann als einen wirklichen realen und leidenden Menschen sieht, ist das Herz dabei und ist berührt. Statt ihn zu ignorieren, macht man die Erfahrung, dass man von seinem Schmerz berührt ist, und empfindet den Impuls, ihm irgendwie zu helfen. Und ein wichtiges Kennzeichen dafür, dass man wahres Mitgefühl und nicht nur Mitleid empfindet, ist, dass man sich vielleicht sagt: „Ich bin ganz in Gottes Hand. Wenn ich in andere Lebensverhältnisse hineingeboren worden wäre oder im Leben einfach Pech gehabt hätte, müsste ich vielleicht auch kämpfen, um zu überleben. Wir Menschen sind alle verletzlich.“

Mitgefühl setzt daher voraus, dass man Leiden anerkennt und klar sieht. Es bringt Gefühle der Freundlichkeit und Anteilnahme und Verständnis für Menschen mit sich, die an einem Schmerz leiden, sodass das Verlangen, Leiden zu lindern, natürlich und von selbst entsteht. Schließlich gehört zu Mitgefühl, dass man erkennt und anerkennt, was wir als Menschen gemeinsam haben, die Conditio humana, und wie fragil und unvollkommen wir sind.

Selbstmitgefühl hat genau dieselben Qualitäten – nur ist es ein Mitgefühl, das nach innen gerichtet ist. In diesem Kapitel beschreibe ich, was Selbstmitgefühl ist und was es nicht ist, was Selbstmitgefühl mit Wohlbefinden zu tun hat und wie es in der Psychotherapie zur Heilung beitragen kann.

Was ist Selbstmitgefühl?

Bei meiner Definition von Selbstmitgefühl habe ich auf die Schriften mehrerer buddhistischer Lehrer (z. B. von Bennett-Goleman, 2004; Brach, 2003; Goldstein & Kornfield, 2006; Salzberg, 2003) zurückgegriffen. Danach besteht Selbstmitgefühl aus diesen drei Elementen: aus Freundlichkeit sich selbst gegenüber, einem Bewusstsein gemeinsamen Menschseins und Achtsamkeit (Neff, 2003b).

Freundlichkeit sich selbst gegenüber

Selbstmitgefühl führt dazu, dass wir uns mit Wärme und Verständnis uns selbst gegenüber verhalten, wenn wir leiden, versagen oder uns unzulänglich fühlen, statt uns mit entwertender Selbstkritik zu geißeln. Es erkennt an, dass Unvollkommenheit und Schwierigkeiten im Leben unvermeidlich sind. Daher umsorgen und nähren wir uns, wenn wir uns unserem Schmerz stellen, statt uns Ärger oder Wut zu überlassen, wenn das Leben nicht den eigenen Idealen entspricht. Wir erkennen Probleme und Schwächen klar an, ohne uns zu verurteilen, sodass wir tun können, was nötig ist, um uns selbst zu helfen. Man kann nicht immer bekommen, was man möchte. Wir können nicht immer sein, wer wir sein wollen. Wenn diese Realität verleugnet wird oder wenn man ihr mit Widerstand begegnet, kommt es zu Leiden in Form von Stress, Frustration und entwertender Selbstkritik. Wenn man diese Tatsache jedoch mit Wohlwollen annimmt, ruft man positive Emotionen der Freundlichkeit und Anteilnahme hervor, die helfen können, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen.

Wir sind alle Menschen

Wenn man sich streng bewertet oder verurteilt, besteht ein großes Problem darin, dass man leicht das Gefühl bekommt, isoliert zu sein. Wenn man etwas an sich wahrnimmt, was einem nicht gefällt, hat man irrationalerweise das Gefühl, dass alle anderen Menschen perfekt sind und allein man selbst unzulänglich ist. Dies ist kein bewusster logischer Vorgang, sondern eine Art entstellter Selbstbezogenheit: Fokussieren auf eigene Unzulänglichkeiten hat einen Tunnelblick zur Folge, sodass man nichts anderes mehr als sich selbst in seiner scheinbaren Schwäche und Wertlosigkeit sehen kann (siehe Kapitel 3). In ähnlicher Weise kann leicht das Gefühl aufkommen, wenn Dinge im äußeren Leben schiefgehen, dass andere Menschen es irgendwie leichter haben und dass die eigene Situation nicht normal oder unfair ist. Wenn unsere Erfahrungen aus der Sicht interpretiert werden, dass wir ganz voneinander getrennt sind, haben wir Mühe, uns an ähnliche Erfahrungen unserer Mitmenschen zu erinnern (wie der sterbende 84-jährige Mann, dessen letzte Worte waren: „Warum gerade ich?“). Mit Selbstmitgefühl kann man anerkennen, dass Schwierigkeiten und persönliches Versagen und Scheitern im Leben zum Menschsein gehören, und dass dies Erfahrungen sind, die wir alle machen. So kann es uns in unserem Schmerz helfen, uns weniger trostlos und isoliert zu fühlen.

Achtsamkeit

Achtsamkeit ist ein rezeptiver innerer Zustand, in dem Gedanken und Gefühle beobachtet werden, wie sie sind, ohne sie zu unterdrücken oder zu verleugnen (siehe Kapitel 2). Man kann seinen Schmerz nicht ignorieren und zugleich Mitgefühl für sich empfinden. Es kann gut sein, dass Sie meinen, Leiden sei ja unübersehbar und eben einfach da. Aber wie viele Menschen denken daran, wenn sie in den Spiegel schauen und ihnen nicht gefällt, was sie sehen, dass das ein Moment des Leidens ist, der eine mitfühlende Antwort verdient? Ähnliches passiert, wenn wir wie so oft, wenn im Leben etwas schiefgeht, sofort dazu übergehen, das Problem lösen zu wollen, ohne die Notwendigkeit zu erkennen, uns wegen der Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, zu trösten. Im Gegensatz dazu verlangt Achtsamkeit, dass man sich nicht so sehr mit negativen Gedanken oder Gefühlen identifiziert und von ablehnenden Reaktionen erfasst und mitgerissen wird (Bishop et al., 2004). Bei dieser Art Grübeln verengt man leicht den Fokus und übertreibt oder überschätzt die Implikationen für den eigenen Wert (Nolen-Hoeksema, 1991). Der innere Raum, der entsteht, wenn man im Umgang mit schwierigen Gefühlen einem achtsamen Ansatz folgt, erlaubt jedoch größere Klarheit und emotionale Gelassenheit und macht es möglich, die Gefühle in einem größeren Zusammenhang zu sehen und sie damit zu relativieren (Baer, 2003; Shapiro, Carlson, Astin & Freedman, 2006).


Sätze des Selbstmitgefühls

Wenn Sie intensiven Stress oder emotionalen Schmerz empfinden – vielleicht weil Sie in einem Verkehrsstau stecken, mit jemandem streiten, der Ihnen nahesteht, oder sich auf irgendeine Weise unzulänglich fühlen –, ist es nützlich, Sätze zu kennen, die Sie daran erinnern, in diesem Moment mehr Mitgefühl mit sich zu haben. Sie können dann tief durchatmen, eine Hand auf Ihr Herz legen oder sich einfach umarmen (wenn sich das gut für Sie anfühlt) und die folgenden Sätze wiederholen:

In diesem Moment leide ich.

Leiden ist Teil des Lebens.

Möge ich freundlich zu mir sein.

Möge ich für mich das Mitgefühl empfinden, das ich brauche.

Diese Sätze enthalten und erfassen die Essenz der drei Bestandteile von Selbstmitgefühl. Der erste Satz hilft, sich achtsam für den Stachel emotionalen Schmerzes zu öffnen. (Man könnte auch sagen: „Dies ist jetzt wirklich schwer“ oder „Dies tut weh“.) Der zweite Satz erinnert daran, dass Leiden alle Lebewesen vereint, und kann der Tendenz entgegenwirken, sich beschämt und isoliert zu fühlen, wenn etwas im Leben schiefläuft. Der dritte Satz beginnt den Prozess, mit dem man mit Freundlichkeit statt mit entwertender Selbstkritik antwortet. Mit dem letzten Satz bekräftigt man die Einsicht, dass man in schwierigen Momenten Selbstmitgefühl sowohl braucht als auch verdient.

Experimentieren Sie mit diesen Sätzen. Andere Sätze, die sich in einer bestimmten Situation authentisch oder passend anfühlen können, sind z. B. diese: „Möge ich mich annehmen, wie ich bin“, „Möge ich mir verzeihen“ oder „Möge ich lernen anzunehmen, was ich nicht ändern kann“. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, erinnern diese Sätze an die Meditation Liebender Güte, die in Kapitel 3 vorgestellt wurde.

Was Selbstmitgefühl nicht ist

Selbstmitleid

Oft vermeiden Menschen, sich selbst gegenüber eine mitfühlende Haltung einzunehmen, weil sie Selbstmitgefühl mit Selbstmitleid verwechseln. In der westlichen Kultur gibt es eine ausgeprägte Tradition und Haltung, „die Zähne zusammenzubeißen“ und einfach weiterzumachen, ohne zu klagen. Mitgefühl mit sich selbst ist aber etwas ganz anderes als Selbstmitleid. Wenn jemand Selbstmitleid empfindet, versinkt er ganz in seinen eigenen Problemen und vergisst, dass andere Menschen ähnliche Probleme haben. In Selbstmitleid ignorieren Menschen ihre wechselseitige Verbundenheit mit anderen und handeln und empfinden so, als wären sie die Einzigen auf der Welt, die leiden. Selbstmitleid betont egozentrische Gefühle der Getrenntheit und übertreibt das Ausmaß persönlichen Leidens. Selbstmitgefühl aber erlaubt uns, die verwandten Erfahrungen, die wir selbst und die andere machen, zu sehen, ohne sie zu entstellen oder die Erfahrungen anderer zu verleugnen. Wenn wir anerkennen, wie schwer wir es im Moment haben, ist der Rest der Menschheit automatisch in unsere besorgte Aufmerksamkeit einbezogen. Mehr noch, wenn wir daran denken und berücksichtigen, was andere durchmachen, können wir unsere eigene Situation oft besser im Zusammenhang sehen und relativieren.

Selbstverwöhnung

Ein noch größeres Hindernis für Selbstmitgefühl ist der Glaube, dass man sich verwöhnt, wenn man Mitgefühl mit sich selbst empfindet. Viele meinen, strenge Selbstkritik sei notwendig, um sich zu motivieren, und wenn sie zu viel Mitgefühl mit sich hätten, würden sie nichts anderes tun als herumsitzen und den ganzen Tag fernsehen und Eis essen. Aber ist das wirklich so? Eine gute Analogie kann man darin sehen, wie Eltern ihre Kinder motivieren. Lässt eine Mutter, der an ihrem Sohn liegt und die möchte, dass es ihm gut geht, ihn alles tun, was er möchte – wie herumsitzen und den ganzen Tag fernsehen und Eis essen? Nein. Sie verwöhnt ihn nicht, sondern sorgt dafür, dass er Dinge tut, die gut für ihn sind, zum Beispiel dass er gut isst, zur Schule geht, seine Hausaufgaben macht, regelmäßig die Zähne putzt und früh zu Bett geht – auch wenn er das nicht möchte –, weil das notwendig ist, damit er wächst und gesund ist. Ihr Kind wird auch motivierter sein, im Leben seine Ziele zu erreichen, wenn es auf die Ermutigung und Unterstützung durch seine Mutter zählen kann, auch wenn es einmal versagt.

Was für ein Gefühl wird ein Sohn aber haben, wenn seine Mutter ihn rücksichtslos kritisiert, wenn er einmal bei etwas versagt, und wenn sie ihm sagt, dass er nichts taugt und dass er ein Versager ist, der es nie zu etwas bringen wird? Inspiriert und angeregt, motiviert, bereit, es mit der Welt aufzunehmen? Natürlich nicht. Ständige Kritik hat zur Folge, dass man sich wertlos fühlt, und man wird bedrückt oder deprimiert – und eben nicht motiviert, mit Schwung auf neue Herausforderungen zuzugehen. Und gehen nicht gerade die meisten Menschen genauso mit sich um? Irgendwie gibt es die Vorstellung, dass strenge Selbstkritik wirksamer motiviert, als wenn man sich mit aufbauender Unterstützung nährt und Mut macht.

 

Man könnte sagen, dass die Motivation für Selbstmitgefühl aus Liebe und die für Selbstkritik aus Angst entsteht. In dem Maß, in dem Selbstkritik tatsächlich als motivierende Kraft wirkt, liegt das daran, dass man von dem Wunsch getrieben ist, der Selbstverurteilung zu entgehen, wenn man versagt. Aber wenn man erwartet, dass ein Schwall harscher Selbstkritik die Folge sein wird, wenn man versagt, kann die Angst manchmal zu groß sein, um auch nur einen Versuch zu machen. Dies ist der Grund, weshalb entwertende Selbstkritik häufig mit schwacher Leistung und selbstbehindernden Strategien verbunden ist, wie zum Beispiel Vermeiden durch Aufschieben (Powers, Koestner & Zuroff, 2007).

Strenge Selbstkritik wird auch häufig als Mittel eingesetzt, um sich mit Selbstbeschämung soweit zu bringen, dass man handelt, wenn man mit persönlichen Schwächen konfrontiert ist. Dieser Ansatz geht jedoch fehl, wenn in dem unbewussten Versuch, Selbstzensur zu vermeiden, Schwächen nicht anerkannt werden und unbenannt bleiben (Horney, 2007). Wie kann man zum Beispiel jemals eine harmonischere Beziehung erreichen, wenn man ein Problem mit Wut hat, aber ständig dem Partner die Schuld gibt, weil man sich der Wahrheit über sich selbst nicht stellen kann? Mit Selbstmitgefühl aber strebt man aus einem ganz anderen Grund danach, etwas zu leisten oder zu erreichen – weil einem nämlich daran liegt. Wenn wir wirklich freundlich zu uns sein möchten, tun wir Dinge, die uns helfen, glücklich zu sein. Wir nehmen uns dann zum Beispiel schwierige neue Projekte vor oder lernen Neues, wie eine neue Sprache, ein Musikinstrument oder eine neue Sportart. Und weil Mitgefühl mit sich selbst die Sicherheit vermittelt, die man braucht, um Schwächen anzuerkennen, ist man eher in der Lage, sich ihnen zu stellen und zum Besseren zu verändern.

Selbstwertgefühl

Es ist auch wichtig, Selbstmitgefühl von Selbstwertgefühl zu unterscheiden. Selbstwertgefühl bezieht sich darauf, wie positiv man sich selbst einschätzt, also wie sehr man sich mag oder wertschätzt, und beruht häufig auf Vergleichen mit anderen (Coopersmith, 1967; Harter, 1999). In der amerikanischen Kultur bedeutet ein hohes Selbstwertgefühl, dass man aus einer Menge herausragt – dass man etwas Besonderes und überdurchschnittlich ist (Heine, Lehman, Markus & Kitayama, 1999). Im Gegensatz dazu beruht Selbstmitgefühl nicht auf einer positiven Beurteilung oder Wertung – es ist eine Weise, wie man sich sich selbst gegenüber verhält. Man empfindet Mitgefühl mit sich, weil man Mensch ist, nicht weil man etwas Besonderes oder weil man irgendwie überdurchschnittlich ist. Selbstmitgefühl betont die wechselseitige Verbundenheit mit anderen und nicht, dass man von ihnen getrennt ist, weil man sich von ihnen unterscheidet. Das heißt, dass man sich mit Selbstmitgefühl nicht für besser als andere halten muss, damit man sich selbst gegenüber ein gutes Gefühl hat. Es bietet auch mehr emotionale Stabilität als Selbstwertgefühl, weil es immer für einen da sein kann – wenn man ganz oben auf und im Glück und wenn man ganz unten ist.

Empirische Daten

Was sagt nun die Forschung dazu? Bisher war die Mehrzahl der Studien über Selbstmitgefühl korrelational angelegt und wurde auf der Grundlage von Selbstberichten durchgeführt; dabei wurde die Self-Compassion Scale (Neff, 2003a) verwendet – ein Fragebogen mit 26 Punkten. (Man kann diesen Fragebogen aus dem Internet bei www.Self-Compassion.org herunterladen.) In jüngerer Zeit ist die Forschung dazu übergegangen, Selbstmitgefühl in experimentellen und Interventionsstudien zu untersuchen.

Selbstmitgefühl und emotionales Wohlbefinden

Ein Forschungsergebnis, dem man in der Literatur durchgängig begegnet, besagt, dass größeres Selbstmitgefühl mit weniger Angst und Depression verbunden ist (eine Übersicht bei Neff, 2009). Natürlich ist Selbstmitgefühl vor allem dadurch gekennzeichnet, dass streng wertende Selbstkritik fehlt, und man weiß, dass Selbstkritik dieser Art ein wichtiger Indikator von Angst und Depression ist (Blatt, 1995). Selbstmitgefühl bietet jedoch auch Schutz vor Angst und Depression, wenn Selbstkritik und negativer Affekt in gewissem Maß vorhanden sind. So geht es bei Selbstmitgefühl nicht nur darum, die schöne und helle Seite der Dinge zu sehen oder negative Gefühle zu vermeiden. Menschen mit Selbstmitgefühl erkennen und erkennen an, wenn sie leiden, aber sie bringen sich in diesen Momenten Freundlichkeit entgegen und sehen ihre Verbundenheit mit allen Menschen.

Um diese Idee zu stützen, haben meine Kollegen und ich eine Studie durchgeführt, zu der eine Aufgabe in einem Scheininterview gehört, bei der die Teilnehmer aufgefordert wurden, diese nicht gerade leichte Frage zu beantworten: „Bitte beschreiben Sie Ihre größten Schwächen“ (Neff, Kirkpatrick & Rude, 2007). Nicht nur hatten Menschen mit Selbstmitgefühl weniger Angst, nachdem sie diese Aufgabe absolviert hatten, sie tendierten auch dazu, eine Sprache zu verwenden, bei der mehr Verbundenheit und weniger Gefühle der Isolation mitschwangen, wenn sie über ihre Schwächen schrieben. In ähnlicher Weise untersuchten Leary und seine Kollegen (Leary, Tate, Adams, Allen & Hancock, 2007), wie Menschen mit Selbstmitgefühl mit negativen Lebensereignissen umgehen. Dazu forderten sie die Teilnehmer auf, über Probleme zu berichten, die sie während der zurückliegenden 20 Tage erlebt hatten. Menschen mit einem höheren Niveau an Selbstmitgefühl konnten ihre Probleme besser im Zusammenhang sehen und relativieren, und sie fühlten sich durch sie weniger leicht isoliert. Sie empfanden auch weniger Angst und Befangenheit, wenn sie über ihre Schwierigkeiten reflektierten.

Selbstmitgefühl ist mit mehr Weisheit und mehr emotionaler Intelligenz verbunden (Neff, 2003a; Neff, Rude & Kirkpatrick, 2007), was darauf schließen lässt, das Mitgefühl mit sich selbst eine weise Form ist, mit schwierigen Emotionen umzugehen. Zum Beispiel neigen Menschen mit Selbstmitgefühl weniger zu Grübeleien und dazu, Gedanken zu unterdrücken, als andere, die wenig Mitgefühl mit sich haben (Neff, 2003a; Neff, Kirkpatrick & Rude, 2007). Sie berichten auch von einer größeren Geschicklichkeit im Umgang mit Gefühlen und auch von mehr Klarheit in Bezug auf ihre Gefühle, und es gelingt ihnen besser, negative emotionale Zustände auszugleichen (Neely, Schallert, Mohammed, Roberts & Chen, 2009; Neff, 2003a; Neff, Hseih & Dejitthirat, 2005).

Selbstmitgefühl scheint auch positive Seinszustände zu verstärken. Zum Beispiel ist es von Gefühlen sozialer Verbundenheit und Befriedigung im Leben begleitet – wichtigen Elementen eines sinnvollen Lebens (Neff, 2003a; Neff, Pisitsungkagarn & Hseih, 2008). Es geht auch mit Gefühlen der Autonomie, Kompetenz und Bezogenheit einher (Neff, 2003a), was darauf schließen lässt, dass es die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse begünstigt, die nach Deci und Ryan (1995) für Wohlbefinden grundlegend sind. Menschen, denen es leichtfällt, Mitgefühl mit sich selbst zu empfinden, sind tendenziell glücklicher und haben mehr Optimismus, Neugier und positive Gefühle als andere, denen es an diesem Mitgefühl fehlt (Neff, Rude & Kirkpatrick, 2007). Wenn man den eigenen Schmerz in der warmen Umarmung von Selbstmitgefühl halten kann, werden positive Gefühle eingeladen oder begünstigt, die negative ausgleichen helfen.

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