Elvis - Mein bester Freund

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Die Humes High war ein großer Backsteinbau an der North Manassas Street im Norden von Memphis – das größte Gebäude in diesem Stadtteil. Es war die Highschool für die Kinder und Jugendlichen, die in unserem Arbeiterviertel lebten. Es gab dort eine Mittel- und eine Oberstufe. Im Herbst 1948 kam ich in die achte Klasse. Es war mein zweites Jahr an der Humes, und ich freute mich schon richtig darauf. Ich war gerne in dem großen Gebäude, wo ich meinen eigenen Spind hatte und Teil einer großen Gruppe Jugendlicher war – einer Gruppe, zu der auch ein paar ziemlich hübsche Mädchen gehörten. Der Unterrichtsbeginn nach den Ferien hatte in jenem Herbst nur einen einzigen Haken, und das war ein bestimmter Kurs in meinem neuen Stundenplan: Der Musikunterricht von Fräulein Marmann.

An der Humes gab es viele strenge Lehrer und Lehrerinnen, aber Fräulein Marmann war eine der strengsten. Die Schule war zwar voller Problemkinder, die während des Unterrichts allerlei Unfug machten, doch bei Fräulein Marmann saßen die Unruhestifter artig auf ihren Plätzen und achteten darauf, dass man sie nicht beim Kaugummikauen erwischte. Selbst nach den Maßstäben des Jahres 1948 war Fräulein Marmann eine Lehrerin der »alten Schule«. Es hieß, sie schlüge unaufmerksame Schüler am liebsten mit einem Lineal, das sie eigens zu diesem Zweck in ihrer Schreibtischschublade aufbewahre.

Ich mochte Musik ganz gern, aber ich war nicht sonderlich scharf darauf, verhauen zu werden. Also begann ich schon lange vor Beginn des neuen Schulhalbjahres nach einem Ausweg zu suchen. An der Humes gab es die Verfügung, dass man als Mitglied der Schulkapelle nicht am Musikunterricht teilzunehmen brauchte, also meldete ich mich zu einem Eignungstest an und sagte, dass ich am liebsten Schlagzeug spielen würde. Ich stellte fest, dass auch viele andere Jugendliche versuchten, sich über eine Mitgliedschaft in der Kapelle um Fräulein Marmanns Musikunterricht zu drücken. So gesehen förderte sie tatsächlich die musikalische Entwicklung der Schüler. Die Prüfung bestand aus einem ziemlich schweren schriftlichen Teil und einem praktischen Test. Offenbar schnitt ich bei keinem der beiden sonderlich gut ab, denn man befand relativ schnell, mein musikalisches Talent reiche für einen Posten in der Marschkapelle nicht aus.

Hätte ich andererseits nur ein klein wenig Schlagzeug spielen können, hätte ich Elvis Presley vielleicht nie kennengelernt.

Die Schule begann, und Fräulein Marmann wurde ihrem Ruf voll gerecht. Sie schwang tatsächlich ein Lineal, aber es zeigte sich auch, dass sie und ich gut miteinander zurechtkamen. Offenbar fanden wir beide, dass ein Großteil der populären Musik jener Zeit langweilig, einfallslos und ohne künstlerischen Anspruch war. Eines Nachmittags beklagte sie, dass sich die musikalischen Einflüsse in unserem Alltag auf ein paar wenige Hits beschränkten. Ich hob meine Hand und warf ein, dass »Dance, Ballerina, Dance« von Vaughn Monroe die ganze Zeit im Radio laufe und mich der Song wahnsinnig mache. Statt nach ihrem Lineal zu greifen, lächelte Fräulein Marmann sogar ein bisschen und sagte: »Das ist ein sehr gutes Beispiel, George.«

Unser mangelndes Interesse für die Songs aus der Hitparade war aber wahrscheinlich das Einzige, was Fräulein Marmann und mich verband, wenn es um Musik ging. Sie fand, wir sollten alle lieber Bach, Brahms und Beethoven hören. Ich wusste noch nicht recht, was für Musik ich eigentlich im Radio hören wollte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht von einem Orchester gespielt werden sollte.

Im November kam ein neuer Junge in Fräulein Marmanns Musikunterricht, dessen Familie gerade von Tupelo, Mississippi, nach Memphis gezogen war. Ich bin sicher, dass die Lehrerin seinen Namen nannte und ihn uns anderen vorstellte, aber er fiel nicht sonderlich auf, und so nahm ich kaum Notiz von ihm. Bis zu einem Freitag ein paar Wochen später, als Fräulein Marmann verkündete, dass bald Weihnachten vor der Tür stehe und sie statt regulärem Unterricht in der kommenden Woche ein »besonderes Bonbon« für uns parat habe: Wir sollten gemeinsam Weihnachtslieder singen. Das klang in meinen Ohren nicht gerade »besonders«, der neue Junge aber hob sofort seine Hand.

»Fräulein Marmann?«, rief er.

»Ja, Elvis?«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich meine Gitarre mitbringe und etwas singe?«

Es gab ein wenig Gekicher und Gelächter. Damals, 1948, war es ganz und gar nicht »cool«, wenn ein 13-jähriger Junge ein »Country«-Instrument wie die Gitarre spielte. Cool wäre es gewesen, seinen Football oder seine Boxhandschuhe mit in die Schule zu nehmen. Dieser Junge jedoch wollte seine Gitarre mitbringen und singen. Er saß auf der linken Seite des Klassenzimmers und ich ganz rechts, aber auf einmal starrte ich über die Reihen zu diesem neuen Schüler hinüber. Sein Name war Elvis Presley.

Fräulein Marmann verbat sich das Gekicher im Klassenzimmer, wenngleich auch sie dieses Ansinnen ein bisschen zu erstaunen schien. »Ja, Elvis – das wäre schön«, sagte sie. »Bring ruhig deine Gitarre mit in den Unterricht.«

Am Montag darauf nahmen wir im Musikunterricht alle unsere Plätze ein, und da kam auch schon Elvis Presley mit seiner Gitarre. Als ihn Fräulein Marmann aufrief, nahm er die Gitarre, ging nach vorn und sang zwei Stücke für uns, die beide keine Weihnachtslieder waren. Das erste war »Old Shep«, ein herzergreifendes Lied über einen Jungen und seinen Hund, das zweite »Cold Icy Fingers«, eine Art lustiges Gespensterlied. Als der letzte Akkord verklang, herrschte einen Moment lang Grabesstille, dann brach die ganze Klasse in Applaus aus.

Unsere Klassenkameraden hatten vermutlich etwas furchtbar Schlechtes erwartet – etwas, über das sie lachen konnten. Dieser Junge konnte jedoch tatsächlich singen und spielen. Er hatte mich, ehrlich gesagt, vom Hocker gerissen. Zunächst war es natürlich beeindruckend, dass er über eine gewisse Begabung verfügte. Aber zu sehen, wie er nach vorn ging und vor der gesamten Klase und einer der strengsten Lehrerinnen der gesamten Schule so kraftvoll und leicht sang, war noch einmal etwas ganz anderes. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich ging gern ins Kino und träumte ab und zu von einem Leben im Showgeschäft, wusste aber nicht, wie man das anstellen sollte. Hier in der Humes High jedoch war ein Junge, der sich nicht scheute, ins Rampenlicht zu treten. Das verblüffte und beeindruckte mich.

Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich: »Mensch, der Typ ist cool.« Ich sollte es noch oft denken.

Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, dass Elvis Presley und ich von jenem Augenblick an unzertrennliche Kumpels waren, aber das war nicht ganz der Fall. Später stellte ich mich ihm vor, und wir unterhielten uns dann und wann. Wir waren zwei Jungs, die sich freuten, wenn sie einander auf dem Korridor begegneten. Ich erinnere mich, dass er einmal sagte, er habe sich ebenfalls für die Schulkapelle beworben, sei aber abgelehnt worden (ich weiß zwar immer noch nicht, warum ein Typ mit seinem Talent nicht aufgenommen wurde, aber ich bin dankbar dafür).

Elvis und seine Familie lebten damals noch in einer Pension in der Poplar Street, zogen aber kurz darauf in das von der Regierung geförderte Siedlungsprojekt in Lauderdale Courts um. Ich lebte mit meiner Mutter und meiner Schwester direkt gegenüber der Humes, und wenn wir Jugendlichen um Viertel nach drei aus der Schule kamen, gingen Elvis und ich getrennte Wege. Rückblickend weiß ich, dass er und seine Familie in Tupelo bettelarm gewesen waren und alles daran setzten, in ihrer neuen Heimatstadt ein besseres Leben zu beginnen.

Meine Familie kam von etwas weiter weg, musste aber für ihr Auskommen nicht weniger hart arbeiten. Meine Mutter und mein Vater waren orthodoxe Juden. Sie stammte aus Russland, er aus Polen. Beide hatten ihrer Heimat in den zwanziger Jahren den Rücken gekehrt, als in Osteuropa der Antisemitismus aufflammte. Meine Mutter hatte zwar Verwandtschaft in Chicago, ihre Überfahrt wurde jedoch von einem jüdischen Rechtsanwalt aus Memphis bezahlt, durch welchen sie auch meinen Vater kennenlernte. Sie ließen sich in einem kleinen Haus in der Leath Street im Norden von Memphis nieder, wo sie erst meine Schwester Dorothy und dann mich bekamen. Meine Eltern waren geflohen, noch bevor Hitler an die Macht kam, und wollten sich nun in Amerika ein neues, besseres Leben aufzubauen. Die Dinge nahmen jedoch eine unglückliche Wendung, weil mein Vater schwer krank wurde. Ich kann mich an ihn als Teil meiner Kindheit eigentlich kaum noch erinnern und weiß offen gestanden nicht einmal ganz genau, woran er litt. Ich habe nur ein paar undeutliche Erinnerungen daran, wie wir ihn in einer Spezialklinik in Hot Springs im Bundesstaat Arkansas besuchten, wo er die letzten Jahre seines Lebens ans Bett gefesselt war.

Wir waren niemals wohlhabend, kamen aber zurecht, konnten saubere Kleider tragen und hatten immer etwas zum Abendessen. Mein Vater hatte vor seiner Erkrankung ein Geschäft für landwirtschaftliche Erzeugnisse eröffnet. Er kaufte Obst und Gemüse von den Bauern und verkaufte sie dann an Gemüseläden weiter. Von dem Gewinn erwarb er zwei kleine Häuser im Norden von Memphis, eines für uns selbst und eines zur Vermietung. Nach seinem Tod lebten wir zum Teil von den Mieteinnahmen. Daneben arbeitete meine Mutter als Schneiderin und änderte in einem der feineren Konfektionsgeschäfte in der Innenstadt von Memphis Anzüge. Sobald ich alt genug war, ging auch ich einem Broterwerb nach: Ich trug Zeitungen aus und brachte zusätzlich etwas Geld nach Hause, indem ich bei Paraden Ballons und anderes verkaufte.

Im Norden von Memphis wohnten nicht sehr viele Juden. Ich weiß außerdem, dass es in der Südstadt Bezirke gab, wo sich meine Mutter und ich nicht gerade willkommen gefühlt hätten, insbesondere vor dem Hintergrund der Spannungen während des Zweiten Weltkriegs. Meine Familie wurde jedoch so problemlos akzeptiert und fügte sich so perfekt ein, dass das einzige Mal, als ich mit Vorurteilen konfrontiert wurde, gar nicht wusste, was gemeint war. Ich ging gerade in die siebte Klasse, mein erstes Jahr an der Humes, als eines Nachmittags ein älterer Junge zu mir herkam und mich ein »Judenbaby« nannte. Vielleicht hatte er erwartet, dass ich in Tränen ausbrechen oder nach ihm schlagen würde, aber ich stand einfach nur da und starrte ihn an, weil ich tatsächlich nicht wusste, ob »Judenbaby« nun etwas Gutes oder etwas Schlechtes sein sollte. Also fragte ich den Jungen: »Was ist denn ein Judenbaby?« Die Frage brachte ihn völlig aus der Fassung, und wie sich herausstellte, hatte er keine Antwort parat. Er zuckte nur mit den Schultern und ging davon. Ich hörte solche Worte nie wieder.

 

Als ich an die Humes kam, verlief mein Tag fast immer nach demselben Muster: Nach der Schule legte ich zuerst eine kleine Pause in einem Imbisslokal ein, wo ich ein kaltes Getränk oder etwas Süßes zu mir nahm, dann eilte ich nach Hause, um etwas Zeit mit dem einzigen Luxusgegenstand zu verbringen, den wir besaßen: einem großen, wuchtigen Standradio. Als kleines Kind verpasste ich nur selten eine Folge von Die grüne Hornisse, Lone Ranger oder Superman. Später hörte ich gern die Sendung von Diskjockey Bill Gordon, die nachmittags auf WHBQ lief, dem größten Sender der Stadt. Gordon spielte die aktuellen Hits – jenes Zeug also, mit dem Fräulein Marmann nichts anzufangen wusste. Doch er war ein lustiger Dampfplauderer und außerdem der erste Moderator, den ich je hörte, der etwas über die Platten erzählte und Witze über die Musik riss, die er spielte.

Noch aufregender war es, wenn ich ein wenig an dem Sendersuchknopf des Radios drehte und von 560 (WHBQ) auf 1070 (WDIA) ging. Im Jahre 1949 war WDIA die erste Radiostation im Süden, die schwarze Diskjockeys einstellte. Den Anfang machte Nat D. Williams. Williams und seine späteren Kollegen Rufus Thomas oder der noch sehr junge B.B. King spielten für die wachsende schwarze Hörerschaft der Stadt eine Musik, die ganz anders klang. Auf WDIA hörte ich zum ersten Mal Musik, die mit dem gängigen Hitparadengedudel rein gar nichts gemein hatte: Songs von Big Joe Turner, den Clovers, Fats Domino, Ruth Brown und Johnny Ace. Diese Musik klang wild und ein bisschen gefährlich, und ich konnte gar nicht genug davon bekommen – wenn ich auch nicht immer begriff, wovon da eigentlich gesungen wurde. Etlichen meiner Klassenkameraden ging es genauso, und wir machten uns eine Art Sport daraus: Wenn ein neuer Song auf WDIA gespielt wurde, versuchten wir, den Text schlecht und recht mitzuschreiben. Am nächsten Tag brachten wir ihn dann mit in die Schule und versuchten zu ergründen, worum es in dem jeweiligen Stück genau ging.

Ich weiß, dass es Familien gab, in denen die Jugendlichen verprügelt wurden oder Schlimmeres, wenn man sie beim Hören von »Rassenmusik« erwischte. Meine Mutter hingegen sah keine Notwendigkeit, sich über meinen Musikgeschmack aufzuregen. Sie hatte in Russland wirklich schlimme Dinge erlebt und war zufrieden mit dem, was sie in den Vereinigten Staaten hatte. Solange ich nicht in Schlägereien verwickelt war, nicht von der Polizei aufgegriffen wurde und ordentliche Zensuren nach Hause brachte, war es ihr im Großen und Ganzen egal, auf welchen Sender ich das Radio einstellte.

Während meiner Zeit an der Humes High besuchten Elvis und ich häufig denselben Unterricht, darunter einen Schreibmaschinenkurs, den wir beide nur mit Ach und Krach bestanden, soweit ich mich erinnere. Manchmal begegnete ich ihm auch in der Stadt. Als der Mid-South-Jahrmarkt 1950 auf den Memphis Fairgrounds gastierte, planten einige Freunde und ich, uns die 50 Cent Eintritt zu sparen, indem wir an einer bestimmten Stelle hinter ein paar Zirkuszelten über einen Maschendrahtzaun kletterten. Eines Abends hatte ich den Zaun schon halb überwunden, als ich plötzlich spürte, dass jemand an ihm rüttelte. Ich sah nach links und erblickte Elvis, der sich ebenfalls auf halber Höhe befand. Auch er sparte sich gern die 50 Cent.

Ich glaube, jeder Highschool-Schüler sucht nach einer Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit nach außen zu kehren und sich von der Masse abzuheben. Um Aufmerksamkeit zu erregen, tat man sich damals zumeist im Sport hervor, wurde Cheerleader oder engagierte sich in der Schulpolitik. Ich wählte die politische Schiene, wurde Herausgeber der Schülerzeitung und des Jahrbuchs. In meinem Abschlussjahr war ich Jahrgangssprecher. Ich genoss es, dass ich in der Lage war, mit allen möglichen Klassenkameraden gut auszukommen – den Sportlern, den Denkern und denen, die ein bisschen anders waren. In der zehnten und elften Klasse brachte Elvis seine Gitarre immer öfter mit in den Unterricht, um bei kleineren Veranstaltungen wie Klassenfesten zu spielen. Im Abschlussjahr war es dann ganz klar, dass Elvis etwas Besonderes war.

Das Auffälligste an ihm war, dass er sich anders kleidete. Die meisten von uns trugen Jeans und schlichte Hemden. Elvis hingegen sah man nie in Jeans (ich erfuhr später, dass er sie hasste, weil sie ihn an die Arbeitskleidung erinnerten, die seine Familie getragen hatte, als sie bettelarm war). Stattdessen zog er schwarze Bundfaltenhosen mit einem rosa Streifen an den Außenseiten der Hosenbeine an und ein Sakko mit aufgestelltem Kragen. Er ließ sein Haar lang wachsen und kämmte es nach hinten. Außerdem trug er Koteletten. Was mich heute noch verblüfft, ist die Tatsache, dass sein Look damals nirgendwo in Memphis angesagt war. Soweit ich weiß, trug niemand solche Klamotten – außer Elvis. Sein Äußeres war zwar sein Markenzeichen, aber er machte keinen großen Wind darum und schien sich nie in den Vordergrund spielen zu wollen. So prägte er sich still und leise dem Gedächtnis seiner Mitschüler ein. Gleichsam wie ein Hammer aus Samt.

Elvis sah damals noch nicht so gut aus wie später – seine unverwechselbaren Gesichtszüge waren noch nicht voll ausgeprägt. Daher wussten die meisten Mädchen an der Humes nicht recht, was sie mit diesem seltsam anderen Klassenkameraden anfangen sollten. Einige der Jungs wiederum fanden, dass jemand, der derart aus dem Rahmen fiel, eine Abreibung verdient hätte. Eines Tages lauerten ihm ein paar harte Jungs bei den Toiletten auf. Sie fuchtelten mit einer Schere herum und sagten, sie würden ihm die Haare abschneiden. Er versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch seine Tolle wurde nur dadurch gerettet, dass Red West, einer der stärksten und furchtlosesten Burschen der ganzen Schule, zufällig hereinkam und sah, was vor sich ging. Red sagte den Möchtegern-Friseuren, wenn sie Elvis die Haare schneiden wollten, müssten sie zuerst ihm die Haare schneiden, und damit war der Fall erledigt.

Als krönender Abschluss meiner Schulzeit an der Humes durfte ich als Jahrgangssprecher eine Rede vor der gesamten Schule halten. Der schönste Augenblick für Elvis war vermutlich sein Auftritt bei dem Talentwettbewerb, den die Abschlussklasse jedes Jahr veranstaltete. Die Aula war bis auf den letzten Platz gefüllt. Er betrat die Bühne und sang Teresa Brewers »Til I Waltz Again With You«. Ich erinnere mich noch, wie erstaunt ich war, dass einige der raubeinigen Football-Typen, die es Elvis so schwergemacht hatten, bei diesem Auftritt begeistert pfiffen und ihm zujubelten.

Ich sagte zu einem von ihnen: »Du klatschst ja wie verrückt – ich dachte, du kannst Elvis nicht leiden.«

»Ach was, Elvis ist in Ordnung«, sagte der Junge. »Wir haben ein bisschen Schabernack mit ihm getrieben, aber er hat es ganz locker weggesteckt. Außerdem ist er in unserer Klassenstufe, und er ist der beste Sänger da oben auf der Bühne.«

Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden.

Während meiner Zeit an der Humes hörte ich immer häufiger WDIA. Je mehr Musik ich dort kennenlernte, desto weniger interessierte mich der glattgebügelte Weichspülerpop von Leuten wie Doris Day, den Ames Brothers oder Mitch Miller. WDIA sendete allerdings nur bis Sonnenuntergang, danach musste man WHBQ einstellen, wenn man abends noch neue Klänge hören wollte. Der Sender hatte spätabends eine Show namens Red, Hot and Blue im Programm, die von einem wilden, verrückten Original namens »Daddy-O« Dewey Phillips moderiert wurde.

Dewey hatte als Verkäufer in der Schallplattenabteilung von Grants Kaufhaus in Memphis angefangen. Irgendwann war ihm eine Idee gekommen, wie er den Verkauf ankurbeln könnte: Er spielte seine Lieblingsplatten über die Haussprechanlage und kommentierte dies mit einem schnellen, wilden Gebrabbel. Er klang dabei wie eine Mischung aus Hinterwäldler, Tanzanimateur, Auktionator und Wahnsinniger. Viele Kunden kamen nur deshalb, weil sie ihm bei der Arbeit zuhören wollten. Die Verkaufszahlen schossen in die Höhe. Es dauerte nicht lange, da beschloss man bei WHBQ, den komplett unerfahrenen und nicht als Sprecher ausgebildeten Dewey mit einer eigenen Sendung über den Äther zu schicken. Er wurde auch dort zum Renner. Im Jahre 1951 stand seine ungemein beliebte Sendung sechsmal pro Woche von 21 Uhr bis Mitternacht auf dem Programm. In Red, Hot and Blue bekamen die Jugendlichen frischere, aufregendere Klänge zu hören: Doo-Wop, Jump Blues, Deep Country und vor allen Dingen etwas ganz Neues, das sich »Rhythm and Blues« nannte.

»Aufgepasst«, hörte man Dewey kreischen, »ich muss euch guten Leutchen da draußen sagen, dass ich heute Abend total aufgekratzt bin – ich bin so nervös wie ein Frosch auf der Landstraße, der gleich von einem Laster überrollt wird.« Wenn er versuchte, die nächste Platte aufzulegen, gab es eine schrille Rückkopplung – dann quäkte er »Ahh, ruft besser Sam«, einen seiner Lieblingssprüche, über die Einleitung des Songs. Er bevölkerte seine Sendung mit einer Truppe verrückter Charaktere, die er alle selbst sprach – Dizzy Dean, die schusselige Großmutter, die mannstolle Lucy Mae. Manchmal stellte er auch seiner fiktiven Assistentin, einer Kuh namens Myrtle, eine Frage, die diese dann mit einem ernsten »Muh« beantwortete. Sogar der Werbung nahm sich Dewey auf seine spezielle Art und Weise an: Er improvisierte und erfand ein paar ziemlich schräge Slogans (»Falstaff Bier – wenn ihr es nicht trinken wollt, friert es einfach ein, schneidet es in Scheiben, und esst es!« Oder: »Falstaff – öffnet eine Rippe und leert es euch rein.«)

Durch Dewey begeisterte ich mich mehr fürs Radio als je zuvor. Ich war fest entschlossen, alles zu tun, um selbst Teil dieser seltsamen Welt zu werden. In meinem Abschlussjahr an der Humes High bekam ich eine erste Chance. Ich ergatterte einen Posten als Assistent der Moderatoren, die für die Übertragungen unserer Football-Spiele im örtlichen Radio zuständig waren. Meine Aufgabe war es, das Spiel zu beobachten und die Namen und Nummern der jeweiligen Spieler auf eine große Tafel zu schreiben, damit die Sprecher das Spiel flüssig kommentieren konnten. Als einer dieser Sprecher im Frühjahr darauf einen Job bei WHBQ bekam, nahm er mich mit, um ihn bei den nachgestellten Spielen der Baseballmannschaft Memphis Chicks als Assistent zu unterstützen.

Bei solchen Spielen berichtete ein Reporter über den Ticker der Western Union direkt aus dem Stadion. Im Studio von WHBQ im Mezzanin des Hotels Chisca versorgte ich damit den Sprecher, der das Spiel dann kommentierte, als würde es vor seiner Nase ablaufen. Um die gewünschte Atmosphäre herzustellen, wurden zusätzlich Aufnahmen von Jubelstürmen und Buhrufen eingespielt. Wenn ein Ball gut geschlagen wurde, klopfte der Sprecher mit einem kleinen Holzhammer neben das Mikrofon. Wenn der Schläger ausholte und den Ball verfehlte, klatschte der Sprecher auf seine lederne Brieftasche. Das klang dann ungefähr wie der Aufprall des Balls auf dem großen Lederhandschuh des Fängers. Es war eine ziemlich seltsame Arbeit, aber es war richtige Radioarbeit.

Nach meinem Abschluss an der Humes schrieb ich mich am Memphis State College für das Hauptfach Wirtschaft und die Nebenfächer Rhetorik und Theaterwissenschaften ein. Abends hörte ich immer noch Red, Hot and Blue. Durch die Arbeit beim Sender erfuhr ich, dass Dewey Phillips im wirklichen Leben genauso verrückt war, wie er auf Sendung klang. Während seiner Show setzte Dewey den Studiogerätschaften derart zu, dass die Techniker einen Extra-Senderaum ganz für ihn allein eingerichtet hatten, wo er sich nach Lust und Laune austoben konnte. Die Sendeleitung wollte Dewey bei seinen Nachtschichten jemanden zur Seite stellen, der ein wenig ruhiger und verantwortungsbewusster war und ihn davon abhielt, etwas so zu beschädigen, dass man es nicht mehr zusammenflicken konnte. Sie fanden, dass Dewey Phillips einen Babysitter brauchte, eine rechte Hand, ein Mädchen für alles.

 

Er bekam mich.

Dewey und ich verstanden uns auf Anhieb. Er war ein verrückter Kerl, aber auch ein netter und großzügiger Mensch. Es freute ihn sehr, jemanden bei sich zu haben, der sich ebenso für die Musik begeisterte wie er selbst. Bisweilen war es eine große Herausforderung, für den reibungslosen Ablauf seiner Sendung zu sorgen, aber ich schaffte es. Ich tat alles für ihn, von der Bedienung der Bandmaschine bis hin zum Kaffeeholen. Bald verbrachte ich auch außerhalb des Studios viel Zeit mit Dewey. Ich wusste, dass ich »dabei« war, als Dewey anfing, mich »Mutter« zu nennen – die Kurzform eines nicht besonders höflichen Begriffs aus der Umgangssprache, der sich bei bestimmten Leuten damals gerade wachsender Beliebtheit erfreute.

In seiner Sendung ignorierte Dewey das Thema Hautfarbe mit bewusster Lässigkeit – er sagte nie, dass er schwarze oder weiße Musik spiele, es war einfach nur »gute Musik für gute Leute«. Nach diesem Prinzip lebte er auch. Dewey überlegte nicht lange, ob er mich zum Spiel der Red Sox, dem Baseballteam der Schwarzen Liga, ins Martin Stadium mitnehmen sollte. Er liebte auch die All-Star-Freundschaftsspiele, die nach dem Ende der regulären Saison stattfanden. Ich weiß nicht, wie ich darüber hätte denken sollen, dass ich die »Rassengrenze« überschritt, jedenfalls ging ich begeistert nach Hause, weil ich große Spieler wie Roy Campanella und Don Newcombe aus nächster Nähe gesehen hatte.

Eines Abends an einem Wochenende besuchten Dewey und ich das Hippodrome an der Beale Street, wo ein Konzert mit mehreren bekannten »schwarzen« Künstlern veranstaltet wurde. Wir waren die einzigen weißen Gesichter im Publikum. Das Hippodrome war eigentlich eine Rollschuhbahn, wurde aber auch für Konzerte genutzt. Mehrere hundert Personen fanden darin Platz. Als Dewey den Saal betrat, wurde er wie ein König empfangen. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie viele schwarze Zuhörer Red, Hot and Blue hatte und wie sehr sie Dewey für seine Arbeit schätzten. Das Programm an jenem Abend war phantastisch: Roy Hamilton, LaVern Baker, die Drifters und die Clovers – alle in derselben Show. Es versprach ein großartiger Abend zu werden, bis kurz vor Ende des letzten Auftritts eine gewaltige Schlägerei ausbrach. Die Menschen um mich herum warfen Flaschen und Stühle und sprangen auf die Tische. Ich reagierte instinktiv, duckte mich, rannte davon und drückte mich hinter die Jukebox der Rollschuhbahn. Dort blieb ich auch noch, als ich hören konnte, dass die Polizei eingetroffen war und den Saal räumte. Ich harrte in meinem Versteck aus, bis ich schließlich hörte, wie Dewey nach mir rief: »GK, wo steckst du denn?«

»Ich bin hier, hinter der Jukebox«, rief ich zurück. »Kann ich herauskommen?«

Dewey antwortete mit schallendem Gelächter. »Jaja, es ist sicher. Komm jetzt raus da, du kleiner Scheißer.«

Wenn Künstler damals sowohl für schwarze als auch für weiße Fans spielen wollten, mussten sie zwei Konzerte buchen – eines nur für Weiße und eines nur für Schwarze. Dewey gelang es jedoch als einem der Ersten in Memphis, ein gemischtes Publikum zusammenzubringen. In seiner Sendung spielte er gern auch etwas Gospelmusik und schwärmte seinem Publikum immer häufiger von der Qualität der Musik vor, die bei den Sonntagabendandachten in der East Trigg Baptist Church in Memphis gespielt wurde. Die Gemeindemitglieder waren ausschließlich Schwarze, doch auf Deweys Drängen und mit Zustimmung des Pfarrers W. Herbert Brewster fanden sich sonntagabends nun auch einige junge Weiße ein. Die Gottesdienste wurden auf WHBQ übertragen. Als sich mir die Gelegenheit bot, Deweys ehemaligen Assistenten Bob Lewis als Teil der Zwei-Mann-Abordnung zu begleiten, die sich in der Kirche um die Übertragung kümmerte, ergriff ich ohne zu zögern diese Chance.

Es war ein unglaubliches Erlebnis, nicht zuletzt deshalb, weil die Kirche der einzige Ort in der Stadt war, wo eine umgekehrte Diskriminierung herrschte – hier mussten die Weißen im hinteren Teil der Kirche sitzen. Pfarrer Brewster war ein leidenschaftlicher Redner, aber was einen wirklich packte, war die Musik. In der orthodoxen Synagoge, die ich mit meiner Familie besucht hatte, gab es nicht einmal eine Orgel, und natürlich hatte ich noch nie eine Kirchenband wie die in der East Trigg gesehen. Es war eine volle Besetzung mit Gitarren und Schlagzeug. Sie spielten geistliche Lieder, die sich in die Predigt des Pfarrers einfügten und sie begleiteten. Und, Gottesdienst hin oder her, diese Band in der East Trigg Church spielte härter und kraftvoller als alle Bands, die ich je gehört hatte. Von den weißen Besuchern auf den hinteren Rängen kannte ich meist nur wenige, einen dafür aber sehr gut: meinen ehemaligen Klassenkameraden Elvis Presley.

So gerne ich mit Dewey zusammenarbeitete, so wusste ich doch, dass ich als sein Mädchen für alles keine große Zukunft hatte. Also beschloss ich, alles daranzusetzen, um einen richtigen Job vor dem Radiomikrofon zu bekommen. Bei WHBQ stellte ich ein paar Sprechproben zusammen – solche Sprachaufnahmen sind für einen DJ ungefähr das, was Portraitaufnahmen für einen Schauspieler sind. Ich wusste, dass es schwierig werden würde, bei WHBQ einen richtigen Job zu bekommen, selbst als Aushilfs-Diskjockey. Also schickte ich meine Aufnahmen an sämtliche kleineren Sender, die mir einfielen.

Bei KOSE in Osceola, Arkansas, konnte ich überzeugen. Sobald das Frühjahrssemester meines ersten Studienjahres im Mai vorüber war, begab ich mich 50 Meilen flussaufwärts, um den Hörern zum ersten Mal die George Klein Show zu präsentieren. Im Sommer 1954 übernahm ich eine lange Nachmittagsschicht als Diskjockey, bei der ich gleichermaßen für schwarze wie auch für weiße Zuhörer einen Mix aus Country- und Rhythm-and-Blues-Platten spielte. So klein Osceola war, so hatte es doch den Ruf einer ziemlich coolen Musikstadt – viele Musiker machten auf dem Weg zwischen Chicago und den südlich gelegenen Städten und Städtchen entlang des Mississippi dort Station.

Es machte mir Freude, in meiner eigenen Sendung die Platten aufzulegen, die mir gefielen, und ich fand, dass ich mein Handwerk mit jedem Arbeitstag ein bisschen besser beherrschte. An den Wochenenden aber vermisste ich Memphis. An jedem Samstagabend trat ich daher nach dem Ende meiner Sendung hinaus in die heiße Luft des Arkansas-Delta. Mit einer kleinen Reisetasche in der Hand ging ich ein paar Blocks bis zu der Stelle, wo der Highway 61 in Osceola in die Walnut Street mündet, streckte einen Daumen in die Höhe und hoffte, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis mich jemand bis nach Hause mitnähme.

Meine Mutter lebte immer noch in dem Haus gegenüber der Humes High im Norden von Memphis, wo ich aufgewachsen war, und wenn ich mich in der Stadt aufhielt, übernachtete ich bei ihr. Bevor ich zu ihr ging, schaute ich aber gern noch bei Dewey im Hotel Chisca vorbei und leistete ihm bei seiner Nachtausgabe von Red, Hot and Blue Gesellschaft. Ich konnte sicher sein, dass er mich hinterher noch zu irgendeinem verrückten Abenteuer Marke Dewey mitnahm.

Ich erinnere mich noch gut an einen bestimmten Abend im Juli, als mich jemand flussabwärts mitnahm. Wir überquerten die Memphis-Arkansas-Brücke und hielten schließlich vor dem Eingang des Chisca. Ich ging hinein und machte mich auf zum Mezzanin (aus irgendeinem Grund verkündete Dewey in seiner Show immer, er sende »live aus dem Magazin«). Als ich das Studio betrat, erspähte mich Dewey, und bevor ich noch ein »Tag, Dewey« herausbrachte, begann er zu sprechen.