Flohsommer

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Ich denke, es liegt an meiner Ernährung. Wahrscheinlich habe ich irgendeinen Mangel.

Es ist schon 18:00 Uhr. Mist.

Um sicherzugehen, habe ich auf drei Uhren geschaut, aber es scheint tatsächlich zu stimmen.

Ich weiß nicht, wohin dieser Tag verschwunden ist. Außer Nachdenken, Teetrinken und wirr Rumschreiben habe ich nichts gemacht. Noch nicht einmal richtig angefangen zu schreiben, sondern nur Gedanken gesammelt.

Leander kommt gleich und holt mich ab. Eigentlich habe ich keine Lust wegzugehen, aber wahrscheinlich muss ich mal raus. Sonst fällt mir die Decke auf den Kopf.

Den ganzen Tag mit fettigen Haaren im fleckigen, ausgeleierten, muffeligen Schlafanzug rumzuhängen, kann für die weibliche Psyche ja nicht gut sein.

7. Mai

Gestern Abend bin ich mit Leander weggegangen. Um 19:00 Uhr wollte er kommen, was normalerweise bedeutet, dass man gegen 20:00 Uhr mit ihm rechnen kann.

Nachdem er sonst wirklich immer viel zu spät kommt, habe ich mir natürlich viel Zeit zum Verschönern gegönnt. Gerade, weil ich stimmungsmäßig irgendwie so unten war.

Ich wollte mir mit Hilfe einer gelöcherten Plastikhaube frische, helle Strähnchen blondieren. Diese Haube sitzt sehr eng auf dem Kopf und wird unter dem Kinn gebunden. Sie erinnert an die Regenhauben alter Damen, ist aber nicht so schick. Die zu bleichenden Strähnen zupft man mittels einer dem Blondier-Set mitgelieferten Plastiknadel oben aus dem Kopf raus, weshalb man an einen wahnsinnig gewordenen Einstein erinnern würde, würde man sich so jemandem zeigen. Was nur ein Wahnsinniger täte. Damit die Blondierungsemulsion nicht meine Kleidung ausbleicht, war ich, bis auf ein schmales, siffiges Handtuch zum Schutz meiner Haut, nackt.

Natürlich habe ich in dem Aufzug die Tür nicht aufgemacht, als es um 19:00 Uhr klingelte. Ich war damit beschäftigt, die Blondierungsemulsion aufzutragen; im Gesicht hatte ich schon eine reinigende Maske.

Hätte ich eine Wohnung für mich alleine, wäre auch nichts passiert.

Aber das kann ich mir nicht leisten, da die Dolmetscherschule jeden Monat bezahlt werden will.

Deshalb wohne ich mit Anegret zusammen, die eine große Abneigung gegen chemische Verschönerungsmittel hat und mir endlose Vorträge über die Schädlichkeit meines Tuns hält. Was mich zwingt, diese Dinge heimlich ins Haus zu schmuggeln und verstohlen in meinem Zimmer anzuwenden.

Als ich ihren lilafarbenen Weiblicher-Mitbewohner-gesucht-vegetarischer-Nichtraucher-bevorzugt-Zettel am schwarzen Brett eines Supermarktes fand und sie mich wollte, hielt ich das für großes Glück. Zumal ich nur zwei der drei Kriterien erfülle – bislang habe ich es noch nicht geschafft, mich der Wurst zu erwehren … Meine ersten Monate in Würzburg habe ich in einem Zimmer gewohnt, das mir eine Freundin meiner Oma überlassen hatte. Sie wohnt ein ganzes Stück außerhalb Würzburgs, in einem kleinen Ort namens Üttingen. Da ich kein Auto habe, auf den Bus angewiesen bin und jeden Morgen zu spät zum Unterricht kam, weil ich regelmäßig im Pendlerstau steckte, der über Höchberg nach Würzburg flutet, brauchte ich eine andere Unterkunft. (Zumindest ist das der offizielle, von allen „elteren“ Familienmitgliedern verständnisvoll benickte Grund. Eigentlich habe ich mich auf dem Dorf einfach gelangweilt – ich suchte die grellen Lichter der Großstadt und das pralle Leben. Und wollte wieder näher bei Leander sein.)

Außerdem war „mein Zimmer“ zwar offiziell das Gästezimmer, tatsächlich aber die Abstellkammer der netten, alten Dame. Über meinem Bett war ein Regal mit Einmachgläsern – das älteste war ungefähr in meinem Alter.

In Würzburg herrscht immer zu Semesterbeginn großer Wohnungsmangel, daher war es wirklich unwahrscheinliches Glück, bei Anegret einziehen zu können.

Das kleine Haus, in dem wir uns im Erdgeschoss eine Wohnung teilen, liegt im Stadtteil Zellerau. Dort haben, anders als in der Innenstadt, etliche Häuser den Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 überlebt. Unser Haus ist eigentlich eine Doppelhaushälfte; wir bewohnen aber den besseren Teil. Die beiden Hälften haben getrennte Eingänge und der Zugang zu unserer, der linken Hälfte, liegt in der Mitte unter einem Erker. Die andern haben rechts eine Haustür unter einem kleinen Vordach. Unser Erker ist sehr schön: Wenn ich ins Haus gehe, stehe ich unter zwei steinernen Frauenköpfen, die mit großen Augen über mir in die Zukunft zu blicken scheinen. Am Erker stehen die Jahreszahl 1892 und der Buchstabe „S“.

Das Haus ist mit drei verschiedenen Steinarten verkleidet: Unten, wo wir wohnen, heller Sandstein, in der Mitte, wo der Hausbesitzer – unser Vermieter – zu Hause ist, hat man rote Ziegelsteine verwendet und am Dachgeschoss ganz oben schwarzen Schiefer. Leander nennt unser Haus wegen der Farben „das Deutschlandhaus“. Im Schieferstockwerk wohnte eine Männer-WG; die Wohnung steht aber trotz Wohnraummangel seit Monaten leer, weil die letzten Mieter den Vermieter unter anderem durch nächtlichen Lärm verärgert haben.

Das Haus hat sogar zwei Gärten: einen winzigen, verwilderten Vorgarten und einen sehr schönen Garten auf der Rückseite. Der Vorgarten ist kaum zu betreten, dort haben die Pflanzen allen zur Verfügung stehenden Platz erobert. Im hinteren gibt es ein, vom Vermieter anscheinend innig geliebtes, Mini-Rasenstück mit englischem Rasen, der an Samt erinnert. Das schönste ist die mit Blumen gesäumte Terrasse, die einen Zugang von unserer Küche aus hat. Vom linken Eckpunkt aus hat man durch die Dächer der umstehenden Häuser unverstellten Festungsblick.

Am Ende des Grundstückes ist ein Schuppen, in dem wir unsere Fahrräder unterstellen können. Der Schotterweg zum Schuppen führt rechts am Haus vorbei, um ihn zu betreten, muss man an der Straße ein großes, rostiges Tor öffnen. Man könnte, wenn man das Fahrrad im Schuppen abgestellt hat, über den gepflegten Rasen und dann über die Terrasse durch unsere Küche direkt ins Haus gehen. Sollte man aber nicht – die Männer der WG haben das wohl immer gemacht … Deshalb gehen wir wieder durch das Tor und erst dann zur Haustür – was unsere Nachbarin freut, da sie so doppelt gegrüßt wird.

Die Decken unserer Zimmer sind hoch, wenn auch nicht ganz so hoch wie im Vermieter-Stockwerk. Wir haben sogar Reste von Deckenstuck in den Zimmern und leicht knarrende Holzfußböden.

Obwohl wir im Erdgeschoss in einer eng bebauten Straße mit großen Mehrfamilienhäusern leben, sind die Zimmer überraschend hell. Bis auf das Badezimmer, das zeigt nach Norden zur Straße hin. Aber in dem lebt man ja nicht. Ich mag das Haus, die Wohnung und mein Zimmer.

Es war eigentlich unfassbares Glück, unter den anderen Bewerbern von Anegret als Mitbewohnerin auserwählt zu werden. Vielleicht sollte ich das noch auf die positive Seite der Liste setzen. (Leider zahle ich mehr Miete, als ich mir leisten kann. Was auf die negative Seite gehört.)

Mit Anegret läuft es relativ gut.

Wir kennen einander allerdings kaum wirklich, obwohl wir uns Küche und Badezimmer seit ca. einem Monat teilen.

Anegret hat ihren Tagesrhythmus und ich einen völlig anderen. Über ihre Abneigungen bin ich trotzdem gut informiert, weil Anegret überall kleine, selbstheftende Klebezettelchen anbringt. Mitteilungen wie „Bitte den Klodeckel IMMER schließen!!!“, „Bitte den Kühlschrank WÖCHENTLICH!!! auswischen!!“ oder „BITTE DAS GEMÜSE IN DAS GEMÜSE(!)FACH LEGEN!!!“ in Pink oder Lila begrüßen mich allmorgendlich an immer wieder überraschenden Platzierungen seit meinem Einzug. Wenn ich einmal keinen Zettel sehe, mache ich mir Sorgen, bin völlig irritiert und erst wieder entspannt, wenn ich dann nach längerer Suche doch noch an meiner Haarbürste „BITTE DIE HAARE AUS DER BÜRSTE ENTFERNEN!!!!!!“ finde. Noch überlege ich, sie deshalb einmal anzusprechen, aber ich will mich erst einmal richtig einleben. Außerdem hoffe ich, dass sie irgendwann von selbst damit aufhört.

Sonst hatte ich, bis jetzt, noch keine Probleme mit ihr. (Auch wenn mir nicht klar ist, warum die Haare in MEINER Bürste SIE stören.)

Anegret hat Leander geöffnet und ihn einfach ohne Vorankündigung in mein Zimmer gelassen. Sie kannte Leander, wusste, dass wir verabredet waren, und ging einfach davon aus, dass es mir recht wäre.

Sie täuschte sich. Sehr.

Meine Gesichtsmaske war zwar nicht grün, sondern weiß, und ich hatte auch die in Filmen üblichen Gurkenscheiben nicht auf den Augen, aber die Damen in den Filmen haben wenigstens irgendetwas an. Im Film ist so eine Situation, im Unterschied zum echten Leben, ja auch lustig.

Leander hat nicht gelacht.

Er ist, ohne ein Wort über meinen Aufzug zu verlieren, in die Küche gehuscht und hat dort gewartet.

Jetzt beim Schreiben fällt mir auf, wie seltsam wir beide uns verhalten haben.

Klar, dass die Plastikhaube auf meinem Haupt und der Quark in meinem Gesicht die erotische Anziehungskraft, die nackte Weiblichkeit sonst auf Männer ausübt, gedämpft haben, kann ich ja verstehen.

Aber nach dem Beseitigen der entstellenden Verschönerungsmittel sah ich wirklich gut aus.

Im Nachhinein wundere ich mich auch über meine Reaktion. Als er eintrat, kreischte ich empört auf und fuhr ihn richtig hysterisch an, er solle wenigstens einmal zur ausgemachten Zeit kommen. Im eigenen Interesse, denn dann blieben ihm solche Szenen erspart.

Ich habe mich gedemütigt gefühlt. In dem Aufzug von ihm gesehen zu werden!

Dabei war Leander bei mir im Bad gewesen, als ich damals dieses schreckliche Virus hatte und mich ständig übergeben musste. Und er war auch dabei, als ich in dieser Güllepfütze ausgerutscht bin und – nein, diese Erinnerung muss nicht unbedingt aufgefrischt werden … Aber er war immer dabei. Er hat mich als alberne, unglaublich schlechte Pantomime erlebt; mir war noch nie etwas peinlich gewesen vor Leander.

 

Als ich in die Küche kam, war es ein paar Minuten locker verkrampft.

So, als hätte ich gepupst.

Alle wissen es, aber man versucht, so zu tun, als wäre nichts.

Wir sind in eine Kneipe gegangen.

Spätestens dann hätte ich normalerweise über alles lachen können.

Aber es ging nicht. Wie zwei flüchtige Bekannte, die plötzlich alleine zu zweit an einem Gruppentisch sitzen, sind wir angespannt höflich und sehr unsicher miteinander umgegangen. Leander ist später in der Nacht noch alleine in eine Disco gezogen, von der er genau weiß, dass ich sie grässlich finde.

Ich bin nach Hause, unter dem Vorwand, dass wir bald einen wichtigen, schweren Spanischtest schrieben und ich ausgeschlafen sein müsse.

Ich habe heute tatsächlich den ganzen Tag gelernt.

Beinahe den ganzen Tag.

Natürlich musste ich kurz Lebensmittel einkaufen.

Und kochen und essen. Nach dem Vorfall gestern musste ich dringend mein Zimmer aufräumen.

Außerdem habe ich mit verschiedenen Leuten telefoniert, die ich schon lange nicht mehr gehört habe.

Und ich musste im Internet verschiedene essenzielle Informationen suchen, was länger gedauert hat, als ursprünglich geplant war.

Aber die restliche Zeit habe ich natürlich voll und ganz zum Lernen genutzt.

Bis auf die Zeit, in der ich ins Schwimmbad musste; man muss sich schließlich auch mal bewegen.

Ich habe mich gestern für den Zustand meiner Behausung und meines Körpers geschämt.

Und das vor Leander!

Wenn jemand meine innerlichen und äußerlichen Schwächen kennt, dann doch wohl er!

Leander hat zwar keine unschönen Speckröllchen am Körper, aber saubere Zimmer kennt er nur aus Zeitschriften wie „Schöner wohnen“.

Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, was Leander von meinem Ordnungssinn hält.

Solange man noch ohne Schaufel zu Fuß den Raum durchqueren kann, galt meines immer als aufgeräumt.

Wenn das nicht mehr möglich war, haben wir uns eben woanders hinbegeben.

Irgendwo räumen immer irgendwelche Leute auf.

Was hat sich verändert zwischen uns?

Ich fühlte mich gestern nackt.

Gut, ich war’s auch.

Aber ich meine nicht nur den Körper.

Seelisch nackt.

Die gleiche Situation ein paar Wochen früher hätte mich nicht belastet.

Ich hätte gelacht und Leander auch.

Mir fällt gerade auf, dass Leander überhaupt sehr selten lacht.

Wenn Leander vor ein paar Wochen hereingeplatzt wäre, dann hätte ich es nicht anders empfunden, als wenn meine Mutter mein Zimmer betreten hätte.

Mama hätte natürlich meine Schlamperei gerügt, deshalb wäre ich sogar sehr erleichtert gewesen, wenn stattdessen „nur“ der gute, alte Leander gekommen wäre.

Ich habe mir wirklich Mühe gegeben und stundenlang geputzt. Mein Zimmer wirkt jetzt wieder – na ja, wie ein Zimmer eben. Zugegeben, ich habe da aufgehört mit der Ordnung, wo Anegret erst beginnt. Aber es sieht betretbar und erfreulich normal aus.

Leider kommt heute niemand. Dann hätte ich so tun können, als ob es bei mir immer so ordentlich wäre, und hätte Dinge gesagt wie: „Hach, das ist mir jetzt aber peinlich! Bei mir sieht’s ja aus!“

8. Mai

Leander hätte sich melden können, um sich zu erkundigen, wie mein Spanischtest gelaufen ist. Hat er aber nicht getan.

Ist es vom Freund zu viel erwartet, dass er Interesse zeigt? Früher hätte er bestimmt nachgefragt.

Nein – wahrscheinlich auch nicht.

Der Test an sich ist mir auch egal – es geht um das Prinzip.

Ich interessiere mich doch auch für ihn und höre mir seine Sorgen, Gedanken und ALLES, wirklich ALLES, geduldig an – wieder und wieder und wieder.

Im Spanischtest ging es um eine Familie, die immerzu „Vamos!!!“ ruft und wandern will.

So habe ich zumindest die Überschrift übersetzt.

Mehr habe ich leider nicht verstanden.

Ich habe trotzdem in kleiner Handschrift drei Seiten geschrieben.

Der zu übersetzende Text war nur zwanzig Zeilen lang, aber irgendwie musste ich die Zeit ja totschlagen.

Vielleicht erhalte ich Gnadenpunkte für eine besonders schöne Geschichte.

Meine ist bestimmt viel lustiger als der ursprüngliche Text. Der wirkte doch eher etwas trocken und langweilig.

Übermorgen kommt ein Test in englischer Grammatik; da meine Spanischkenntnisse viel besser sind als mein Wissen über englische Grammatik, befürchte ich das Schlimmste.

Um mit Stress und Frust fertig zu werden, backe ich meistens – Backwahn.

Da ich alles mit der Hand mache (wir besitzen kaum Küchengeräte), brauche ich Kraft und verarbeite die angestaute Wut beim Rühren und Kneten. Ich backe nicht wirklich gut, aber es wirkt beruhigend, weil man ein sichtbares Ergebnis erreicht. Mit etwas Glück hat man sogar ein essbares.

Eine der wunderlichsten Erfindungen ist Backpapier.

Wie konnte jemand auf die Idee kommen, ausgerechnet ein extrem leicht brennbares Material zu verwenden, um anklebenden Kuchen zu verhindern?

Ich selbst hätte nie die Energie aufgebracht, eine Erfindung in die Welt zu setzen, die jahrhundertelang keiner vermisst hat und die keiner würdigt, sobald es sie gibt.

Wer gilt eigentlich als der Erfinder des Backpapiers und wann war das?

Über die modernen Erfindungen wird wenig gesprochen.

Jeder meint, den Erfinder der Glühbirne zu kennen, aber nur wenige wissen, wer das reißfeste, vierlagige Toilettenpapier erfand. Der wirkliche Erfinder war nicht Edison, sondern jemand, dessen Namen ich vergessen habe – von der Birne, nicht von der Abwischrolle.

Leander weiß solche Dinge oft. Für völlig Unwichtiges, Belangloses hatte er schon immer Interesse und Energie.

Leider neige ich dazu, die Rezepte zu verändern, um meiner eigenen kreativen Ader gerecht zu werden. Anscheinend bewirkte das Natron, welches ich zusätzlich unter den Teig gemischt hatte, dass der Kuchen in der Mitte stark hochging. (Ich hatte es bei Anegrets Sachen gefunden und mir gefiel die nostalgische grüne Papiertüte.) Weil ich den Boden mit Marmelade verfeinert hatte, sausten die Früchte wie auf einer Rutsche nach unten auf den Ofenboden. Da ich während der Backzeit noch schnell einkaufen war, konnte niemand den Ofen retten. Die ganze Küche ist verqualmt und stinkt.

Um mich bei Anegret wieder beliebter zu machen, habe ich bei einem asiatischen Imbiss vegetarische Nudeln geholt.

Das hätte ich mir allerdings sparen können, denn sie kam nicht. Wahrscheinlich schlief sie wieder bei ihrem schleimigen Verlobten. Den habe ich bis jetzt erst dreimal gesehen und kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass bei dem irgendwer freiwillig schlafen will. Oder gar mit ihm – brr.

Seit ich den Verlobten kenne, sehe ich das Märchen vom Froschkönig mit anderen Augen: Ein Frosch, der sich äußerlich in einen Menschen verwandelt, wird trotzdem immer etwas Froschiges in seinem Wesen haben: die Neigung, stundenlang an einer Stelle zu sitzen und einfach nur zu glotzen, zum Beispiel. Ich bin sicher, der Verlobte schläft nachts in einem Tümpel. Wie der Verlobte heißt, weiß ich bis heute nicht, da Anegret ihn nie mit seinem Namen vorstellt, sondern immer nur seine Funktion in ihrem Leben mit den Worten: „Und das ist mein Verlobter!“ erklärt.

Außer Anegret kenne ich niemanden in ihrem/unserem Alter, der/die verlobt ist. Sie wirkt zwar etwas älter als ich, war aber anscheinend schon immer an diesen Mann gebunden. Anegret erweckt überhaupt den Eindruck, als sei sie bei ihrer Geburt bereits achtzig Jahre alt gewesen.

Wenn Anegret etwas erzählt, teilt sie ihr Leben in „das war natürlich vor meiner Verlobung“ und „aber erst, seit ich verlobt bin“ ein.

Als ich alleine mit meinen Nudeln „Nr. 5 ohne Huhnerfleich“ für zwei Personen auf der Terrasse saß, kam der Hund des Vermieters mit seinem Herrchen vorbei. Der Hund ist erst auf den zweiten Blick als solcher zu identifizieren, auf den ersten hält man ihn für das Werbemaskottchen eines Wurstherstellers oder das Dönertier. Er scheint nur aus einem orangeroten, zylindrisch geformten Oberkörper zu bestehen, der raupengleich über den Boden schlängelt. Bei genauerem Hinsehen kann man kleine Füßchen entdecken, die entgegen den Gesetzen der Physik den Körper überall dorthin bewegen, wohin er will.

In der Regel will der Körper zu Nahrungsquellen.

Der Duft von Asia Nummer 5 hatte ihn wie ein Magnet angezogen.

Der Vermieter ist mir noch gänzlich unbekannt, sieht man von den kurzen Momenten ab, wenn ich ihn vom Fenster aus bei der Gartenarbeit sehe. Vertrauter als er selbst ist mir seine „Duftmarke“ – der Vermieter raucht Pfeife und benutzt einen angenehmen Tabak mit Wildkirscharoma. Der Geruch scheint wie ein unsichtbarer Freund des Vermieters: Er kündigt ihn an, bevor er erscheint und erinnert noch lange nach seinem Weggang an ihn. Der Tabakduft war das Erste, was ich in dem Haus bewusst wahrgenommen habe, und hat in mir sofort den „Hier gehöre ich her!“-Gedanken ausgelöst. Warum ich mich vor Zigarettengestank ekle, aber Pfeifenduft liebe, weiß ich nicht. Ich wollte vor ein paar Monaten sogar Pfeife rauchen und war bei einem sehr netten Verkäufer in einem Fachgeschäft zur Beratung. Ich bin durch den vergilbten, schmuddeligen Verkäuferbart und das ständige kratzende Verkäuferhusten wieder davon abgekommen und habe mich für Gesundheit und Schönheit entschieden. Aber ein rauchender Vermieter ist perfekt: Ich habe den wunderbaren, nostalgischen Geruch und er den Lungenkrebs und all das Unschöne.

Seit ich vor einem Monat hier eingezogen bin, habe ich ihn erst einmal kurz gesprochen. Damals hat er den Eindruck erweckt, die Erwartungen an einen den Wohnungsanwärter ausfragenden Vermieter zwar erfüllen zu wollen, aber nicht so recht zu wissen, was er eigentlich fragen sollte. Freundlich, aber etwas überfordert wirkend, erkundigte er sich, ob ich eine gefährliche Massenmörderin oder drogenabhängig sei oder laute, nächtliche Feste plane. Da ich alles mit gutem Gewissen verneinte, konnte ich einziehen. Im Gegensatz zu Anegret, der ich bisher noch nicht beichten konnte, dass ich keine Vegetarierin bin, musste ich ihn noch nicht einmal anlügen, um die Wohnung zu bekommen. Hätte ich aber eiskalt getan.

Weil Anegret nicht kam, die Nudeln kalt wurden und der Vermieter noch nichts gegessen hatte, lud ich ihn zu Anegrets Nudeln ein.

Der Vermieter ist schon sehr alt, ziemlich groß, schlank und wirkt wie ein „Herr der alten Schule“. Er bemüht sich, aufrecht zu stehen und gerade zu gehen, aber trotzdem sinken seine Schultern immer wieder ein wenig nach vorne und er neigt sich ganz leicht vornüber. Man sieht seiner braun gebrannten Haut die Gartenarbeit an. Er wirkt altmodisch mit seiner silbernen, großen Metallbrille und dem dunkelblauen Anzug, den er, außer bei der Gartenarbeit, immer anzieht. Auch zum Gassigehen oder Einkaufen. Beim Arbeiten im Garten bevorzugt er eine graue Hose, ein kariertes Hemd und einen Strohhut gegen die Sonne.

Als der dicke Hund die Endung seines Körpers, an der ich den Mund vermute, in den Alubehälter in der Hand des Vermieters mit den Asia-Nudeln versenkte, bemerkte der Vermieter das zuerst nicht.

Wir hatten über meine Eltern gesprochen, er sann über irgendetwas nach und schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Überraschend war, wie er auf den räuberischen Angriff der verfressenen Wurst reagierte: Er tätschelte ihm freundlich den Kopf, als ob der Hund ein Lob verdient hätte. So bestärkt fing der Hund dann auch noch an, den Behälter, in dem das Essen verkauft wird, zu zerbeißen.

Da wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte, dass Aluminium Gesundheitsschäden auslöst und ich von dem Geräusch Zahnschmerzen bekam, habe ich dem Tier den Alubehälter entrissen und in den Müll gebracht. Als ich wiederkam, erwischte mich allerdings die Rache des Hundes: Er hatte auch mein Abendessen erbeutet, was dem Vermieter sehr, sehr peinlich war.

Leise, mit sanfter Stimme tadelte er diesen (zensiert) und entschuldigte sich fassungslos über dessen Verhalten mehrmals bei mir. Wobei er immer wieder beteuerte, dass der Hund so was sonst nie mache und er sich den Mundraub überhaupt nicht erklären könne. Der Hund ist genau genommen auch kein Hund, sondern eine Hündin und hört (oder auch nicht) auf den Namen „Happy“, was der Vermieter „Häbi“ ausspricht.

Da der Vermieter nicht wie ein Mann aussieht, der seinem vierbeinigen Partner fröhlich klingende englische Namen verpasst, fragte ich nach und erfuhr, dass der Vermieter den Hund von einer „jungen“ (das betonte er ausdrücklich) Verwandten zur Aufmunterung geschenkt bekommen hatte. Der Vermieter erzählte das mit leichter Verwunderung in der Stimme, so, als ob er sich heute noch fragte, warum ihm die junge Dame nicht einfach „Edle Tropfen in Nuss“ oder eine Topfpflanze geschenkt hat. Oder irgendwas normal Unpersönliches, was andere Leute ihren alten Onkeln bei Besuchen mitbringen. Immerhin wird so ein Hund mindestens zehn Jahre alt, bedeutend älter als in normalen Haushalten Süßes, und muss, anders als die Topfpflanze, ständig ausgeführt und gefüttert werden.

 

Beim Sprechen macht der Vermieter viele Pausen und schaut sinnend in die Ferne, weil er immer wieder den Faden verliert und ihn erst wiederfinden muss.

Seine Stimme ist relativ leise und angenehm tief.

Wir saßen hungrig und ohne Aussicht auf Nahrung eine Stunde auf der Terrasse. Es wurde relativ kühl. Der vollgefressene Hund pupste leise im Schlaf.

Klingt eigentlich nicht nach einem schönen Abend, war’s aber trotzdem.

9. Mai

Als ich das erste Mal in der Würzburger Innenstadt auf Einkaufstour war, hielt ich das Angebot für sehr enttäuschend.

Dieser Eindruck hat sich bis heute nicht geändert.

Die Geschäfte gehören überwiegend zu Kaufhausketten, und das Angebot ist identisch mit einer Filiale derselben Kette in Bamberg, Bayreuth oder München. Mindestens jeder zweite Laden führt Bekleidung – die Würzburger könnten die am besten gekleideten Bürger Deutschlands sein, würden sie Wert darauf legen. Dass in der Fußgängerzone die Straßenbahn fährt, verwundert, ist aber sinnvoll, weil der moderne Fußgänger außerhalb von Fitnesseinrichtungen ungern die Füße benutzt. Ich bin da keine Ausnahme.

Die Zerstörung der Stadt im II. Weltkrieg hat zu einem gewöhnungsbedürftigen Mischmasch aus möchtegern-alter Architektur und möchtegern-moderner Architektur geführt, mit der auch die Würzburger ihre Probleme haben. Es gibt einen Verschönerungsverein in Würzburg, der allerdings seit langer Zeit kaum etwas verschönert, sondern nur gelegentlich gegen Dinge protestiert, die dann aber trotzdem gebaut werden.

Die Kaiserstraße, eine der wichtigsten Einkaufsstraßen, wirkt auch bei Sonnenschein im Sommer dunkel und grau. Schön ist aber, dass man Blick auf die Weinberge hat. Auch wenn der Bahnhof leider in derselben Blickachse liegt. Wobei der Bahnhof wohl gar nicht so hässlich ist, wie man immer denkt. Zumindest behauptet das eine Broschüre, die über seine Geschichte informiert und ihn als schützenswert erachtet. Es ist schön, dass die Menschen so unterschiedlich in ihrer Art sind und es sogar Menschen gibt, die den Würzburger Bahnhof schützen wollen.

Ich war heute mit Nadine, einer Mitschülerin von der Dolmetscherschule, am späten Nachmittag in der Residenz. Sie überlegt sich, ob sie als Fremdenführerin jobben möchte, und versucht deshalb, alle Ecken und Winkel Würzburgs kennenzulernen.

Nadine ist die Tochter einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Da sie in Mexiko aufgewachsen ist, spricht sie neben Deutsch und Französisch auch fließend Spanisch und amerikanisches Englisch. In Mexiko laufen alle Filme in der Originalsprache – in der Regel Amerikanisch – mit Untertiteln. Eine sehr angenehme Art des Sprachunterrichts, auch wenn ihre Vorliebe für Austen-Verfilmungen ihren Wortschatz etwas eigentümlich gefärbt hat.

Sie hat wunderschöne, lange, glänzende schwarze Haare und ein sehr hübsches Gesicht mit ungewöhnlich dunklen blauen Augen – sie könnte selbst aus einem Roman von Jane Austen stammen. (Sie wäre keine Emma Woodhouse oder Elizabeth Bennet, aber immerhin eine der anständigen, hübschen Freundinnen.)

Sie ist über einen Kopf kleiner als ich und sehr zierlich, ohne deshalb kindlich zu wirken.

In mir löst sie stets leichte Minderwertigkeitskomplexe aus.

Als wir ankamen, war die Residenz wegen Überfüllung geschlossen und vor dem Schloss bereits eine Warteschlange. Nach einigen Minuten wurden wir aber eingelassen: Während alle wie gebannt auf das große Tor starten, öffnete sich unten eine kleine Tür und eine Art Türsteher kam heraus, um den ersten Teil der Warteschlange einzunicken. Kurz vor unseren Nasen wollte er die Pforte wieder schließen, aber ein schmelzender Blick aus Nadines Augen und ein schüchternes, bittendes Lächeln verschafften uns Zutritt.

Um das Spiegelkabinett sehen zu können, haben wir eine Führung bei einer jungen Frau mitgemacht.

Ein Mann in unserer Gruppe stellte ständig Zwischenfragen. Zuerst hielt ich sein Verhalten für Interesse.

Er fragte, an welchem Tag der venezianische Freskenmaler Tiepolo in Würzburg eintraf, aus welchem Ort am Luganer See der Stuckateur Bossi stammte und wie alt der Hofschmied Oegg geworden ist – was so genau eigentlich niemand sonst in der Gruppe wissen wollte.

Der Mann hatte dabei etwas Lauerndes, als ob er nur darauf wartete, dass die Führerin etwas nicht wusste. Da sie aber antworten konnte, ging er dazu über, die Fragen so zu formulieren, dass seine eigene Belesenheit verdeutlicht wurde, wobei er seine Sätze mit Worten wie: „Ich gehe doch recht in der Annahme, …“ und „Ist es nicht vielmehr so, dass …“ beginnen ließ. In selbstbeantwortender Art und Weise „erkundigte“ er sich über alles Mögliche – Hauptsache, es waren Fremdwörter dabei. Dabei blickte er Bewunderung heischend in die Runde. Da ein Teil unserer Gruppe wieder zu seinem Schiff musste und der Rest eigentlich nur das Spiegelkabinett sehen wollte, musste die Schlossführerin ihn unterbrechen. Der Mann reagierte darauf sehr verärgert und wollte sich beschweren, was beim Rest der Gruppe betretenes Füßescharren auslöste. Mir war das Ganze auch unangenehm.

Eine mir unbekannte alte Dame flüsterte mir ziemlich laut vertraulich zu: „Där sull siech blous ned so aufspiel. Wär würchlich wär is, der würd doch eh vom Scheff bersönlich gführd! Aba so sann se, die Männa – imma zeing, wer ma iss. Imma aufspieln und nei in Vordagrund dränga!“

Oder so ähnlich. Ich habe kein Wort verstanden.

Möglich, dass Leander in genau der Zeit, in der ich mich bildete, bei mir angerufen hat, aber ich habe beschlossen, dass ich ihm nicht mehr hinterhertelefoniere.

Höchstens um ihm mitzuteilen, dass ich ihn nicht anrufe.

10. Mai

Das Wetter ist grau und kalt und es sieht nicht nach „Wonnemonat Mai“ aus.

Bei dem Test habe ich kein gutes Gefühl. Obwohl ich das nicht will, belasten mich meine schlechten Leistungen.

Um mich abzulenken von dem erwarteten/befürchteten/sicher wie gedacht ausfallenden Testergebnis, bin ich in die Stadt gebummelt. Auf der Alten Mainbrücke stehen zwölf barocke Steinfiguren, die unterschiedliche Heilige und Selige darstellen. Die Frauenquote scheint es bei Brückenheiligen nicht zu geben: Elf Figuren sind Männer.

Ziemlich in der Mitte befindet sich eine Gruppe, welche die Heilige Familie darstellt. Die Künstler haben eine Szene geschaffen, die heutzutage wirkt, als ob der Vater mit seinem Sohn zu spät vom Fußballplatz heimkommt. Jesus hält seine Weltkugel wie einen Ball, Josef blickt beschämt zur Seite und Maria scheint völlig verzweifelt über verkochtes Essen oder undankbare Familienmitglieder zu lamentieren.

Der Name „Alte Mainbrücke“ ist wirklich der offizielle Name; steht so auch im Stadtplan und auf Wikipedia.

In Würzburg gibt es viele Objekte, die von jedermann ohne größere Vorkenntnisse benannt werden könnten. Es reicht völlig aus, sich genau umzusehen:

– Die alte Brücke über den Main ist die „Alte Mainbrücke“.

– Der Brunnen vor dem Rathaus mit den vier Röhren heißt „Vierröhrenbrunnen“.

– Im Mainviertel gibt es drei kleine Gassen, die von der etwas breiteren Burkarderstraße aus in Richtung Festungsberg auf Felsen zuführen. Wie könnten diese Gassen in Würzburg anders heißen als „Erste Felsengasse“, „Zweite Felsengasse“ und „Dritte Felsengasse“?