Tödliche Offenbarung

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|23|5

Martha starrt ihr Handy an. Ihre Hand zittert. Die Minuten kriechen dahin, ohne dass eine der Frauen einen Ton sagt. Selbst Trixi, die sonst immer vor sich hin brabbelt, wenn sie nervös ist, hält den Mund. Hoffentlich kommt die Polizei bald, ist das Einzige, was Martha durch den Kopf geht. Jemand soll kommen und die Verantwortung für den Mann auf der Bank übernehmen. Soll alles regeln.

Martha schaut ungeduldig zur Einfahrt des Golfclubs. Immer noch kein Polizeifahrzeug in Sicht. Wie lange brauchen die denn?

Von der Zufahrtsstraße hört Martha Motorengeräusche. Endlich. Doch statt eines Polizeifahrzeuges fährt ein älteres Mercedesmodell auf den Parkplatz. Ein Mann in kurzer Hose und Polohemd steigt aus. Fröhlich pfeifend nähert er sich mit zügigem Schritt den drei Frauen, die immer noch betreten schweigend vor dem kleinen Holzhaus stehen.

Wilfried Dreyer, besser gesagt, der emeritierte Professor Doktor Wilfried Dreyer, freut sich auf eine entspannte Golfrunde, bevor es voll wird auf dem Platz. Er ist schon spät dran, obwohl er unter dem Protest seiner Gattin auf das gemeinsame Frühstück im Garten verzichtet hat. Das wird sie ihm noch heute Abend unter die Nase reiben. Sei’s drum. Für eine Golfrunde bei herrlichstem Wetter nimmt er das in Kauf.

»Guten Morgen, die Damen. Ist das nicht ein herrliches Golfwetter. Nichts, wie schnell auf den Platz.«

»Das geht nicht«, presst Martha zitternd heraus.

|24|Wilfried Dreyer starrt sie ungläubig an und geht weiter.

Martha breitet ihre Arme aus wie das Berliner Ampelmännchen bei Rot und verbaut ihm den Weg.

»Na, hören Sie! Lassen Sie mich jetzt bitte in den Caddyraum. Ich möchte meine Sachen holen.« Sein Tonfall hat die freundliche Sonntagsstimmung verloren. Er ist gekommen, um Golf zu spielen und davon lässt er sich nicht abhalten.

»Das geht nicht.« Martha sieht sich hilfesuchend nach Trixi und Roswitha um, doch die starren nur zum Schuppen, ohne sich zu regen.

»Was soll der Blödsinn? Ich will jetzt in den Caddyraum …«

»Bleiben Sie stehen!« Martha stellt sich ihm erneut in den Weg. »Da hinten …«

»Erlauben Sie mal, junge Frau, was ist das für ein Ton?«, unterbricht er sie aufgebracht. »Ich bin seit Jahren Mitglied in diesem Club, aber so etwas ist mir noch nie passiert.«

»Das geht nicht. Bitte bleiben Sie stehen bis die …«

»Was reden Sie da für einen Unsinn!« Wutschnaubend macht Dreyer einen Schritt auf das Caddyhaus zu, aber Martha stellt sich ihm erneut in den Weg.

»Stopp! Die Spuren dürfen nicht verwischt werden.«

In diesem Moment kommt Uwe Zwingel von der Driving Range und nähert sich gemächlich der Gruppe.

»Was gibt es denn?« Sein jovialer Ton beruhigt Dreyers Gemüt augenblicklich.

»Uwe, gut, dass du da bist. Diese Frau da, die redet wirres Zeug.«

Der Trainer verzieht das Gesicht. Schon wieder die Landeck. Hoffnungsloser Fall. Der erste gute Golfschlag ihres |25|Lebens – und schon ist er ihr zu Kopf gestiegen. Manche sollten es einfach sein lassen.

»Frau Landeck, nun machen Sie bitte Platz. Bei diesem herrlichen Sommerwetter …«

In diesem Moment fährt der Einsatzwagen mit Blaulicht über den Fußweg zum Caddyhaus.

Ein Blick hinter den Schuppen reicht Streuwald, um zu wissen, dass sie keinen Notarzt mehr zu rufen brauchen. Der Mann auf der Bank ist tot, und nicht erst seit ein paar Minuten. Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, mustert Streuwald das Gesicht des Mannes. Er ist mindestens vierzig, vielleicht sogar fünfzig Jahre alt. Seine groben Gesichtszüge sind bläulich verfärbt. Blut ist nicht zu sehen, aber die dunklen Flecken am Hals sprechen eine deutliche Sprache.

Streuwald dreht sich zu Borgfeld um und ruft: »Dieter, ruf in Hannover an. Das hier übersteigt unsere Zuständigkeit.«

6

Sonja Borgfeld öffnet die Tür des backsteinernen Reihenhauses in Burgdorf.

»Du?«

Überrascht mustert sie Felix. Die beiden sehen sich sonst nur selten. In der Pausenhalle des Gymnasiums, im Politikkurs oder bei den Treffen im Dorfkrug. Dort sitzt er stets in der letzten Reihe und sagt nichts. Trotzdem ist er mit seinen dunklen Locken nicht zu übersehen.

|26|»Die haben schon ihre Fahne gehisst«, sagt Felix, außer Atem vom Sprint auf dem Fahrrad.

»Woher weißt du das?«

»Ich war draußen.« Felix lächelt Sonja stolz an. Mein Name ist Bond, Felix Bond. Er hatte getan, was getan werden musste. Seine Angst ist längst vergessen.

»Komm ins Haus«, murmelt Sonja. Ich habe gerade einen Tee gekocht.

Zufrieden hält Felix wenig später eine heiße Tasse Tee in der Hand, obwohl er lieber eine kalte Cola getrunken hätte. Immerhin steht er neben Sonja in der Küche, kann sie ansehen, mit ihr reden.

»Mit wem warst du da?« Sonja trinkt den grünen Tee in kleinen Schlucken

»Mit keinem.«

»Du warst da allein?« Beunruhigt flattern Sonjas Augen hin und her. »Wir haben gestern gesagt, dass niemand alleine zu denen gehen soll.«

Felix sieht sie überrascht an. »Wir haben aber auch gesagt, dass wir irgendwas unternehmen müssen, dass man nicht immer nur reden und lamentieren kann. Du vorneweg.«

Stimmt. Sie ist es gewesen, die alle angestachelt hat, endlich etwas zu tun. Seit zwei Monaten gibt es jeden Freitag im Nebenzimmer des Dorfkruges diese Treffen: Einziges Thema ist das ehemalige Landschulheim hinter dem Segelflughafen, das in ein Schulungszentrum für die Partei der »Aufrechten Deutschen« umgewandelt werden soll. Sonja selbst geht die Idee mit den Mahnwachen nicht weit genug, aber immerhin soll der Protestauflauf schon Sonntag losgehen.

»Hier.« Felix schaltet seine Digitalkamera an und hält sie |27|Sonja hin. »Überspiel das auf deinen Rechner, vielleicht können wir damit etwas anfangen.«

»Komm mit in mein Zimmer.«

Bücher stapeln sich in der einen Ecke von Sonjas Zimmer, getragene Anziehsachen in der anderen. An den Wänden hängen Fotomontagen mit Bildern ihrer Freundinnen, Werbezettel und alte Eintrittskarten. Das Bett ist nicht gemacht, der Papierkorb quillt über. Auf dem verstaubten Schreibtisch stapeln sich Hefte, CDs und DVDs. Sonjas Zimmer besticht wie immer durch Chaos. Alle Versuche ihrer Mutter, eine Ordnung herzustellen, sind in den letzten Jahren gescheitert. »Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen.« Mit solchen Antworten treibt Sonja ihre Mutter an den Rand des Wahnsinns. »Manches wächst sich von alleine aus«, ist deshalb seit Monaten die stumme Durchhalteparole von Maria Borgfeld.

Sonja drückt auf den Startknopf ihres Rechners und schiebt einen zweiten Stuhl vor den Schreibtisch.

»Das dauert noch einen Moment, der Computer braucht immer ewig.«

»Ich hab Zeit.« Felix sieht Sonja direkt in die Augen. »Sind ja Ferien.«

Sonja senkt verlegen den Blick und sucht in der Schreibtischschublade nach dem Überspielkabel, von dem sie genau weiß, dass es hinter dem Stapel alter Zeitungen liegt. Als die Röte in ihrem Gesicht verflogen ist, zieht sie es dort hervor.

»Da ist es.«

Sie hält das Kabel mit einer triumphierenden Geste hoch.

»Dann leg mal los.« Ihre Stimme strahlt wieder ihre gewohnte Selbstsicherheit aus.

Auf dem Monitor erscheint kurz darauf das erste Bild. Vor |28|dem Flachdachgebäude flattern zwei Reichskriegsfahnen mit schwarzem Kreuz, in der Mitte ein Kreis mit Reichsadler, in der linken oberen Ecke das Eiserne Kreuz auf schwarz-weißrotem Hintergrund. Das nächste Bild zeigt den Blonden mit der 18 auf dem Rücken. Er spritzt mit einem Hochdruckreiniger die offene Ladefläche eines dunkelgrünen Autos ab. Ein Klick und der Blonde steht mit einem anderen rauchend vor der Tür.

»Die haben die ganze Zeit miteinander geredet. Sah fast aus wie ein Streit.«

»Konntest du was verstehen?«

»Nein, so dicht habe ich mich nicht herangetraut.«

Nicht herangetraut. Schon als Felix die ersten Worte sagt, würde er sich am liebsten ohrfeigen.

»So gegen halb zehn kam dieser Wörstein heraus und sagte etwas zu denen. Sah aus wie ein Befehl. Plötzlich hatten sie es ganz eilig. Die beiden sprangen in den Wagen und fuhren davon.«

»Schade, dass du nicht mehr verstanden hast.« Ihr Mundwinkel zuckt enttäuscht. »Vielleicht wüssten wir dann, was die vorhaben.«

Felix zoomt den Jungen heran, der das Auto gewaschen hat. Die Ärmel seines Sweatshirts sind hochgeschoben, auf dem Unterarm kann man eine Tätowierung erkennen. Ein roter gerader Strich von ungefähr zehn Zentimetern Länge mit jeweils einem Haken oben und unten.

»Sieht aus wie ein Angelhaken«, murmelt Felix und betrachtet das Foto genauer. »Siehst du das?«

Sein Zeigefinger deutet auf das Gesicht des einen Jungen.

Sonja kommt dichter an den Monitor heran und ihre |29|Köpfe berühren sich fast. Beide sehen auf die breite Nase des etwa Gleichaltrigen, die von kräftigen Augenbrauen eingerahmt wird.

»Hier.« Sonjas Finger schnellt hervor und streift Felix’ Arm. »Bei dem einen Schneidezahn fehlt die Ecke.«

Felix zuckt bei der Berührung zusammen. »An irgendwen erinnert der mich.« Er starrt auf den Monitor. »Wenn ich nur wüsste an wen.«

»Mir sagt das Gesicht nichts. Aber vielleicht wissen die anderen ja mehr. Wir bringen die Fotos mit den Fahnen ins Netz, dann werden wir ja sehen.« Sonja gießt Felix Tee nach. »Außerdem mobilisieren wir damit garantiert noch mehr.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Was ist mit facebook

»Glaubst du ernsthaft, dass einer von denen zur Mahnwache kommt? Die hocken doch nur vorm Computer und chatten rum.«

 

»Täusch dich da nicht, Felix. Ali hat eine große Anhängerschar. Bei farmville ist er auf level 32. Er ist der erfolgreichste farmer unserer Schule.« Sonja geht auf den Flur und ruft: »Ali, komm mal. Wir brauchen dich.«

Nichts rührt sich.

»Ali«, schreit Sonja aus Leibeskräften.

Endlich öffnet sich in der oberen Etage eine Tür. Alexander Borgfeld, genannt Ali, steckt den Kopf heraus.

»Was ist? Will Papa was von mir oder ist Mama schon zurück?«

»Papa hat Dienst und ist früh aus dem Haus – und Mama sitzt bis heute Nachmittag bei Edeka an der Kasse.«

Die Tür fällt schon vor dem Ende des Satzes krachend ins |30|Schloss. Wie der Blitz schießt Sonja die Treppe zum Zimmer ihres Bruders hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Mit einem Ruck reißt sie die Tür auf.

»Du musst uns mit dem Internet helfen. Wir haben da so eine Idee für facebook

»Sag das doch gleich.«

7

Eine Stunde später sind der Parkplatz und das Caddyhaus des Isernhagener Golfclubs nicht wiederzuerkennen. Überall stehen Polizeifahrzeuge. Rotweiße Flatterbänder sperren das Gelände großflächig ab. Borgfeld, Streuwald und die Kollegen aus Hannover haben alles routiniert gesichert. Die Leute von der Kriminaltechnik sind bereits eingetroffen und packen ihre Sachen aus. Borgfeld wundert sich über den Apparat, den einer vorsichtig vor dem Bauch trägt.

»Was ist das?«

»Unsere neueste Anschaffung. Nennt sich Spheronkamera. Teures Stück, wir behandeln sie wie ein rohes Ei.«

Stolz deutet Thomas Harms auf das Gerät, das Streuwald an die Flutlichtanlage eines modernen Fußballplatzes in Miniaturform erinnert.

»Und wozu ist die gut?«

»Während der Aufnahme dreht sich die Kamera um 360°. Jedes kleine Detail wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfasst, ohne dass dabei eine Spur verloren geht. Am Computer bauen wir aus Tausenden von Bildern anschließend den Tatort virtuell nach.«

|31|»Dann kann ja nichts mehr schief gehen.« Borgfeld mustert die Kamera misstrauisch. Virtueller Tatort! Die kommen auf immer neue Sachen in Hannover. Er dreht sich achselzuckend um. Sollen sie doch. Ein Anflug von Trotz macht sich in ihm breit. Er bleibt bei den alten Methoden und lässt den Platz auf sich selbst wirken, versucht ihn mit allen Sinnen zu erfassen. Manchmal spricht ein Tatort, hat ihm Hauptkommissar Max Beckmann bei der Untersuchung ihres letzten Falles erklärt, als eine Tote hinter dem Isernhagenhof gefunden wurde.

Borgfeld sieht sich um. Der Platz zwischen Schuppen, Geräteunterstand und Buschwerk wirkt freundlich, ausladende Äste werfen Schatten auf den Rasen. Vögel zwitschern, Amseln, vielleicht auch Spatzen. Borgfelds Blick wandert zur Bank. Der Tote trägt eine gepolsterte Lederjacke, Jeans und Cowboystiefel. Ziemlich warme Sachen für die heißesten Tage dieses Sommers. Eigentlich sogar ungewöhnlich warme Kleidung für dieses Wetter. Borgfeld wartet darauf, dass ihm etwas auffällt, dass er eine Schwingung wahrnimmt. Nichts. Er schließt die Augen, konzentriert sich und startet den zweiten Versuch. Wieder spricht nichts zu ihm. Vielleicht ist die Sache mit der Kamera doch gar nicht so schlecht.

Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter.

»Gestatten: Goldmann, ich bin der Präsident dieses Golfclubs.«

Die näselnde Stimme lässt Borgfeld zusammenzucken. Er dreht sich um und sieht in ein fleischiges Gesicht mit grauer Haartolle.

»Kommissar Borgfeld, Polizeiinspektion Burgdorf. Wir ermitteln in einem Todesfall.«

|32|»Todesfall? Bei uns?« Die Mundwinkel des grauhaarigen Mannes sinken herab.

»Genau. Hinter dem Schuppen liegt ein Mann. Vermutlich handelt es sich um Mord. Unser Rechtsmediziner kommt gleich, dann wissen wir mehr.«

»Mord?«, echot Goldmann und seine Augen wandern unruhig hin und her.

»Sieht so aus, aber Doktor Schmidt wird Genaueres dazu sagen können, wenn er sich den Toten angeschaut hat.«

»Wissen Sie schon, wer … es ist?«

Borgfeld schüttelt den Kopf und wundert sich über die blauen Kniestrümpfe des Mannes. »So weit sind wir noch nicht.«

»Kann ich ihn mir ansehen? Vielleicht ist es ein …«, Goldmanns Mund zuckt nervös, »ein Clubmitglied.«

»Ich darf niemanden näher heranlassen, bis alle verwertbaren Spuren gesichert sind. Dafür haben Sie bitte Verständnis.« Borgfeld holt sein Notizbuch heraus.

»Ich notiere mir schon einmal Ihren Namen. Goltmer, sagten Sie?«

»Nein, Goldmann, Georg Goldmann, wenn Sie mich brauchen, dann …«

Weiter kommt er nicht, denn in diesem Moment wird Borgfeld von dem Kollegen der Spurensicherung gerufen.

»Kommen Sie, das müssen Sie sich ansehen.«

|33|8

Max Beckmann holt die Milchtüte aus dem Kühlschrank. In der Doppeltür des amerikanischen Modells spiegeln sich die offene Küche und der Wohnraum. Im kühlen blauen Licht des verchromten Edelstahls verdoppelt sich das lang gestreckte Zimmer. Manchmal glaubt Beckmann, sich in dem großen Raum zu verlieren. Auch die Kochinsel und die breite Sitzlandschaft, die der Vormieter ihm gegen ein geringes Entgelt überlassen hat, ändern nichts daran, im Gegenteil, sie betonen seine Einsamkeit noch. Seine Gesichtszüge verhärten. Er hat die Freiheit gewollt, jetzt hat er die Freiheit, einsam zu sein. Selbst Schuld.

Unschlüssig greift Beckmann zum Handy, dreht es hin und her. Ein Fingerdruck und die Wahlwiederholung baut die Verbindung auf. Es klingelt dreimal, bevor es in der Leitung knackt. Erneut meldet sich Marthas Mailbox.

Beckmann wärmt mit dem heißen Wasser seiner Espressomaschine die Cappuccinotasse vor, während die elektrische Kaffeemühle die Bohnen mahlt. Er schäumt die Milch auf und drückt den Kaffee in den Siebträger. Als der Sud endlich in die Tasse tropft, steigt der Geruch von Espresso in seine Nase. Martha hat es geliebt, wenn er ihr morgens den Kaffee ans Bett gebracht hat und der Duft ihm ein paar Meter vorauseilte. Martha. Er seufzt und setzt sich mit seiner Tasse in den abgewetzten Ledersessel, der vor dem Fenster steht. Wieder einmal hat er es vermasselt.

Kaum hat er ausgetrunken, startet er einen neuen Versuch mit dem Telefon. Es geht immerhin auf neun zu, so lange schläft Martha sonst nie. Wieder nichts. Vielleicht lässt sie |34|das Telefon einfach klingeln und nimmt nicht ab, weil sein Name auf dem Display erscheint. Oder sie ist nicht allein.

Beckmann starrt aus dem Fenster und beobachtet die auf dem Fußweg vorbei eilenden Menschen. Eine tiefe Traurigkeit überfällt ihn. Nicht das erste Mal in den letzten Tagen.

Er seufzt. Es hilft alles nichts. Langsam muss er den Tatsachen ins Gesicht sehen, dass Martha nichts mehr von ihm wissen will. Sie hat ihn aussortiert wie den abgetragenen Schuh vom letzten Sommer.

Beckmann geht zu seiner Musikanlage und bedient die Starttaste. Element of Crime. Er dreht die Lautstärke auf. Richtig schön war’s nur mit dir. Nein, das braucht er jetzt nicht. Ein Druck auf die Stopptaste und Sven Regener schweigt.

Beckmann hasst diese einsamen Wochenenden. Früher galten die freien Tage als der Höhepunkt der Woche. Er liebte es, die Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, Hand in Hand mit Christopher durch den Zoo zu schlendern, seinem Geplapper zu lauschen und den kindlichen Gedankengängen zu folgen. Nach der Trennung von seiner Frau Miriam hat er ihn regelmäßig besucht. Doch dann ist sie mit Christopher nach München gezogen. Seitdem ist es vorbei mit diesen spontanen Ausflügen. Zuletzt hat er seinen Sohn vor einem halben Jahr gesehen. Der Kleine nennt den Neuen seiner Ex jetzt Paps. Das hat Beckmann mehr getroffen, als er zugibt. Hat er sich deshalb entschlossen, den Jungen nicht weiter mit seinen Besuchen zu verwirren?

In stillen Stunden stellt er diesen Entschluss jedoch genauso in Frage wie vieles andere. Wie kann es angehen, dass jemand die vierzig überschritten und immer noch keine Linie |35|für sein Leben gefunden hat? Darüber wundert er sich nicht zum ersten Mal. Im Gegenteil. Die Abstände werden immer kürzer. Liegt es an seinem Beruf? Die Scheidungsrate bei Polizisten soll besonders hoch sein, genau wie die Selbstmordrate. Vielleicht hätte er einen anderen beruflichen Weg einschlagen sollen. Sein Kunstlehrer hat ihn in der Oberstufe immer aufgezogen: Junge, mit diesem Namen solltest du Maler werden. Nomen est Omen. Von wegen. Mit künstlerischer Kreativität ist es bei ihm nie weit her gewesen. Quer und anders zu denken, Dinge, die scheinbar nicht zusammen gehören, in Verbindung zu bringen, sie wie ein Puzzle miteinander zu verknüpfen, dazu hat er Talent. Er ist ein neugieriger Mensch, ein hartnäckiger Schnüffler. Penetrant verfolgt er aufgenommene Spuren. Er ist gerne Ermittler – das wird ihm immer klarer, je älter er wird. Die Arbeit gibt seinem Leben einen Sinn. Arbeit als Sinn des Lebens. So weit ist es schon mit ihm gekommen. Sein Vater, Arbeiter in einer Gummifabrik, hat immer gesagt: Ich arbeite, um zu leben. Bei ihm ist es umgekehrt. Er lebt, um zu arbeiten. Sei’s drum. Dann stürzt er sich eben in diese Arbeit. Davon hat er schließlich genug. Beckmann zieht den USB-Stick aus seiner Jackentasche. Darauf sind ein paar Dateien und heruntergeladene Seiten aus dem Internet, die er schon längst bearbeitet haben wollte. Doch gestern hatte ihm die Hitze die letzten klaren Gedanken aus dem Gehirn getrieben – oder besser gesagt, sein Kollege. Frank Rischmüller, mit dem er sich das Zimmer im Landeskriminalamt teilt, pries den ganzen Nachmittag über Hannovers Maschseefest in den höchsten Tönen an.

»Der erste Abend ist immer der Beste«, hatte er nicht nur |36|einmal behauptet und Beckmann schließlich zum Mitkommen überredet.

Neben der Bühne des NDR am Nordufer tranken Rischmüller und er das erste Bier. Die Musik schallte zu ihnen herüber und sie waren froh, als die wild herumhüpfende Sängerin einer Nachwuchsband endlich Pause machte.

»Was für eine Hitze. Ich hol uns noch ein Becks«, bot Rischmüller an. Nach der dritten Flasche an einem ruhiger gelegenen Bierstand gestand Rischmüller ihm, dass er den ganzen Haufen beim Landeskriminalamt seltsam findet.

»Die hätten unendliche Möglichkeiten und machen nichts draus.«

»Wie meinst du das?«

»Ach nur so.« Rischmüller warf ihm einen verschwörerischen Blick zu und strich sich mit einer langsamen, fast lasziven Bewegung die dunkelbraune Haarsträhne zurück, die ihm im nächsten Moment wieder vor die Augen fiel.

Mit jedem Bier, das dem ersten folgte, wurde das Treiben rund um den See lauter und ihr Gespräch offener. Es stieg an, schwoll ab, war ruhig und dann wieder unvermutet ernst. Die dröhnende Musik störte Beckmann zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr.

»Willst du kriminelle Machenschaften im Netz aufdecken, musst du den Gegnern eine Nasenlänge voraus sein – besser zwei«, philosophierte Rischmüller.

»Und was sagt der Datenschutz dazu?«, entgegnete Beckmann.

»Datenschutz?« Rischmüller kräuselte die Lippen, strich die widerspenstige Haarsträhne zurück und zuckte mit den Schultern. »Manchmal eröffnen sich interessante Perspektiven, |37|wenn man sich Zutritt zu fremden Systemen …«, er zögerte einen Moment, »… auf die eine oder andere nicht ganz legale Art verschafft. Außerhalb der Dienstzeit – versteht sich.«