Tödliche Offenbarung

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Der grüne Nissan ruckelt über den holperigen Feldweg. Kevin sitzt neben Matusch und dreht sich immer wieder um. Felix liegt geknebelt und mit Kabelbindern gefesselt auf der Ladefläche, über ihm ist eine muffig riechende Decke ausgebreitet. Bei jedem Schlagloch hüpft er ein paar Zentimeter hoch und rollt zur Seite. Der Weg führt immer tiefer ins Moor, rechts und links flankiert von schmalen, jetzt trocken gefallenen Entwässerungsgräben. Birken und Eichen, wohin das Auge schaut, dazwischen Heidekraut, ab und zu ein Wacholderbusch.



Plötzlich hält Matusch an und springt mit Schwung aus dem Auto. Er hebt die Decke hoch, holt das Messer mit dem Walnussgriff aus der Seitentasche seiner Hose und wiegt es in der Hand. Wörstein hat ihm das in Russland hergestellte Springmesser zu seinem letzten Geburtstag geschenkt. Matusch klappt einen Hebel um und drückt drauf. Im nächsten Moment springt die scharfe Klinge heraus.



»Was hast du vor?« Kevin behagt die Situation nicht. Die Waffe ist kein gutes Zeichen, genauso wenig wie die Pistole, die seit heute Morgen im Handschuhfach liegt. Eine alte |83|Heckler & Koch, die Wörstein Matusch vor Wochen mit den Worten überlassen hat: Pass gut auf sie auf. Das ist eine der ersten Selbstladepistolen. Mittlerweile sind die verboten – wie alles, was gut ist.



Matusch grinst seinen Kameraden an. »Ein bisschen Spaß haben.« Er bückt sich zu Felix herunter und zieht ihn an den Füßen zum Ende der Klappe.



»Aber …«



»Was ist los?« Matusch geht mit der spitzen Messerschneide zwischen Felix’ Beine. Ein Ratsch und der Kabelbinder fällt auseinander. Ein zweiter Ratsch und der an den Händen ebenfalls.



»Haste etwa Mitleid mit dem Weichei?« Matusch schmeißt seinen Gefangenen mit Schwung von der Transportfläche. Mit lautem Krachen landet Felix auf dem staubigen Boden. »Wenn wir nicht zubeißen, beißen die uns.«



Felix’ Rippen schmerzen, sein Kopf und die Beine sowieso. Was soll er tun? Die in der Sonne glitzernde Klinge des Messers macht ihm Angst. Sein Herz schlägt heftig und sein Magen zieht sich zusammen. Was hat dieser Matusch vor? Felix starrt an den schwarzen Stiefeln und der dunklen Jeans hoch. Will der ihn etwa erstechen? Er schließt die Augen und wünscht sich, er wäre schon tot.



Dann ein metallenes Ratschen. Felix spürt plötzlich etwas Warmes auf seinem Bein. Etwas Feuchtes. Er schlägt die Augen auf.



Der kräftige Urinstrahl von Matusch durchdringt das Gewebe seiner beigen Cargohose. Der Stoff klebt bereits an der Wade. Der Strahl wandert weiter zu seinem T-Shirt und macht auch vor seinem Gesicht nicht halt. Felix schließt die |84|Augen wieder. Ekel und Angst füllen ihn aus. Noch nie hat er sich so gedemütigt und erniedrigt gefühlt. Noch nie hat er so viel Angst gehabt.



Schließlich versiegt der Strahl und das Ratschen des Reißverschlusses ist erneut zu hören. Vorsichtig öffnet Felix die Augen einen winzigen Spalt. Matusch grinst ihn breit an.



»Los, Arschgesicht, auf geht’s. Wenn es nach mir ginge, wäre jetzt Feierabend für dich. Mit Schnüfflern macht man kurzen Prozess.« Matusch spuckt vor ihm auf die Erde. »Steh auf.«



Langsam kommt Felix hoch. Die feuchte Hose und das Hemd kleben an ihm. Der Knebel in seinem Mund ist nass. Beißender Uringeruch steigt ihm in die Nase, doch zum Ekeln hat er keine Zeit. Kaum steht er halbwegs, bekommt er von Matusch einen Tritt in den Hintern.



»Hast Glück, weil du Karl mal geholfen hast. Er gibt dir eine Chance. Also los, renn.« Matusch grinst breit. »Laufen, habe ich gesagt.« Dann dreht er sich um, geht zum Auto und greift ins Handschuhfach.



Felix wartet nicht so lange. Ohne Kevin noch einmal anzusehen, setzt er sich in Bewegung. Rechts am Weg stehen dichte Büsche. Daneben drei dünnstämmige Birken. Das könnte seine Rettung sein.



Kaum ist Felix ein paar Meter in diese Richtung gelaufen, hört er einen Knall. War das ein Schuss? Felix dreht sich um und entdeckt Matusch neben dem Nissan. In der Hand eine Pistole. Schon folgt der nächste Schuss. Felix hört den Einschlag der Kugel im Baum neben sich. Wie von Sinnen beschleunigt er seine Schritte.



|85|»Ey, wie geil ist das denn?«, hört er Matusch juchzen. Dann knallt es erneut und eine Pistolenkugel streift die Birke rechterhand.




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Martha legt das Blatt auf den Stapel. Schreckliche Zeit damals. Keine Frage. Trotzdem kann sie nicht sagen, dass dieses Interview sie sonderlich berührt. Natürlich hat die Zivilbevölkerung gelitten. In Hamburg und Dresden sehr viel stärker als in Celle. Häuserzeilen wurden getroffen, ganze Stadtviertel ausradiert. Menschen starben, andere mussten fliehen und die Heimat verlassen. Über all das hat man tausendmal berichtet. Martha hat so viele Bilder vom Krieg gesehen, dass es sie nicht mehr betroffen macht. Mehr noch. Sie will sie nicht mehr sehen. Fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende ist der Krieg Geschichte geworden.



Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eigentlich müsste Max längst da sein. Jetzt ist schon über eine halbe Stunde seit seinem Anruf vergangen. Sie blättert die Seite um. Für einen Eintrag reicht es vielleicht noch.





Adalbert Messerschmidt, Jahrgang 1910, 42 Jahre alt, Maschinenschlosser, wohnhaft Riemannstraße





Guten Morgen, junges Fräulein. Ich habe schon gehört, dass Sie eine ganz Neugierige sind. Also, hereinspaziert, setzen Sie sich und schießen Sie los.





An den 8. April 1945 kann ich mich gut erinnern. An jenem Sonntagmorgen habe ich ausführlich die Wochenendausgabe

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der Celleschen Zeitung gelesen. Es gab die Tipps für den Gartenfreund und den neuen Teil des Fortsetzungsromans von Hermann Löns:

 Der Wehrwolf

. Gerade an jenem Tag war es besonders spannend. Der Wulfsbauer und die anderen jagten ihre Feinde wie die Hasen.





Kennen Sie das Buch? Nein? Das müssen Sie lesen.







Ja, kommen wir zu dem Sonntag zurück. Ich hatte zu der Zeit Genesungsurlaub, eine Beinverletzung aus Frankreich. Damals …, ich will jetzt nicht zu weit ausholen, aber ich hinke noch heute wegen dieser Granatsplitter. Ich kann froh sein, dass ich so glimpflich davongekommen bin. Viele meiner Kameraden hat es viel schlimmer erwischt. Manche sind gar nicht wieder heimgekommen.







An jenem Sonntag ist meine Frau mit unserer Tochter am späten Vormittag in der Schuhstraße gewesen. Das war eine seltsame Stimmung an jenem Tag. In der Zeitung wurden zwar immer noch Durchhalteparolen verkündet, aber die Front rückte näher, das wusste jeder. Keiner ließ sich durch den Fliegeralarm abschrecken. Meine Frau und unsere Tochter, die Marianne, haben ihre Einkäufe erledigt und sind gegen Mittag zurückgekommen. Meine Frau war müde. Sie hat Herzprobleme, seit unser Sohn an der Ostfront gefallen ist. Da ist sie bis heute nicht drüber weg.







Ich habe nach dem Mittagessen im Garten gearbeitet. Der Frühling lag in der Luft und ich wollte den Boden vorbereiten, um die Einsaat …







Ja, mein Garten liegt direkt gegenüber vom Güterbahnhof.





Ein Zug stand dort. Stimmt. Der war ziemlich lang und hatte offene Metall- und Holzwaggons, in denen Leute saßen. Immer wieder haben sie etwas aus den Waggons getragen. Was die Leute anhatten? So genau konnte ich das auch nicht sehen, ich habe

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mir ja kein Fernglas geholt. Außerdem waren die meistens in Decken gewickelt.





Also gut, der Stoff war gestreift. Die SS-Leute standen direkt neben dem Zug; die hatten Gewehre geschultert, manche sogar im Anschlag. Ich habe mich da nicht weiter drum gekümmert. Ich misch mich nicht in Dinge ein, die mich nichts angehen. Das bringt nichts. Nur Ärger.







Bei der Bombenwarnung ging ich mit der Marianne und meiner Frau sofort in den Keller. Der ganze Wahnsinn dauerte dann eine Stunde. Danach lag die Gegend um den Bahnhof herum in Trümmern. Überall nur Dreck und Qualm. Immerzu hörte man es krachen und ununterbrochen schrie jemand. Es stank fürchterlich nach Verbranntem, und kleine schwarze Papierfetzen schwebten wie Schneeflocken vom Himmel.







Ob uns etwas aufgefallen ist? War das nicht genug?







Was danach war?







Wo Sie so fragen – etwas irritierte mich damals. Als der Fliegeralarm kam, musste ich meine Laube überstürzt verlassen. Nicht einmal abgeschlossen hatte ich. Später am Abend bin ich zurück in den Garten, wollte nach dem Rechten sehen und meine Jacke holen. Die hatte ich am Nachmittag liegengelassen. Aber sie war weg. Meine Arbeitssachen fehlten auch. Sogar die Flasche Korn, die zur Reserve dort stand, falls jemand mal zu Besuch vorbeikäme.







Stattdessen lag ein Haufen schmutziger, graublau gestreifter Kleidungsstücke unter der Sitzbank und ein paar blutige Stofffetzen aus dem gleichen Material.







Nein, ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, sondern bin in die Wohnung gegangen. Und jetzt ist es genug, auf Wiedersehen.







|88|Dora Müller, Jahrgang 1908, 44 Jahre alt, Stenotypistin, wohnhaft Denickestraße





Sie wohnen also bei der Elfriede. Setzen Sie sich, Fräulein Clara. Wollen Sie eine Tasse Kaffee trinken? Und ein Stück Butterkuchen? Wirklich nicht? Aber Sie sehen ganz mitgenommen aus. So schmal. Hier, bitte, seien Sie nicht so schüchtern.







Es ist schön, Besuch zu bekommen. Als Witwe ist man viel allein. Mehr als einem lieb ist. Früher, als mein Mann noch lebte, … Aber lassen wir das. Sie sind so jung, Sie sollten sich mit diesen alten Geschichten nicht plagen. Das ist alles vorbei und vergessen. Das interessiert keinen mehr. Schon gar nicht in Amerika. Genießen Sie lieber das herrliche Wetter. Da hinten im Neustädter Holz kann man wundervolle Spaziergänge machen oder im Wietzenbruch. Da ist es richtig idyllisch, eine wunderbare Heidelandschaft. Gehen Sie dort den Hermann-Löns-Weg entlang.



 





Was, Sie kennen unseren Heimatdichter nicht? Der hat so schöne Gedichte über die Heide geschrieben, auch einiges über Celle. Der hat die Seele der Menschen hier verstanden.







Das Ende des Krieges war eine schlimme Sache. Alle reden ja immer nur davon, was wir Deutschen angeblich gemacht haben. Keiner redet von dem Leid, das wir erlitten haben. Da wurde keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen. Überhaupt nicht. Ganz zum Schluss fielen Bomben auf Celle. Völlig überflüssig, der Engländer stand doch sowieso vor den Toren. Das wussten alle, trotzdem mussten die Amis vorher alles kaputtmachen.





Ja, das war der 8. April, ein Sonntag. Ich kann mich genau erinnern. Meine Mutter war früh in die Stadt gegangen. Es sollte Bohnenkaffee geben. Endlich mal wieder. Kaffee war zu der

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Zeit eine Rarität. Ich blieb zu Hause, weil ich am Nachmittag arbeiten musste.





Erst gab es Voralarm. Dreimal kurz mit der Sirene. Das war am Vormittag. Hat aber keiner drauf reagiert. Meine Freundin kam gegen Mittag vorbei und sagte, dass die Erdölraffinerie in Nienhagen getroffen sei. Alles brannte dort lichterloh und man sah von meinem Küchenfenster aus den schwarzen Rauch am Himmel. Sie wollte mit dem Fahrrad dorthin fahren. Das ist nämlich eine ganz Neugierige, die Babette; aber ich blieb daheim. Schließlich habe ich drei Kinder und mein Mann ist im letzten Kriegswinter gefallen. Da konnte ich mir solche Sperenzien nicht erlauben.







Vorsichtshalber habe ich wegen des Alarms unseren Keller überprüft. Ich hatte so ein komisches Gefühl, aber mein Ältester, der Herbert, hatte alle Fenster vernagelt, sogar die Wände mit Kanthölzern versteift. Der Herbert war mir mit seinen 14 Jahren sowieso eine große Hilfe. Auf den konnte ich mich immer verlassen. Nur in jenen Tagen war er kaum da. In den Osterferien hatten die mit so einem Wehrertüchtigungslager in der Hehlentorschule angefangen und jeden Tag gab es Übungen. An dem Morgen hatte er mir stolz erzählt, dass er vielleicht sogar als Flakhelfer ran dürfte. Da habe ich gelacht. Die Flak war doch bis dahin in Celle noch nie zum Einsatz gekommen.







Meine Mutter kam mit dem Kaffee und dem frischen Brot gegen drei Uhr am Nachmittag zurück, das weiß ich genau. Sie musste auf die kleinen Kinder aufpassen. Ich musste ja zum Schloss, da habe ich nämlich als Stenotypistin gearbeitet. Im Schloss war die Luftschutz-Befehlstelle unter dem Befehl von Oberbürgermeister Meyer untergebracht.





Nein, mit dem hatte ich nicht viel zu tun. Ich saß nicht bei

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ihm im Zimmer, das war die Elvira, aber natürlich hat man das eine oder andere mitbekommen, Elvira redet gerne.





Martha geht zum Wasserhahn und trinkt einen Schluck Leitungswasser. Vom Fenster aus sieht sie Beckmanns Auto auf den Hof fahren. Er scheint neue Prioritäten zu setzen, so sauber hat sie den alten Volvo noch nie gesehen.



Martha stellt das Glas auf der Spüle ab und fährt sich durch die Haare. Soll sie ihm die Tür öffnen?




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Felix rennt, ohne hinzusehen, weiter, stolpert über eine knorrige Baumwurzel und fällt flach hin. Unter den Knien fühlt er spitze Äste, mit der Nase liegt er in einer Heidelbeerpflanze, atmet den fauligen Dunst gegorener Früchte ein.



Wieder peitscht ein Schuss an ihm vorbei, gefolgt von grölendem Gelächter.



»Hast du den gesehen?« Matusch lacht immer lauter. »Der läuft wie ein Hase.«



Felix krabbelt in gebückter Haltung weiter, sucht Schutz hinter einer Reihe dichter Büsche. Erneut ein Schuss, keine zwei Meter entfernt von ihm. Am Ende des Grabens steht eine dickstämmige Birke. Er wartet den nächsten Schuss ab, dann sprintet er los. Nach drei Sätzen hat er den schützenden Stamm erreicht. Plötzlich hört er Motorengeräusche. Der Nissan nähert sich. Und jetzt?



Ohne nachzudenken, rast er los, spürt weder den Schmerz in den Rippen, noch am Kopf, geschweige denn den an Knien |91|und Waden. Die nächste Kugel trifft den Birkenstamm; da ist Felix aber schon über die ausgetrocknete Furche gesprungen, hat die krumme Kiefer hinter sich gelassen und durchquert ein wogendes weißes Meer von Wollgras, um zu dem schützenden Dickicht zu gelangen. Wieder ein Pistolenschuss, doch dieses Mal in erheblicher Entfernung. Felix atmet durch. Hoffentlich schafft es der Kerl mit dem Auto nicht über den Graben.



Felix macht einen Sprung ins Buschwerk, Zweige peitschen in sein Gesicht. Er rennt, ohne zu denken, quetscht sich durch dornige Sträucher und kommt auf einer breiten Ebene mit Glockenheide heraus. Die Kratzer im Gesicht bluten, aber das bemerkt er genauso wenig wie die anderen Schmerzen. Atemlos drückt er sich an einen Birkenstamm und lauscht. Stille. Außer dem Surren der Insekten ist nichts zu hören. Vorsichtig löst er den Knoten des Knebels, wischt sich mit dem Unterarm über die Lippen und spuckt aus.



»Verdammte Schweine!«, flucht er. Sein Selbstmitleid ist in Wut umgeschlagen. Irgendwie muss er hier heil wieder rauskommen – und dann könnten die beiden was erleben.



Felix atmet einmal tief ein, dann läuft er weiter. Er schlägt einen Haken, überspringt eine Furche, quert eine wildwuchernde Fläche mit Heidelbeeren. Seine Füße laufen wie von alleine. Als er einen tiefen Graben vor sich sieht, springt er hinein und presst seinen Bauch fest auf den moorigen Boden. Die Angst lässt sein Herz bis zum Hals schlagen. Ist es klug, hier liegen zu bleiben?




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Auf Beckmanns Klopfen antwortet niemand. Er öffnet nach dem dritten Versuch die Tür und betritt die Wohnküche, die den Mittelpunkt des renovierten Fachwerkhauses bildet. Martha sitzt auf dem Sofa und liest. Mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck hebt sie die Augen und sieht ihn an. Kein Gruß kommt über ihre Lippen.



»Ich dachte schon, du wärst noch mal fortgegangen.«



»Hallo Max.« Sichtlich um einen gelangweilten Ton bemüht, verschränkt Martha die Arme vor ihrer Brust. Sie mustert Beckmann von oben bis unten. Sein Igelschnitt ist verschwunden, die Haare sind länger. Das steht ihm gut. Er ist unrasiert, graue Bartstoppeln sprießen. Das macht ihn älter. Aber vielleicht stehen junge Mädchen auf so etwas. Marthas Blick wandert zu seinem Bauch. Er ist schlanker geworden. Ein guter Hahn wird selten fett. Sie zieht die Arme noch enger an sich.



»Was ist passiert?« Beckmann sucht ihre Augen, doch Martha starrt an ihm vorbei zum Gläserschrank. Blass sieht sie aus, fremd und doch vertraut. Warum lächelt sie ihn nicht wenigstens einmal an? Sie kann sich doch denken, dass es für ihn auch nicht leicht ist, einfach wieder vor ihrer Tür zu stehen, als wäre nichts passiert. Aber was ist eigentlich passiert? Diese eine Nacht, dieser eine Ausrutscher. Beckmann möchte Martha am liebsten an sich drücken, sie trösten, aber er traut sich nicht.



Martha starrt auf den Holzfußboden. Was ist passiert? Was für eine blöde Frage. Vieles ist passiert, seit sie ihn das letzte |93|Mal gesehen hat. Soll sie ihm etwa sagen, dass sie sich elend fühlt, dass sie ihn vermisst hat?



»Nun sag schon!« Beckmann wirft ihr einen aufmunternden Blick zu, obwohl er sich von Sekunde zu Sekunde unwohler in seiner Haut fühlt. Wenn sie ihn doch wenigstens einmal ansehen würde. Er hat schon immer gut in ihren Augen lesen können. Dort und nirgends anders zeigen sich ihre Gefühle.



Endlich lösen sich Marthas Augen vom Fußboden.



»Trixi hat heute Morgen einen Toten im Golfclub entdeckt.«



Immerhin hat sie geredet und immerhin hat sie aufgeschaut. Wenn auch nur Richtung Fenster. Unsicher, was er machen soll, steht Beckmann immer noch vor der Eingangstür.



»Was machst du eigentlich im Golfclub?«



»Ich lerne Golf.«



»Du?«



Täuscht sie sich oder zwinkert er ihr mit dem rechten Auge zu?



»Du hast dich doch früher immer darüber lustig gemacht.«



Wehe, er wiederholt jetzt diesen Witz. Dann fängt sie sofort an zu schreien.



Beckmann macht einen Schritt auf sie zu. Haben Sie noch Sex oder golfen Sie schon? Nein, das lässt er besser. Und jetzt? Beckmann zögert erneut, dann legt er seinen Arm auf ihre Schulter. Martha macht sich bei der Berührung steif. Trotzdem geht es ihr sofort besser.



Ihre zu Fäusten zusammengeballten Finger öffnen sich und sinken langsam auf ihre Oberschenkel. Beckmann tritt noch |94|dichter an sie heran und legt seinen anderen Arm um ihre Taille.



Martha lehnt vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter. Sein vertrauter Geruch tut ihr gut.




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»Wo steckt Felix nur?« Sonja schaut auf ihre Uhr. »Er ist schon mehr als drei Stunden fort.«



Ihr Bruder verzieht den Mund. »Das dauert eben länger. Hier, sieh dir mal die Seite im Internet an.

Wir für Niedersachsen

. Die Autonomen sind die Vermummten, die kaum einen Satz richtig herauskriegen – und die »Aufrechten Deutschen« tragen hübsche ordentliche Pullis, akkurate Haarschnitte und sind die mit den erstrebenswerten Idealen.«



Ali tippt auf die Taste für die Lautstärke. Klar und deutlich sind die Stimmen zu hören: »Wir sind für ein Leben in Gemeinschaft und Verlässlichkeit.« »Nicht der Konsum soll im Mittelpunkt stehen, sondern gemeinsame Erlebnisse, die Kameradschaft.« »Freie Menschen statt freie Märkte.«



Ali dreht den Monitor zu seiner zwei Jahre älteren Schwester herum. »Könnte glatt von dir sein.«



Sonja schaut nicht hin. Ihre Unruhe wächst von Minute zu Minute. Felix wollte nur kurz zu dem Haus. Ein paar Fotos machen, das kann doch nicht so lange dauern. Danach wollte er sich sofort melden. Die Aufnahmen sollten schließlich noch mit ins Netz gestellt werden.



»Ich fahre da jetzt hin. Vielleicht ist etwas passiert.«



»Quatsch, der ruft bestimmt gleich an. Außerdem: Was |95|hast du plötzlich mit diesem Felix? Läuft da was?« Ein breites Grinsen umspielt Alis Mund.



»Quatsch!« Ihre Stimme ist eine Nuance schriller als sonst. »Das nennt man Solidarität. Musst du dir mal merken.«




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Goldmann zeigt auf den flachen Anbau neben dem Geräteschuppen. In den Auslagen sind Golfschläger, Taschen, Hemden und Pullover zu sehen.



»Hier bekommen Sie alles, was sie auf der Runde brauchen. Handschuhe, Tees – und Bälle verschiedenster Fabrikate.«



Borgfeld und Streuwald öffnen die Tür. Eine helle Glocke klingelt. Kaum haben die beiden zusammen mit dem Präsidenten des Golfclubs den Laden betreten, tritt eine gut aussehende Frau um die vierzig hinter einem Regal hervor, grüßt in die Runde und streckt dem Präsidenten ihren Handrücken entgegen.



»Guten Morgen, meine liebe Ina. Ich dachte, Frau Zistrow ist heute da«, begrüßt Goldmann sie und senkt sein Haupt zum angedeuteten Handkuss.



»Die ist krank und hat mich gebeten, sie zu vertreten – dabei hatte ich eigentlich etwas Besseres vor«, seufzt sie und schlägt die Wimpern entnervt hoch. »Und dann das hier. Schrecklich, dieser Tote.«



»Wirklich, kein erfreulicher Tag für unseren Club.« Goldmann zeigt auf die Polizisten. »Die Polizei hat grünes Licht zum Spielen gegeben. Nur der Caddyraum bleibt weiter gesperrt.«



|96|Sie schüttelt ungläubig den Kopf. »Aber die meisten haben doch ihre Sachen dort in den Schränken.«



»Genau, meine Liebe. Das ist es ja. Darf ich dir übrigens vorstellen: Kommissar Streuwald und … wie war doch noch gleich Ihr werter Name?«



»Mein Name ist Borgfeld. Kommissar Dieter Borgfeld. Entschuldigen Sie, dass wir hier bei Ihnen so viel …«, er ringt nach passenden Worten und entscheidet sich schließlich für »Unruhe reinbringen«.



Streuwald mustert Borgfeld verwundert. Borgfeld interessiert sich sonst nie dafür, was andere Leute denken, wenn er im Einsatz ist. Im Gegenteil. Aber das ist nicht das Einzige, was Streuwald wundert.



Normalerweise muffelt Borgfeld um diese Uhrzeit jeden an, der etwas von ihm will, weil es Zeit zum Mittagessen ist. Heute liegt seine letzte Mahlzeit, wenn man die abgezählten Möhrenspalten denn so nennen kann, schon Stunden zurück. Normal wäre es, wenn Borgfeld jetzt eine Attacke schlechter Laune bekäme. Doch heute ist nichts normal. Statt zu nörgeln, zieht Borgfeld den Bauch ein und streckt seine Brust heraus.

 



»Zeigen Sie uns doch bitte die Golfbälle mit dem Aufdruck Ihres Clubs«, säuselt er eine Tonlage höher als sonst. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«



»Die liegen hier vorne«, die mit Ina angesprochene Dame lächelt Borgfeld an. »Sehen Sie? Gleich hinter den Golfschlägern.«



Borgfeld macht einen Schritt auf sie zu und steht jetzt direkt neben ihr an dem Verkaufstisch.



»Wie viele von diesen Bällen haben Sie denn bereits verkauft?« |97|Während er die Frage stellt, starrt er ihr die ganze Zeit auf den knallrot mit Lippenstift nachgezogenen Mund.



»Das kann ich nicht genau sagen, dazu müsste ich in den Unterlagen nachsehen. Aber ein paar Hundert sind es jed

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